hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 527

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 498/19, Beschluss v. 11.12.2019, HRRS 2020 Nr. 527


BGH 2 StR 498/19 - Beschluss vom 11. Dezember 2019 (LG Gera)

Ablehnung von Beweisanträgen (Anforderungen an eine Zurückweisung wegen tatsächlicher Bedeutungslosigkeit; Hinzuziehung eines Sachverständigen bei Verdacht einer Hirnschädigung des Angeklagten).

§ 244 Abs. 3, 4 und 5 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Aus tatsächlichen Gründen bedeutungslos sind Tatsachen, wenn der Nachweis ihres Vorliegens im Ergebnis nichts erbringen kann, weil er die Beweiswürdigung nicht zu beeinflussen vermag. Zur Prüfung der Erheblichkeit ist die unter Beweis gestellte Tatsache wie eine erwiesene Tatsache in das bisherige Beweisergebnis einzufügen; es ist zu fragen, ob hierdurch die Beweislage in einer für den Urteilsspruch relevanten Weise beeinflusst würde. Dabei ist die Beweistatsache als Teil des Gesamtergebnisses in ihrer indiziellen Bedeutung zu würdigen.

2. Steht eine Hirnschädigung im Raum, liegt regelmäßig die Annahme eigener Sachkunde fern. Ob bei dem Angeklagten eine psychische Erkrankung tatsächlich vorliegt, vermag nur ein Sachverständiger mit einem medizinischen Spezialwissen anhand des konkreten Falles zuverlässig zu beurteilen.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Gera vom 5. August 2019 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer als Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in fünf Fällen, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, davon in zwei Fällen jeweils in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, wegen Herstellens von kinderpornographischen Schriften sowie wegen Besitzes kinderpornographischer Schriften in Tateinheit mit Besitz jugendpornographischer Schriften zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge hinsichtlich des Strafausspruchs Erfolg; im Übrigen ist sie offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

I.

Die Revision rügt zu Recht, das Landgericht habe einen Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zu Unrecht abgelehnt. Dem liegt folgendes Prozessgeschehen zugrunde:

1. In der Hauptverhandlung am 15. August 2018 stellte der Verteidiger des Angeklagten einen Beweisantrag zur Einholung eines psychoanalytischen/psychiatrischen Sachverständigengutachtens zum Beweis der Tatsache, dass bei dem Angeklagten eine sog. „FASD“- (= Fetal Alcohol Spectrum Disorder) Behinderung vorliege und infolge dieser Behinderung der Angeklagte bei der Begehung der ihm zur Last gelegten Taten wegen einer krankhaften seelischen Störung unfähig gewesen sei, das Unrecht seiner Taten einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Zur Begründung wurde ausgeführt, laut schriftlicher Mitteilung der Adoptivmutter des Angeklagten vom 27. Juni 2019 solle bei dem Angeklagten eine „FASD“-Behinderung vorliegen, da seine leibliche Mutter während der Schwangerschaft im Übermaß Alkohol getrunken habe. Bei Vorliegen dieser Behinderung könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Angeklagte zu den jeweiligen Zeitpunkten schuldunfähig bzw. zumindest vermindert schuldunfähig gewesen sei. Insbesondere müsse in diesem Zusammenhang auch berücksichtigt werden, dass der Angeklagte aufgrund seiner eigenen Einlassung am heutigen Verhandlungstag täglich eine Flasche Schnaps sowie mehrere Flaschen Bier im Tatzeitraum getrunken habe, also hochgradig alkoholisiert gewesen sei.

Die Bescheinigung der Adoptivmutter, die ausführt, „es gehe um FASD“, „seine leibliche Mutter habe in der Schwangerschaft Alkohol getrunken und nicht zu wenig“, wurde in der Hauptverhandlung verlesen. Das Landgericht lehnte den Beweisantrag in der Hauptverhandlung ab. Zur Begründung führte die Strafkammer aus, es seien auch bei Vorliegen von übermäßigem Alkoholkonsum der Mutter des Angeklagten in der Schwangerschaft keinerlei Hinweise dazu ersichtlich, dass die Einsichts- und/oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei den Taten erheblich eingeschränkt oder gar aufgehoben gewesen seien.

2. Die Zurückweisung des Beweisantrags hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Bei dem Antrag des Angeklagten handelte es sich um einen Beweisantrag. Er bezeichnet nicht lediglich das Beweisziel, das Vorliegen eines Schuldausschlusses nach § 20 StGB bzw. einer verminderten Schuldfähigkeit im Sinne von § 21 StGB, sondern behauptet mit dem Hinweis auf das Vorliegen einer „FASD“-Behinderung und einer sich daraus ergebenden Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit des Angeklagten eine bestimmte Tatsache, die auch dem Sachverständigenbeweis zugänglich ist. Mit der Nennung einer Diagnose, die der Sachverständige stellen soll, bezeichnet der Beweisantrag eine Tatsachenbehauptung, die über die bloße Schlussfolgerung der Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit hinausgeht (vgl. BGH, Beschluss vom 30. September 2014 - 3 StR 351/14, StV 2015, 206; LR-StPO/Becker, 27. Aufl., § 244 Rn. 98).

Die unter Beweis gestellte Behauptung einer solchen Erkrankung ist auch nicht ins Blaue aufgestellt worden. Die Erklärung der Adoptivmutter des Angeklagten, die in dem Beweisantrag in Bezug genommen worden ist, bietet eine noch hinreichende Grundlage für die unter Beweis gestellte Tatsache. Weiteren Vorbringens zu den möglichen Auswirkungen einer solchen Erkrankung auf die Schuldfähigkeit des Angeklagten bedurfte es nicht. An einen Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens dürfen mit Blick auf die Prüfung, ob eine hinreichend konkretisierte Beweisbehauptung aufgestellt ist, keine überspannten Anforderungen gestellt werden; denn insoweit ist der Antragsteller vielfach nicht in der Lage, die der Beweisbehauptung zugrunde liegenden Vorgänge oder Zustände exakt zu bezeichnen (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 10. April 2019 - 4 StR 25/19, NStZ 2019, 628). So liegt es auch hier. Ob beim Angeklagten eine „FASD“-Erkrankung vorliegt und ob und gegebenenfalls in welcher Weise eine solche Erkrankung Einfluss auf die Schuldfähigkeit des Angeklagten genommen hat, ist gerade die vom Sachverständigen zu beantwortende und beim Angeklagten nicht vorhandenes Spezialwissen erfordernde Frage.

b) Die Ablehnung des Beweisantrags begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Das Landgericht hat sich weder ausdrücklich auf einen der in § 244 Abs. 3 bis 5 StPO abschließend genannten Ablehnungsgründe gestützt, noch lässt sich, wie der Generalbundesanwalt meint, der Ablehnungsbegründung entnehmen, dass einer dieser Ablehnungsgründe die Zurückweisung rechtfertigt. Insbesondere rechtfertigt der Ablehnungsbeschluss keine Zurückweisung wegen tatsächlicher Bedeutungslosigkeit der unter Beweis gestellten Tatsache. Aus tatsächlichen Gründen bedeutungslos sind Tatsachen, wenn der Nachweis ihres Vorliegens im Ergebnis nichts erbringen kann, weil er die Beweiswürdigung nicht zu beeinflussen vermag. Zur Prüfung der Erheblichkeit ist die unter Beweis gestellte Tatsache wie eine erwiesene Tatsache in das bisherige Beweisergebnis einzufügen; es ist zu fragen, ob hierdurch die Beweislage in einer für den Urteilsspruch relevanten Weise beeinflusst würde. Dabei ist die Beweistatsache als Teil des Gesamtergebnisses in ihrer indiziellen Bedeutung zu würdigen (st. Rspr.; vgl. zuletzt Senat, Beschluss vom 3. Dezember 2015 - 2 StR 177/15, NStZ 2016, 365). Diesen Anforderungen wird die landgerichtliche Ablehnungsbegründung nicht gerecht. Die Strafkammer hat schon nicht - wie es notwendig gewesen wäre - die unter Beweis gestellte Tatsache einer „FASD“-Erkrankung beim Angeklagten als erwiesenen Teil des Gesamtergebnisses gewürdigt. Sie hat sich im Ergebnis vielmehr darauf beschränkt, als erwiesen anzusehen, dass die Mutter des Angeklagten übermäßig Alkohol in der Schwangerschaft zu sich genommen habe, hat damit aber lediglich die Grundlagen der aufgestellten Beweisbehauptung in den Blick genommen, ohne den Beweisantrag mit seiner Tatsachenbehauptung einer vorgeburtlichen Schädigung durch Alkoholkonsum der Mutter vollständig zu erfassen. Im Übrigen begegnet die Würdigung der Strafkammer auch insoweit erheblichen Bedenken, als sie einen maßgeblichen Einfluss des Alkoholkonsums der Mutter auf die Steuerungsfähigkeit - aus eigener Sachkunde - verneint. Steht - wie hier - letztlich eine Hirnschädigung im Raum, liegt regelmäßig die Annahme eigener Sachkunde fern. Ob bei dem Angeklagten eine psychische Erkrankung tatsächlich vorliegt, vermag nur ein Sachverständiger mit einem medizinischen Spezialwissen anhand des konkreten Falles zuverlässig zu beurteilen (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Februar 2000 - 3 StR 15/00; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 244 Rn. 74b mwN).

c) Auf der fehlerhaften Ablehnung des Beweisantrags beruht jedenfalls der Strafausspruch. Der Senat kann zwar ausschließen, dass ein eingeholtes Sachverständigengutachten zur Annahme der Voraussetzungen des § 20 StGB gekommen wäre, nicht aber, dass sich daraus das Vorliegen einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit ergeben hätte.

II.

Die Sache bedarf damit - da die Überprüfung des Schuldspruchs aufgrund der allgemeinen Sachrüge keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO) - lediglich hinsichtlich des Strafausspruchs neuer Verhandlung und Entscheidung.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 527

Externe Fundstellen: NStZ 2020, 368; StV 2020, 439

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner