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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 331

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 140/20, Beschluss v. 15.12.2020, HRRS 2021 Nr. 331


BGH 2 StR 140/20 - Beschluss vom 15. Dezember 2020 (LG Köln)

Totschlag (bedingter Tötungsvorsatz: Feststellung im Einzelfall auch bei gefährlichen Gewalthandlungen); Notwehr (Notwehrprovokation).

§ 212 StGB; § 15 StGB; § 32 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Zwar liegt es bei gefährlichen Gewalthandlungen, wie einem Messerstich gegen den Oberkörper des Tatopfers, regelmäßig nahe, dass der Täter mit der Möglichkeit, das Opfer könne dabei zu Tode kommen, rechnet und einen solchen Erfolg in Kauf nimmt. Auch in einem solchen Fall ist das Tatgericht jedoch nicht von einer umfassenden Prüfung beider Elemente des bedingten Tötungsvorsatzes und ihrer Darlegung entbunden. Insbesondere bei der Würdigung des voluntativen Vorsatzelements ist es regelmäßig erforderlich, dass sich das Tatgericht auch mit der Persönlichkeit des Täters auseinandersetzt und seine psychische Verfassung bei der Tatbegehung sowie seine Motivation in Betracht zieht.

2. Ein Täter, der schuldhaft einen Angriff auf sich oder einen Tatgenossen provoziert hat, darf nicht bedenkenlos von seinem Notwehr- oder Nothilferecht Gebrauch machen und sofort ein lebensgefährliches Mittel einsetzen. Die Notwehreinschränkung hängt gegebenenfalls davon ab, ob dem Angriff ausgewichen werden oder ob der Handelnde zum Einsatz eines weniger gefährlichen Verteidigungsmittels gelangen kann. Ist das nicht möglich, so ist ihm auch bei verschuldeter Angriffsprovokation die Ausübung des Notwehr- oder Nothilferechts in dem sonst zulässigen Rahmen gestattet.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten K. wird das Urteil des Landgerichts Köln vom 5. November 2019, auch soweit es den Angeklagten M. betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten K. wegen Totschlags in Tateinheit mit versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung und in weiterer Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. Den Angeklagten M. hat es wegen versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten bei Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Angeklagten K. mit der Sachrüge. Das Rechtsmittel hat Erfolg und führt zur Urteilsaufhebung auch zugunsten des Angeklagten M., der keine Revision eingelegt hat.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Am 19. März 2019 trafen sich die Angeklagten K. und M. bei dem gesondert verfolgten R. und tranken Alkohol, der Angeklagte K. „jedenfalls nach seinen Angaben“ fünf bis sechs Flaschen Bier zu je 0,5 Litern und zwei Mixgetränke aus Wodka und Cola. Gemeinsam rauchten sie zwei oder drei Joints. Der Angeklagte K. zog dann noch zwei „Lines“ Amphetamin. Gegen 20 Uhr entschlossen sich die drei, in die H. Straße in L. zu fahren, „um dort Unstimmigkeiten in Bezug auf ein Betäubungsmittelgeschäft zu klären“. Einzelheiten dazu konnte die Kammer nicht feststellen. Am Zielort waren in der dortigen „Wohnung“ eines Wohngebäudekomplexes acht polnische Bauarbeiter anwesend, darunter der Geschädigte Ko. Mieter der Wohnung war der Zeuge Ka., der den anderen Arbeitern dort Schlafplätze zur Verfügung stellte. Auf der Fahrt zum Tatort konsumierte der Angeklagte mit seinen Begleitern zwei weitere Flaschen Bier. Vor dem Haus oder im Aufzug verteilte R. an die Angeklagten K. und M. jeweils ein Messer, weil es „gefährlich werden könnte“. R. selbst führte ein „Hackebeil“ und Reizgasspray mit.

Die Täter klingelten an der Wohnungstür, die der Mieter Ka. öffnete. Sie erklärten, dass sie „den Schwarzen“ suchten, womit der Zeuge Kon. - gemeint war. Ka. rief Kon. herbei, worauf K., R. und M. „schnellen Schrittes“ die Wohnung betraten. Kon. kam gerade aus der Küche und kehrte sogleich mit dem ihm entgegenkommenden Angeklagten K. und R. dorthin zurück, während M. den Zeugen Ka. mit dem Messer bedrohte und dazu veranlasste, sich in sein Zimmer zurückzuziehen.

In der Küche hatte K. das Messer drohend in der Hand und verlangte die Herausgabe von Geld oder Drogen, was Kon. ablehnte. K. und R. schubsten ihn darauf hin und her, wobei unter anderem ein Glasbehälter zu Boden fiel. Wegen der Geräusche kam Ka. wieder aus seinem Zimmer, wurde aber von M. im Flur unter Drohung mit dem Messer wieder zurückgeschickt. Dann kam Kon. rückwärts gehend aus der Küche, wobei ihm R. drohend folgte und K. hinterherkam.

Ko. erschien aus einem Zimmer, in dem er sich bis dahin mit zwei weiteren Personen aufgehalten hatte, und rief: „Was ihr habt Messer mitgebracht?“ Dann nahm er seinen Schlagring, der auf dem Schrank in seinem Zimmer lag. Damit versetzte Ko. zuerst R. von hinten einen Schlag auf den Kopf, um Kon. zu helfen. R. ging zu Boden, holte sein Reizgasspray heraus und sprühte mehrfach in die Luft. Dann schlug Ko. dem Angeklagten K. gegen den Kopf, der daraufhin zu Boden ging. K. bemerkte, dass Ko. erneut auf R. einschlagen wollte. Während er selbst im Begriff war aufzustehen, hielt er Ko. das Messer entgegen und stach einmal tief in dessen Oberkörper. Unmittelbar danach zog er das Messer wieder heraus. Der Stich traf Ko. kurz unterhalb des Nabels in der rechten Bauchseite und führte von unten nach oben. Dem Angeklagten K. war bei dem Stich bewusst, dass Ko. dadurch sterben könne, was er billigend in Kauf nahm. Dann suchte er auf Knien nach dem Ausgang. R. verließ mit Unterstützung von M. die Wohnung. Ko. verblutete am Tatort.

Zur Schuldfähigkeit hat das Landgericht ausgeführt: „Der Angeklagte K. wies bei der Tatbegehung eine Blutalkoholkonzentration von minimal 2,33 und maximal 3,34 Promille auf und der Angeklagte M. von minimal 0,7 und maximal 1,29 Promille. Die Schuldfähigkeit der Angeklagten K. und M. war bei der Begehung der Tat weder aufgehoben noch erheblich vermindert. Sie waren jedoch während der Begehung der Tat aufgrund der Alkoholisierung jeweils enthemmt, was bei dem Angeklagten K. noch durch den vorherigen Konsum von Amphetaminen verstärkt wurde“.

2. Das Landgericht hat die Tat der Angeklagten K. zunächst als Totschlag mit bedingtem Tötungsvorsatz bewertet. Der Stich sei nicht gerechtfertigt gewesen. Eine gegebenenfalls bestehende Nothilfelage in Bezug auf den gesondert verfolgten R. habe der Angeklagte K. gemeinsam mit dem Angeklagten M. und R. dadurch selbst vorwerfbar verursacht, dass er unmittelbar vor dem Schlag auf den Kopf von R. - bewaffnet mit einem Messer - Forderungen aus einem Betäubungsmittelgeschäft durchsetzen wollte.

Außerdem habe sich der Angeklagte K. tateinheitlich wegen versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung strafbar gemacht, „indem er durch die Forderung nach `dem Zeug oder dem Geld´ versucht“ habe, „Kon. unter Einsatz des Messers zu nötigen und dadurch dessen Vermögen Nachteil zuzufügen, um sich oder einen Dritten zu bereichern“. Entsprechendes hat das Landgericht für M. angenommen.

Schließlich hat das Landgericht beiden Angeklagten eine gefährliche Körperverletzung wegen des Einsatzes von Reizgas durch den R. zugerechnet.

II.

1. Die Revision des Angeklagten K. ist begründet.

a) Totschlag ist nicht rechtsfehlerfrei festgestellt.

aa) Die Annahme eines bedingten Tötungsvorsatzes begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

Zwar liegt es bei gefährlichen Gewalthandlungen, wie einem Messerstich gegen den Oberkörper des Tatopfers, regelmäßig nahe, dass der Täter mit der Möglichkeit, das Opfer könne dabei zu Tode kommen, rechnet und einen solchen Erfolg in Kauf nimmt. Auch in einem solchen Fall ist das Tatgericht jedoch nicht von einer umfassenden Prüfung beider Elemente des bedingten Tötungsvorsatzes und ihrer Darlegung entbunden. Insbesondere bei der Würdigung des voluntativen Vorsatzelements ist es regelmäßig erforderlich, dass sich das Tatgericht auch mit der Persönlichkeit des Täters auseinandersetzt und seine psychische Verfassung bei der Tatbegehung sowie seine Motivation in Betracht zieht (BGH, Beschluss vom 25. September 2019 - 4 StR 448/19, NStZ 2020, 218, 219 mwN). Hier wären die Lage des Angeklagten, der ebenso wie R. niedergeschlagen worden war und einen weiteren Angriff auf R. gewärtigte, sowie seine affektive Erregung und Alkoholisierung bei der notwendigen Gesamtschau mit zu berücksichtigen gewesen. Die Behauptung des Landgerichts, es hätten sich „keine Anhaltspunkte“ für vorsatzkritische Momente ergeben, geht daran vorbei.

bb) Auch die Feststellungen zum Vorliegen einer rechtswidrigen Handlung sind lückenhaft.

Das Landgericht hat Nothilfe des Geschädigten Ko. für den Zeugen Kon. einerseits und Nothilfe des Angeklagten K. für den gesondert verfolgten R. andererseits für möglich gehalten, aber im Ergebnis offengelassen, weil eine gegebenenfalls vorhandene Nothilfelage des Angeklagten K. nicht zur Rechtfertigung genüge; denn er habe diese Lage selbst vorwerfbar herbeigeführt. Das greift zu kurz.

Zwar trifft es zu, dass ein Täter, der schuldhaft einen Angriff auf sich oder einen Tatgenossen provoziert hat, nicht bedenkenlos von seinem Notwehr- oder Nothilferecht Gebrauch machen und sofort ein lebensgefährliches Mittel einsetzen darf. Die Notwehreinschränkung hängt gegebenenfalls davon ab, ob dem Angriff ausgewichen werden oder ob der Handelnde zum Einsatz eines weniger gefährlichen Verteidigungsmittels gelangen kann (vgl. BGH, Beschluss vom 19. August 2020 - 1 StR 248/20; Senat, Urteil vom 20. November 2019 ? 2 StR 554/18, NStZ 2021, 33, 34 mit Anm. Hauck). Ist das nicht möglich, so ist ihm auch bei verschuldeter Angriffsprovokation die Ausübung des Notwehr- oder Nothilferechts in dem sonst zulässigen Rahmen gestattet.

Mit den dafür maßgeblichen Gesichtspunkten befasst sich das angefochtene Urteil aber nicht. Insbesondere ist ihm nicht zu entnehmen, wie sich die Kampflage im Zeitpunkt des Messerstichs objektiv und aus der Sicht des Angeklagten darstellte. Dazu wären nähere Feststellungen zur Gefährlichkeit des Vorgehens des Ko., zu den Kräfte- oder Bewaffnungsverhältnissen sowie zu den räumlichen Gegebenheiten erforderlich gewesen (vgl. Senat, Beschluss vom 23. August 1995 - 2 StR 394/95, NStZ-RR 1996, 130; Beschluss vom 29. Januar 2003 - 2 StR 529/02, NStZ 2003, 420, 421).

b) Versuchte räuberische Erpressung ist ebenfalls nicht ausreichend belegt.

Das Landgericht teilt einerseits mit, dass es um eine Aktion der Angreifer nach Drogenentwendung gegangen sei, es lässt andererseits Einzelheiten des „Drogengeschäfts“ offen. Danach hat es aber nicht die Möglichkeit erwogen, dass in dem Verhalten der Angeklagten mangels einer Absicht, „sich oder einen Dritten zu Unrecht zu bereichern“ (§ 253 Abs. 1 StGB), keine versuchte (besonders schwere räuberische) Erpressung zu sehen sein könnte.

Zwar stand dem gesondert verfolgten R., wenn es diesem um Kompensation eines Drogenverlusts gegangen sein sollte, wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot (§ 134 BGB) weder ein Anspruch auf den Kaufpreis noch auf die Betäubungsmittel zu. Ob die Täter berechtigt waren, von dem Zeugen Kon. gemäß § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 242 Abs. 1 StGB Schadensersatz zu verlangen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. März 2002 - 3 StR 4/02, NStZ-RR 2002, 214), braucht der Senat hier nicht zu entscheiden. Nach den Urteilsgründen können sie jedenfalls für die von ihnen erstrebte Bereicherung vom Bestehen solcher Ansprüche ausgegangen sein. Dann hätten sie sich zumindest in einem Tatbestandsirrtum befunden (§ 16 Abs. 1 Satz 2 StGB). In diesem Fall hätte ihnen die Absicht einer unrechtmäßigen Bereicherung gefehlt (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Juli 2000 - 4 StR 232/00, juris; Urteil vom 9. Juli 2002 - 1 StR 93/12, NStZ 2002, 597 f.).

c) Die Rechtsfehler zwingen zur Aufhebung des Urteils, ohne dass es noch darauf ankommt, ob tateinheitlich auch eine gefährliche Körperverletzung vorgelegen hat.

2. Der Rechtsfehler bei der Annahme von versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung betrifft den Angeklagten M., der keine Revision eingelegt hat, in gleicher Weise. Daher ist die Urteilsaufhebung auf ihn zu erstrecken (§ 357 StPO).

3. Für die neue Verhandlung und Entscheidung weist der Senat darauf hin, dass die bisherigen Ausführungen zur Schuldfähigkeit des Angeklagten K. rechtlichen Bedenken begegnen.

Die Strafkammer hat dessen Trinkmengenangaben und die sich daraus rechnerisch ergebende Blutalkoholkonzentration den Feststellungen zu Grunde gelegt, ohne dies anhand des Leistungsverhaltens in Frage zu stellen. Es ist kaum miteinander vereinbar, wenn einerseits - neben der Drogenwirkung - bis zu 3,34 Promille vorgelegen haben sollen, andererseits aber die Steuerungsfähigkeit uneingeschränkt erhalten geblieben sein soll. Was die gerichtliche Sachverständige vor diesem Hintergrund zur Plausibilität der Trinkmengenangaben des Angeklagten gesagt hat, wird im Urteil nicht mitgeteilt. Die Übernahme des Gutachtens mit einem auf die Sachkunde der Gutachterin bezogenen Formelsatz reicht zudem nicht aus, um eine eigenverantwortliche Würdigung des Gerichts erkennen zu lassen (vgl. BGH, Urteil vom 22. Oktober 2002 - 5 StR 275/02, NStZ-RR 2003, 39, 40; Senat, Beschluss vom 28. September 2016 - 2 StR 223/16, NStZ-RR 2017, 37, 38).

Dasselbe gilt auch für die Maßregelentscheidung. Die Strafkammer hat sich auch insoweit nur formelhaft dem Sachverständigengutachten angeschlossen.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 331

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2021, 134; StV 2021, 420

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner