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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 853

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 443/20, Beschluss v. 11.05.2021, HRRS 2021 Nr. 853


BGH 2 StR 443/20 - Beschluss vom 11. Mai 2021 (LG Gera)

Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende (Gesamtwürdigung: Darstellungsmangel).

§ 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten N. wird das Urteil des Landgerichts Gera vom 29. Juli 2020

a) im Schuldspruch dahingehend klargestellt, dass der Angeklagte der gefährlichen Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen schuldig ist,

b) im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt und diese Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Seine auf die Rüge der Verletzung formellen und sachlichen Rechts gestützte Revision führt zur Aufhebung im Strafausspruch; im Übrigen ist sie offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Der Verfahrensrüge bleibt aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts der Erfolg versagt.

2. Der Schuldspruch beruht auf einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung, war jedoch den Ausführungen des Generalbundesanwalts entsprechend zu berichtigen.

3. Der Strafausspruch hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Begründung, mit der die Jugendkammer zur Anwendung von Erwachsenenstrafrecht auf den zur Tatzeit 19 Jahre und vier Monate alten Angeklagten gelangt ist, begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

a) Für die Frage, ob ein heranwachsender Täter zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichsteht, kommt es maßgeblich darauf an, ob sich der einzelne Heranwachsende noch in einer für Jugendliche typischen Entwicklungsphase befindet und in ihm noch in größerem Umfang Entwicklungskräfte wirksam sind (st. Rspr.; BGH NStZ 2015, 230, 231; NStZ 2013, 289). Dies ist aufgrund einer Gesamtwürdigung seiner Persönlichkeit unter Berücksichtigung der Umweltbedingungen zu beurteilen (§ 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG). Die Bewertungen des Tatrichters müssen dabei mit Tatsachen belegt und nachvollziehbar sein (vgl. BGH NStZ-RR 2006, 187); sie dürfen keine wesentlichen Gesichtspunkte außer Betracht lassen (BGH StV 2008, 121).

b) Auch unter Berücksichtigung des dem Tatrichter zustehenden Beurteilungsspielraums begegnen die Erwägungen, mit denen die Jugendkammer entgegen den Ausführungen der Jugendgerichtshilfe das Vorliegen von Reifedefiziten verneint hat, durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Das Landgericht hat bei seiner Bewertung der Persönlichkeit und der sozialen Lebensbedingungen des Angeklagten wesentliche Gesichtspunkte nicht in seine Gesamtwürdigung eingestellt.

Der Generalbundesanwalt hat hierzu u.a. ausgeführt:

„So lässt die Jugendkammer den Umstand gänzlich unerörtert, dass der Angeklagte sich nach der Tat nicht mit den Mitangeklagten vom Tatort entfernt hat, sondern bis zum Eintreffen der Polizei dort verblieben ist, auf deren Nachfrage die Tat eingeräumt und sich anschließend auf den Boden gelegt und geweint hat. Ob dieses Verhalten angesichts der sofortigen Übernahme der Verantwortung eher als ein Zeichen von Reife anzusehen ist, oder die anschließende fast schon eher kindlich anmutende Reaktion auf die Folgen der Tat eher einen Hinweis auf die fehlende Kompetenz des Angeklagten gibt, in der konkreten Situation vorher abzuschätzen, zu welchen Weiterungen der von ihm provozierte Angriff führen konnte, hat die Jugendkammer nicht gewürdigt.“

Dem schließt sich der Senat an und weist ergänzend darauf hin, dass das Landgericht bei seiner positiven Würdigung von erfolgreichem Schulbesuch und regelmäßiger Tätigkeit bei einer Leiharbeitsfirma, die es als Beleg für ein Fehlen von Reifedefiziten angeführt hat, nicht erörtert hat, dass der Angeklagte eine zweijährige Ausbildung zum Sozialbetreuer im Sommer 2019 nicht erfolgreich beendet hatte und ihm zudem bei einer weiteren Tätigkeit von seinem Arbeitgeber im Februar 2020 gekündigt wurde. Die Hintergründe für diese Misserfolge, die womöglich Rückschlüsse auf die Reifeentwicklung des Angeklagten zulassen könnten, hat das Landgericht nicht in den Blick genommen. Dies wäre insbesondere auch deshalb geboten gewesen, weil das Scheitern der Ausbildung und die Kündigung im engen zeitlichen Zusammenhang mit der am 8. Februar 2020 begangenen Tat stehen.

Schließlich ist es für den Senat anhand der mitgeteilten Umstände nicht nachvollziehbar, welche Schlüsse aus Sicht des Landgerichts aus dem fehlenden Eingebundensein des Angeklagten in familiäre Strukturen zu ziehen sein sollen. Die Jugendgerichtshilfe hatte in dem deshalb erfolgten Anschluss an Gleichaltrige in ähnlicher Lebenssituation noch ein Indiz für eine noch nicht abgeschlossene Persönlichkeitsentwicklung gesehen, während das Landgericht darin ein nahe liegendes Verhalten gesehen und dem deshalb keine Bedeutung für eine Reifeverzögerung beigemessen hat. Tatsächliche Feststellungen zum Umgang des Angeklagten außerhalb des beruflichen Bereichs lassen sich den Urteilsgründen ebenso wenig entnehmen wie zu der Frage, welche Bedeutung den sozialen Kontakten des Angeklagten im Hinblick auf seine sittliche und geistige Entwicklung zukommt. Entsprechende Feststellungen aber wären erforderlich gewesen, um nachvollziehen zu können, ob sich die landgerichtliche Einschätzung zur Lebenssituation des Angeklagten außerhalb des beruflichen Umfeldes als tragfähig erweist oder nicht.

c) Auf dem dargelegten Darstellungsmangel beruht der Strafausspruch. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht bei einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Angeklagten zur Anwendung von Jugendstrafrecht gelangt wäre. Die Sache bedarf deshalb neuer Verhandlung und Entscheidung. Dabei wird der neue Tatrichter - sollte er erneut nicht von einer Reifeverzögerung beim Angeklagten ausgehen - eingehender als bisher zu prüfen haben, ob in der Tat vom 8. Februar 2020 eine Jugendverfehlung im Sinne von § 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG zu sehen ist. Auf die Zuschrift des Generalbundesanwalts wird insoweit ergänzend hingewiesen.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 853

Externe Fundstellen: NStZ 2022, 558; NStZ-RR 2021, 295; StV 2022, 3

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß