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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 703

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 434/20, Beschluss v. 17.03.2021, HRRS 2021 Nr. 703


BGH 2 StR 434/20 - Beschluss vom 17. März 2021 (LG Kassel)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (allgemeine Anordnungsvoraussetzungen; Tatrelevanz der Störung; Gefährlichkeitsprognose: Anforderungen an die Analyse im Einzelfall); Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen; verminderte Schuldfähigkeit.

§ 20 StGB; § 21 StGB; § 63 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Für die Frage eines Ausschlusses oder einer erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit kommt es maßgeblich darauf an, in welcher Weise sich die festgestellte und unter eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumierende psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation ausgewirkt hat. Die Beurteilung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit kann daher - von offenkundigen Ausnahmefällen abgesehen - nicht abstrakt, sondern nur in Bezug auf eine bestimmte Tat erfolgen. Beurteilungsgrundlage ist dabei das jeweilige konkrete Tatgeschehen, wobei neben der Art und Weise der Tatausführung auch die Vorgeschichte, der Anlass zur Tat, die Motivlage des Angeklagten und sein Verhalten nach der Tat von Bedeutung sein können.

2. Die Tatrelevanz der Störung darf regelmäßig nicht offenbleiben.

3. Die individuelle Gefährlichkeitsprognose bedarf über die Anwendung standardisierter Prognoseinstrumente hinaus einer differenzierten Einzelfallanalyse durch den Sachverständigen.

4. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei Begehung der Anlasstat aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung auf diesem Zustand beruht. Der Defektzustand muss, um die notwendige Gefährlichkeitsprognose tragen zu können, von längerer Dauer sein. Prognostisch muss eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades dafür bestehen, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird. Der Tatrichter hat die der Unterbringungsanordnung zugrundeliegenden Umstände in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 13. August 2020 mit den Feststellungen aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen aufrechterhalten.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung, der vorsätzlichen Körperverletzung in acht Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit versuchtem Diebstahl, der versuchten Körperverletzung, der Beleidigung und der Bedrohung freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Hiergegen richtet sich die mit der nicht ausgeführten Sachrüge begründete Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat überwiegend Erfolg.

1. Nach den Feststellungen schubste und schlug der vielfach - auch einschlägig - vorbestrafte Angeklagte im Zeitraum vom 8. März 2014 bis zum 16. Januar 2016 in neun Fällen jeweils ihm unbekannte Personen, überwiegend Frauen; in einem Fall drückte er seine brennende Zigarette auf den unbekleideten Unterarm einer Geschädigten aus. In einem weiteren Fall blieb es beim Versuch. Zudem beleidigte er eine Frau, indem er ihr gegenüber äußerte, dass er sie gerne mal „knallen“ würde und ihr dabei an den Hintern fasste. In einem weiteren Fall bedrohte er eine Filialleiterin, die ihn zuvor aus den Verkaufsräumen verwiesen hatte.

Der Angeklagte konnte regelmäßig am Tatort bzw. in Tatortnähe festgenommen werden. Die in sieben Fällen tatzeitnah durchgeführten Atemalkoholtests ergaben Werte zwischen 1,58 ‰ bis 4,6 ‰.

Nach Überzeugung des sachverständig beratenen Landgerichts war die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten während aller Taten aufgrund einer bei ihm bestehenden paranoiden Schizophrenie, einer Alkoholabhängigkeit und einer dissozialen Persönlichkeitsstörung mit emotional-instabilen Anteilen aufgehoben.

2. Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus hält in mehrfacher Hinsicht einer rechtlichen Prüfung nicht stand. Die Voraussetzungen des § 63 StGB werden durch die Urteilsfeststellungen nicht belegt.

a) Die Würdigung des Landgerichts, beim Angeklagten sei zu den jeweiligen Tatzeitpunkten aufgrund bestehender Schizophrenie, der „sie begleitenden“ Suchterkrankung und der Persönlichkeitsstörung von einer dadurch aufgehobenen Einsichtsfähigkeit auszugehen, erweist sich als durchgreifend rechtsfehlerhaft. Die Strafkammer nimmt an keiner Stelle die nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erforderliche Gesamtwürdigung aller wesentlichen Umstände vor (vgl. Senat, Beschluss vom 25. August 2020 - 2 StR 263/20, juris Rn. 11) und versäumt es zudem, die Taten des Angeklagten von möglichen Verhaltensweisen abzugrenzen, die noch normalpsychologisch zu erklären sind.

aa) Die in den Urteilsgründen eingehend geschilderten Vorverurteilungen durch die Amtsgerichte Kassel vom 21. April 2015 und Dortmund vom 11. Mai 2016, denen insgesamt 12 Taten zu Grunde lagen, die ebenfalls im Zeitraum zwischen März 2014 und Januar 2016 begangen worden sind und den verfahrensgegenständlichen Taten hinsichtlich Art und Weise ihrer Begehung ähneln, werden bei der erforderlichen Gesamtwürdigung nicht in den Blick genommen.

(1) Das - offensichtlich nicht sachverständig beratene - Amtsgericht Kassel hat im Urteil vom 21. April 2015 hinsichtlich aller dort abgeurteilten fünf Taten angenommen, dass die „Fähigkeit des Angeklagten, nach der Einsicht in das Unrecht der Taten zu handeln, jeweils infolge Alkoholisierung und ggf. einer Psychose erheblich vermindert war“, und ist deswegen - unter ausdrücklichen Ausschluss von § 20 StGB - von erheblich verminderter Schuldfähigkeit gemäß § 21 StGB ausgegangen.

(2) Das Amtsgericht Dortmund ist im Urteil vom 11. Mai 2016 bei fünf der sieben abgeurteilten Taten - dem dortigen Sachverständigen folgend - von nicht ausschließbar verminderter Schuldfähigkeit des Angeklagten ausgegangen, „dies jedoch nur auf Grund der bei dem Angeklagten festgestellten hohen Alkoholintoxikationswerte“. Nach den weiteren Ausführungen des Sachverständigen habe „im Übrigen die bei dem Angeklagten vorhandene Psychose bei den Taten keine Rolle gespielt“.

(3) Schließlich wird in den Urteilsgründen ein weiteres forensisches Gutachten vom 20. Oktober 2016 erwähnt, in dem ebenfalls „die Notwendigkeit einer forensischen Unterbringung nicht festgestellt“ wurde, da „die Grunderkrankung […] keine wesentliche Rolle für die diversen Straftaten“ des Angeklagten gespielt habe.

(4) Eine Auseinandersetzung mit diesen Gutachten, die sich ebenfalls mit der Schuldfähigkeit des Angeklagten bei vergleichbaren Taten im nämlichen Tatzeitraum befasst haben, deren Ergebnisse hingegen nur knapp mitgeteilt werden, findet nicht statt. Eine solche Auseinandersetzung wäre hier jedoch schon wegen der gegenteiligen Bewertungen zur Schuldfähigkeit des Angeklagten erforderlich gewesen.

bb) Die Ausführungen der Sachverständigen zur Art der Maßregel sind überdies aus sich heraus bereits nicht nachvollziehbar. Das Landgericht ist „auch insoweit […] der überzeugenden psychiatrischen Einschätzung der Sachverständigen“ gefolgt, die das Urteil wie folgt wiedergibt:

„Aufgrund der Explorationsgespräche sei sie in ihren schriftlichen Gutachten vom 08.08.2017 und 12.12.2019 aufgrund der zum damaligen Zeitpunkt erfolgten medikamentösen Behandlung des Angeklagten und der damit einhergehenden remittierten Schizophrenie davon ausgegangen, dass die wesentlichen kriminogenen Faktoren auch in der Unterbringung nach § 64 StGB behandelt werden könnten. Vor dem Hintergrund, dass der Angeklagte die medikamentöse Behandlung abgesetzt habe und weder eine Krankheits- noch Behandlungseinsicht zeige, sei dies nun nicht mehr möglich und in erster Linie müsse die paranoide Schizophrenie behandelt werden, mithin die Unterbringung nach § 63 StGB zu erfolgen habe.“ Abgesehen davon, dass die Feststellungen der Strafkammer, wonach der Angeklagte bereits im August 2019 eine weitere medikamentöse Behandlung abgelehnt hatte, in einem nicht auflösbaren Widerspruch zu den Ausführungen der Sachverständigen stehen, nach denen sie in ihrem schriftlichen Gutachten vom 12. Dezember 2019 noch von einer „medikamentösen Behandlung des Angeklagten“ ausgegangen sei, fehlt jede Darlegung, aus welchen objektivierbaren Gründen die Sachverständige in der Hauptverhandlung von ihrem vorbereitenden Gutachten abgewichen ist und ob diese Gründe mit ihr erörtert worden sind (vgl. auch Senat, Beschluss vom 12. November 2004 - 2 StR 367/04, BGHSt 49, 347, 355).

cc) Das Urteil nimmt zudem keinerlei wertende Betrachtung zur Tatrelevanz der Störung vor. Dies darf nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs jedoch regelmäßig nicht offenbleiben (vgl. BGH, Urteil vom 29. September 2015 - 1 StR 287/15, NJW 2016, 341 f.; Beschluss vom 22. April 2008 - 4 StR 136/08, NStZ-RR 2009, 46 f.; Senat, Beschluss vom 12. November 2004 - 2 StR 367/04, BGHSt 49, 347, 351 f.).

Für die Frage eines Ausschlusses oder einer erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit kommt es maßgeblich darauf an, in welcher Weise sich die festgestellte und unter eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumierende psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation ausgewirkt hat. Die Beurteilung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit kann daher - von offenkundigen Ausnahmefällen abgesehen (vgl. BGH, Urteil vom 6. Mai 1997 - 1 StR 17/97, NStZ 1997, 485, 486) - nicht abstrakt, sondern nur in Bezug auf eine bestimmte Tat erfolgen (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Oktober 2015 - 1 StR 56/15, NJW 2016, 728, 729 f.; Urteil vom 21. Januar 2004 - 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45, 54). Beurteilungsgrundlage ist dabei das jeweilige konkrete Tatgeschehen, wobei neben der Art und Weise der Tatausführung auch die Vorgeschichte, der Anlass zur Tat, die Motivlage des Angeklagten und sein Verhalten nach der Tat von Bedeutung sein können (vgl. BGH, Urteile vom 21. Januar 2004 - 1 StR 346/03, aaO, mwN; vom 4. Juni 1991 - 5 StR 122/91, BGHSt 37, 397, 402).

b) Aus denselben Gründen begegnet auch die Gefährlichkeitsprognose des Landgerichts durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

aa) Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei Begehung der Anlasstat aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung auf diesem Zustand beruht. Der Defektzustand muss, um die notwendige Gefährlichkeitsprognose tragen zu können, von längerer Dauer sein. Prognostisch muss eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades dafür bestehen, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird (§ 63 Satz 1 StGB). Der Tatrichter hat die der Unterbringungsanordnung zugrundeliegenden Umstände in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen (st. Rspr.; vgl. etwa Senat, Beschluss vom 23. Januar 2019 - 2 StR 523/18, juris Rn. 12; BGH, Beschlüsse vom 21. Dezember 2016 - 1 StR 594/16, NStZ-RR 2017, 76 und vom 12. Oktober 2016 - 4 StR 78/16, NStZ-RR 2017, 74, 75).

bb) Abgesehen davon, dass das Landgericht seine Prognose im Wesentlichen auf ein von der Sachverständigen verwendetes standardisiertes Prognoseinstrument gestützt hat (vgl. zu den Anforderungen BGH, Beschlüsse vom 22. Juli 2010 - 3 StR 169/10, BGHR StGB § 64 Abs. 1 Gefährlichkeit 8, und vom 23. Oktober 2008 - 3 StR 350/08, StV 2009, 118), bedarf es zur individuellen Prognose über die Anwendung derartiger Instrumente hinaus einer - hier sehr knapp gehaltenen - differenzierten Einzelfallanalyse durch den Sachverständigen (BGH, Beschluss vom 30. März 2010 - 3 StR 69/10, juris Rn. 10 mwN). Unbeschadet dessen versetzen die Erwägungen der Strafkammer den Senat nicht in die Lage, deren Gefährlichkeitsprognose nachzuvollziehen. Dabei besteht die Besonderheit hier darin, dass der Angeklagte sämtliche Anlasstaten bereits zwischen März 2014 und Januar 2016 begangen hat, er aber danach u. a. fünf Monate untergebracht war, Strafhaft bis zum 14. Februar 2020 verbüßt hat und seitdem in dieser Sache einstweilig untergebracht ist. Lediglich der Entlassungsbericht vom 17. Februar 2017 findet inhaltlich in den Urteilsfeststellungen Eingang; im Übrigen teilt das Landgericht weitere Einzelheiten zum Verlauf der Unterbringungen seit Anfang 2017 allenfalls am Rande mit. Die Kenntnis vom Verhalten des Angeklagten in der jeweiligen Unterbringung, von seiner psychiatrischen Behandlung einschließlich der Medikamentierung sowie vom Grund der Beendigung der Maßnahme wäre aber erforderlich gewesen, um beurteilen zu können, ob und in welcher Weise ein Kriminalitätsrisiko nach der Unterbringung noch bestanden hat und zum Urteilszeitpunkt am 13. August 2020 gegebenenfalls (weiter-)besteht.

c) Die aufgezeigten Erörterungsmängel führen zur Aufhebung der Unterbringungsentscheidung. Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Strafkammer bei fehlerfreier Würdigung zu einem für den Angeklagten günstigeren Ergebnis gelangt und eine Unterbringung nach § 63 StGB nicht angeordnet hätte. Die zu den Tatgeschehen in objektiver Hinsicht getroffenen tatsächlichen Feststellungen beruhen auf einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung und können daher bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO).

3. Mit Blick auf die Vorschrift des § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO hebt der Senat auch den Freispruch des Angeklagten auf. Es ist nicht auszuschließen, dass die neue tatgerichtliche Verhandlung und die erneute Begutachtung des Angeklagten eine abweichende Beurteilung seiner Schuldfähigkeit bei Begehung der Anlasstaten sowie der Gefahrenprognose ergeben könnte (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. Mai 2018 ? 2 StR 132/18, juris Rn. 10, und vom 11. April 2018 ? 5 StR 54/18, juris Rn. 7). Das neue Tatgericht bleibt jedoch gehindert, nach Aufhebung der isoliert angeordneten Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus erneut die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus anzuordnen und zugleich erstmals Strafe zu verhängen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 24. Oktober 2013 ? 3 StR 349/13, juris Rn. 8 und vom 14. September 2010 ? 5 StR 229/10, StraFo 2011, 55).

4. Es erscheint naheliegend, zur Frage der Schuldfähigkeit und der Maßregelanordnung (auch) einen anderen Sachverständigen mit der Gutachtenerstattung zu beauftragen.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 703

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner