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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 318

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 477/19, Beschluss v. 13.10.2021, HRRS 2022 Nr. 318


BGH 2 StR 477/19 - Beschluss vom 13. Oktober 2021 (LG Köln)

Urteilsfeststellungen (Widersprüche zu einem Ablehnungsbeschluss: durch Beschluss als erwiesen erachtete unter Beweis gestellte Tatsache, Bindungskraft); historisches Stadtarchiv Köln.

§ 244 Abs. 3 Satz 3 StPO; § 222 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Erachtet das Gericht durch Beschluss eine unter Beweis gestellte Tatsache als erwiesen, so ist diese damit auch für das Urteil bindend. Das Gericht darf sich im Urteil zu ihr nicht in Widerspruch setzen. Dazu gehört auch, dass diese Tatsache in ihrer vollen, aus Sinn und Zweck sich ergebenden Bedeutung unverändert als erwiesen behandelt und nicht in unzulässiger Weise eingeengt wird. Maßgebend ist dabei nicht der Wortlaut des Antrages, sondern dessen Sinn und Zweck, wie er sich aus dem gesamten Vorbringen des Angeklagten sowie aus dem Gang der Hauptverhandlung ergibt.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Köln vom 7. Februar 2019 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die den Nebenklägern insoweit entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen tateinheitlich begangener zweifacher fahrlässiger Tötung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Die hiergegen gerichtete, auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg; auf die Sachrüge kommt es damit nicht an.

I.

1. Das Verfahren betrifft den Einsturz des historischen Archivs der Stadt Köln sowie zweier Wohngebäude am 3. März 2009, bei dem zwei Menschen zu Tode kamen (vgl. hierzu auch Senatsurteil vom 13. Oktober 2021 - 2 StR 418/20). Der Angeklagte hat in dem Zeitraum, in dem die unmittelbar handelnde Baumannschaft die schadhafte Schlitzwand errichtete, die dreieinhalb Jahre später zum Einsturz des Stadtarchivs und der umliegenden Bebauung führte, für zwei Tage den zuständigen gesondert verfolgten Bauleiter L. urlaubsbedingt vertreten.

2. Der Rüge der Verletzung des formellen Rechts, wonach das Urteil dem Beschluss widerspreche, mit dem das Landgericht einen Beweisantrag wegen Erwiesenheit der Beweistatsache abgelehnt hat, liegt folgendes Verfahrensgeschehen zu Grunde:

a) In der Hauptverhandlung am 10. Januar 2019 beantragte der Verteidiger die Vernehmung von drei sachverständigen Zeugen aus der Baupraxis u.a. zum Beweis dafür, „dass das Betonierprotokoll der Lamelle 11 und der dort dokumentierte Betonverbrauch unter der Zugrundelegung der seitens des gesondert Verfolgten Herrn L. gegenüber Herrn H. mitgeteilten Verjüngung des Schlitzes im Rahmen der erlaubten Maßabweichung sowie der üblichen Messtoleranz der Lotung insgesamt plausibel ist“.

Die Strafkammer hat diesen Beweisantrag - unter Rückgriff auf die bisherigen Beweisergebnisse aus Vernehmungen der technischen Sachverständigen - abgelehnt, weil die behauptete Beweistatsache bereits erwiesen sei.

b) In den Urteilsgründen stellt die Strafkammer fest, dass es nach Fertigstellung der Lamelle 11 dem Angeklagten als Bauleiter in Urlaubsvertretung oblag, „die ordnungsgemäße und planmäßige Herstellung der Lamelle 11 nach den allgemeinen Regeln der Technik anhand der ihm vorgelegten Dokumente zu prüfen. Bei Prüfung der Dokumentenlage mit der ihm obliegenden Sorgfaltspflicht hätte er festgestellt, dass keine objektiven Anhaltspunkte für die ihm mitgeteilte Verjüngung der Lamelle 11 vorlagen“ (UA S. 81). Dem Angeklagten habe es - unabhängig von den Auffälligkeiten des Schlitzwandprotokolls der Lamelle 11 - oblegen, „das Betonierprotokoll der Lamelle 11 kritisch zu prüfen. (…) Bei sorgfältiger Prüfung des Betonierprotokolls der Lamelle 11 hätte der Angeklagte eindeutige Warnsignale aus dem Protokoll entnehmen müssen, die darauf hindeuten, dass etwas in der Lamelle 11 verblieben war und keine Verjüngung der Lamelle vorliegt“ (UA S. 138 f.).

c) Aus den „eindeutigen Warnsignalen“ des Betonierprotokolls hat die Strafkammer weitere (sorgfaltswidrig nicht wahrgenommene) Prüfpflichten des Angeklagten abgeleitet, die seine Strafbarkeit nach § 222 StGB begründen.

II.

1. Die Verfahrensrüge ist zulässig erhoben. Der Revisionsführer hat alle Verfahrenstatsachen mitgeteilt, die zur Prüfung der Verfahrensrüge erforderlich sind (zum notwendigen Vortrag vgl. BGH, Beschluss vom 22. Februar 2012 - 1 StR 647/11, NStZ-RR 2012, 178). Zwar teilt die Revision die mündliche Stellungnahme des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft zum Beweisantrag nicht mit; angesichts der Zielrichtung der Rüge ist indes die mündliche Stellungnahme der Staatsanwaltschaft zum Beweisantrag für die Beurteilung der Verfahrensbeanstandung nicht bedeutsam (vgl. auch KK-StPO/Krehl, 8. Aufl., § 244 Rn. 232).

2. Die Verfahrensrüge hat Erfolg. Die widersprüchliche Behandlung der Plausibilität und Nachvollziehbarkeit des Betonierprotokolls der Lamelle 11 im Ablehnungsbeschluss einerseits und in den Urteilsfeststellungen andererseits führt zur Aufhebung der Verurteilung.

a) Erachtet das Gericht durch Beschluss eine unter Beweis gestellte Tatsache als erwiesen, so ist diese damit auch für das Urteil bindend. Das Gericht darf sich im Urteil zu ihr nicht in Widerspruch setzen. Dazu gehört auch, dass diese Tatsache in ihrer vollen, aus Sinn und Zweck sich ergebenden Bedeutung unverändert als erwiesen behandelt und nicht in unzulässiger Weise eingeengt wird. Maßgebend ist dabei nicht der Wortlaut des Antrages, sondern dessen Sinn und Zweck, wie er sich aus dem gesamten Vorbringen des Angeklagten sowie aus dem Gang der Hauptverhandlung ergibt (BGH, Urteil vom 18. Oktober 1988 - 1 StR 410/88, NJW 1989, 845; Löwe/Rosenberg/Becker, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn. 229).

b) Der Beweisantrag zielte auf die Behauptung, für den Angeklagten hätten sich aus dem Betonierprotokoll der Lamelle 11 keine baulichen Mängel oder Warnhinweise ergeben. Unter Beweis wurde gestellt, dass der Angeklagte aufgrund des ihm vorgelegten Protokolls - unter Berücksichtigung der Mitteilung L. zum Vorliegen einer „Verjüngung“ - keine Veranlassung hatte, den ausgewiesenen Betonverbrauch mit einem unvollständigen Aushub der Lamelle 11 in Verbindung zu bringen. Das Protokoll enthielt danach keinerlei Auffälligkeiten, die den Angeklagten zu weiteren Prüfungen hätten drängen müssen.

Dass es dem Angeklagten mit diesem Beweisantrag gerade auf die Plausibilität des Betonierprotokolls ankam, zeigt auch der Gang der Hauptverhandlung. Die Einlassung und die übrigen Beweisbemühungen des Angeklagten (UA S. 86 ff.) zielten darauf ab, dass er - aufgrund der zu prüfenden Aufzeichnungen und der Mitteilungen L. und des unmittelbar an der schadhaften Herstellung der Schlitzwand beteiligten Baggerführers K. - die fehlerhafte Herstellung der Lamelle 11 nicht habe erkennen können. Mit seinem Antrag wollte der Angeklagte damit ersichtlich unter Beweis stellen, dass er auf die ordnungsgemäße Ausführung der Bauarbeiten durch die übrigen Beteiligten habe vertrauen dürfen.

c) Der Strafkammer war diese Zielrichtung bekannt, wie sich dem Ablehnungsbeschluss entnehmen lässt. Die Ausführung des Landgerichts, wonach es erwiesen sei, dass der „im Betonierprotokoll der Lamelle 11 dokumentierte Betonverbrauch (…) auch mit der von dem Angeklagten angenommenen Verjüngung des Schlitzes in Einklang zu bringen sein“ könnte, beinhaltet damit, dass sich aus diesem Betonierprotokoll für den Angeklagten keine baulichen Mängel oder sonstigen Warnhinweise ergeben haben.

Da die Entscheidung im Verlauf der Verhandlung nicht geändert wurde, konnte sich der Angeklagte darauf verlassen, das Gericht werde diese Tatsache als erwiesen behandeln.

Die Urteilsgründe, die dem Betonierprotokoll „eindeutige Warnsignale“ zusprechen (UA S. 139) und an die die Strafkammer anschließend weitere Prüfpflichten des Angeklagten knüpft, stehen mit der für erwiesen erachteten Tatsache in nicht auflösbarem Widerspruch.

d) Auf dem aufgezeigten Verfahrensfehler beruht das Urteil, § 337 Abs. 1 StPO. Ein Ausnahmefall, in dem ein Beruhen des Urteils im Zusammenhang mit einer fehlerhaften Behandlung eines Beweisantrags ausgeschlossen werden kann, liegt nicht vor (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 12. Januar 2010 - 3 StR 519/09, NStZ-RR 2010, 211, 212). Von dem Verfahrensfehler sind nicht nur die subjektiven, sondern - untrennbar - auch alle objektiven Tatsachenfeststellungen betroffen (vgl. auch Löwe/Rosenberg/Franke, StPO, 26. Aufl., § 353 Rn. 21), was sich bereits aufgrund des Protokollinhalts als Dokumentationsgrundlage der Bauarbeiten und der darauf bezogenen Mitteilungen weiterer Beteiligter gegenüber dem Angeklagten erhellt.

3. Die Sache bedarf deshalb insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung (§ 349 Abs. 4 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 318

Externe Fundstellen: NStZ 2022, 501; StV 2022, 350

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß