hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 288

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 419/19, Beschluss v. 17.12.2019, HRRS 2020 Nr. 288


BGH 2 StR 419/19 - Beschluss vom 17. Dezember 2019 (LG Marburg)

Verbot der Protokollverlesung nach Zeugnisverweigerung (Zulässigkeit der Revisionsrüge); Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen und verminderte Schuldfähigkeit (tatrichterliche Beurteilung).

§ 252 StPO; § 20 StGB; § 21 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Weder ein Widerspruch gegen die Beweisverwertung in der Tatsacheninstanz noch eine Anrufung des Gerichts gemäß § 238 Abs. 2 StPO ist Voraussetzung für die Zulässigkeit der Revisionsrüge einer Verletzung von § 252 StPO.

2. Ob die Steuerungsfähigkeit wegen einer schweren anderen seelischen Abartigkeit bei Begehung der Tat erhalten geblieben, erheblich vermindert (§ 21 StGB) oder sogar aufgehoben war (§ 20 StGB), ist eine Rechtsfrage, die der Tatrichter ohne Bindung an Äußerungen von Sachverständigen in eigener Verantwortung zu beantworten hat. Hierbei fließen auch normative Gesichtspunkte ein. Der Tatrichter hat das Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen eigenverantwortlich zu bewerten und weiterzuverarbeiten; er muss sich mit Hilfe des Sachverständigengutachtens selbst sachkundig machen. Vom Tatgericht zu beurteilen ist danach, ob der Täter bei der Begehung der jeweiligen Tat defektbedingt motivatorischen und situativen Tatanreizen wesentlich weniger Widerstand entgegensetzen konnte als ein Durchschnittsbürger oder ob ihm das sogar unmöglich war. Wegen der Schwierigkeit einer genauen Grenzziehung bedarf es einer konkretisierenden Darlegung, aus der sich ergibt, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung jeweils bei Begehung der konkret abzuurteilenden Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten ausgewirkt hat.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Marburg vom 29. Mai 2019 mit den zugehörigen Feststellungen, mit Ausnahme der Feststellungen zu den rechtswidrigen Taten, aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen, Beleidigung in Tateinheit mit Bedrohung, Brandstiftung und Nötigung unter Einbeziehung der Einzelstrafe aus einem Strafbefehl des Amtsgerichts Gießen vom 14. November 2018 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten verurteilt, seine Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus angeordnet und ihn im Übrigen freigesprochen. Gegen dieses Urteil richtet sich die auf Verfahrensrügen und die Sachbeschwerde gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Der Angeklagte wies schon als Kind und Jugendlicher eine Störung des Sozialverhaltens auf. Er hatte sehr wenige Verhaltensmuster für Konfliktsituationen. Er erreichte weder einen Schulabschluss noch absolvierte er eine Berufsausbildung. Gegenüber der Mutter stellte er kaum erfüllbare Forderungen und wurde ihr gegenüber gewalttätig. Im Februar und März 2015 befand er sich in anderer Sache in Untersuchungshaft und fiel dort durch Wahnvorstellungen auf, die Wände hätten Ohren, er sei an Hepatitis erkrankt, er sei früher ein Freund der Hell´s Angels gewesen und werde nun von diesen als Verräter verfolgt. Aggressionsdelikte führten zu einer Reihe von Vorstrafen. Danach kam es zu den verfahrensgegenständlichen Taten:

a) Am 3. Juli 2018 stritt der Angeklagte mit seiner Mutter um Geld, das sie ihm geben sollte, damit er nach B. reisen, dort eine Arbeitsstelle suchen und ein neues Leben beginnen könne. Im Lauf des Streits würgte der Angeklagte seine Mutter (Fall II.1. der Urteilsgründe).

b) Am Folgetag setzte sich der Streit fort. Nach einem Telefonanruf eskalierte die Situation. Der Angeklagte würgte seine Mutter wiederholt. Die Zeugin R. nahm dies wahr und verständigte die Polizei. Der Angeklagte ließ sich von dieser widerstandslos festnehmen. Er hatte einen Teleskopschlagstock und drei Messer in seinem Zimmer (Fall II.2. der Urteilsgründe).

c) Der Angeklagte wurde anschließend zur Polizeistation verbracht. Dort änderte sich seine Stimmung plötzlich, er schrie herum und drohte, allen eine Kugel in den Kopf zu schießen. Zu dem vorangegangenen Übergriff auf die Mutter erklärte er: „Die hat´s verdient!“ und „Die knall ich ab!“. Der Angeklagte tobte eine Stunde lang und wurde dann in die psychiatrische Klinik gebracht. Auf dem Weg dorthin äußerte er, er werde dem Beamten D. „von den Intensivtätern in M.“ „eine Kugel in den Kopf schießen“ und dessen Kinder umbringen. Polizeikommissar K. wurde vom Angeklagten beleidigt und damit bedroht, dass er dessen Mutter töten werde (Fall II.3. der Urteilsgründe).

d) Am 15. September 2017 konsumierte der Angeklagte Whiskey, Kokain und Cannabis. Dann rief er seinen Großvater an, verlangte von diesem mehrere tausend Euro und drohte dem Großvater an, ihn umzubringen, wenn er nicht zahle. Der Angeklagte nannte aber weder seinen Aufenthaltsort noch einen Ort für die Übergabe des geforderten Geldes (Fall II.4. der Urteilsgründe).

e) Der Angeklagte trank am 7. Mai 2018 Whiskey. Danach trainierte er in der Obdachlosenunterkunft mit Stöcken den Kampfsport Muay Thai. Dabei durchlöcherte er die Wand. Dann schrieb er auf die Tapete: „Es müssen Justizbeamte sterben. Ich will auf die Beine kommen und die ficken mich. Ich bin und werde nie ein Verräter!!! Aber ich bin ein 22jähriger, der Hilfe bräuchte um legal in seiner Heimat zu leben. Das ist alles!!! R.I.P. Brothers and sisters“ (Fall II.5. der Urteilsgründe).

f) Dem Angeklagten wurde am 24. September 2018 die Unterkunft gekündigt. Er wurde von den städtischen Bediensteten A. und Ki. zur Räumung aufgefordert, hörte sich deren Kritik an und erklärte daraufhin: „Besorgen Sie sich schon einmal eine Security“. Die Zeugin A. organisierte eine Notunterkunft für den Angeklagten, die dieser jedoch ablehnte. Der Angeklagte hatte beim Landratsamt Hausverbot vorbehaltlich der Ankündigung des Erscheinens. Er teilte telefonisch mit, dass er sich seinen Barscheck abholen komme. Der Sachbearbeiter Ar. war vom Angeklagten beleidigt und bedroht worden und bat daher seine Kollegin A. darum, dem Angeklagten den Scheck auszuhändigen. Die Zeugin A. tat dies, ließ sich aber auf kein Gespräch mit dem Angeklagten ein. Dieser hatte das Gefühl, dass niemand ihm helfen wolle und beschloss, Autos in Brand zu setzen, damit er in Haft komme. Dort wollte er eine Ausbildung absolvieren. Er erwarb ein Küchenmesser und Brandbeschleuniger. Danach setzte er fünf Fahrzeuge in Brand, indem er Benzin in Lüftungsschlitze schüttete und anzündete. Es entstand Sachschaden in Höhe von 54.000 Euro (Fall II.6. der Urteilsgründe).

g) Der Zeuge F. beobachtete die Brandstiftung, nahm die Verfolgung des Angeklagten auf und rief seinem Kollegen I. zu, dieser solle den Angeklagten festhalten. Der Angeklagte drehte sich auf dem Parkplatz zu dem Zeugen I. um, schüttete im Halbkreis um sich herum Brandbeschleuniger aus, riss die Arme empor und freute sich euphorisch. Dann entfernte er sich. Der Zeuge F. folgte ihm und fragte ihn, was das solle. Der Angeklagte nannte seinen Namen und erklärte, dass man das alles der Zeugin A. verdanke. Schließlich hielt er dem Zeugen F. das Küchenmesser in Bauchhöhe vor und sagte: „Komm doch!“ Der Zeuge F. brach darauf die Verfolgung ab. Der Angeklagte wurde von der Polizei festgenommen und äußerte sich gegenüber den Polizeibeamten wirr (Fall II.7. der Urteilsgründe).

2. Der Angeklagte leidet unter paranoider Schizophrenie. In den Fällen II.1. bis II.3. und II.6. sowie II.7. der Urteilsgründe war die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit nach Ansicht des Landgerichts erheblich eingeschränkt, in den Fällen II.4. und II.5. der Urteilsgründe möglicherweise sogar aufgehoben. Das Landgericht hat die Taten in den Fällen II.1. und II.2. der Urteilsgründe als gefährliche Körperverletzung, im Fall II.3. als Beleidigung in Tateinheit mit Bedrohung, im Fall II.6. als Brandstiftung und im Fall II.7. als versuchte Nötigung bewertet. Es hat den Angeklagten im Fall II.4. wegen nicht auszuschließender Schuldunfähigkeit freigesprochen und das Verfahren im Fall II.5. nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt.

II.

Die Revision ist im Wesentlichen begründet.

1. Die zum Teil über den Aufhebungsumfang aufgrund der Sachrüge hinausgehenden Verfahrensrügen des Angeklagten haben keinen Erfolg.

a) Der Angeklagte rügt einen Verstoß gegen § 252 StPO, weil die Mutter des Angeklagten in der Hauptverhandlung die Aussage verweigert hat, aber ihre polizeiliche Vernehmung in die Hauptverhandlung eingeführt worden ist.

aa) Die Rüge ist zulässig, da weder ein Widerspruch gegen die Beweisverwertung in der Tatsacheninstanz noch eine Anrufung des Gerichts gemäß § 238 Abs. 2 StPO Voraussetzung für die Zulässigkeit der Revisionsrüge einer Verletzung von § 252 StPO ist (vgl. BGH, Urteil vom 23. September 1999 - 4 StR 189/99, BGHSt 45, 203, 205). Die Zulässigkeit der Verfahrensrüge eines Verstoßes gegen § 252 StPO setzt auch im Hinblick auf § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO keinen Vortrag des Beschwerdeführers voraus, der zeugnisverweigerungsberechtigte Zeuge habe nicht nach qualifizierter Belehrung auf das Verwertungsverbot verzichtet (vgl. Senat, Beschluss vom 13. Juni 2012 - 2 StR 112/12, BGHSt 57, 254, 265).

bb) Die Rüge ist jedoch unbegründet.

Ein zur Zeugnisverweigerung berechtigter Zeuge kann die Verwertung seiner in einer polizeilichen Vernehmung getätigten Angaben wirksam gestatten. In der Hauptverhandlung muss er nur darauf hingewiesen werden, welche Konsequenzen die Gestattung der Verwertung hat (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Februar 2015 - 1 StR 20/15, NStZ 2015, 232). Die Geltendmachung des Zeugnisverweigerungsrechts hindert ihn dann nicht, der Verwertung der bei einer nichtrichterlichen Vernehmung gemachten Aussage wirksam zuzustimmen (vgl. BGH, Urteil vom 23. September 1999 - 4 StR 189/99, BGHSt 45, 203, 206).

Die Revision trägt zum Verfahren bei der Zeugnisverweigerung der Mutter des Angeklagten vor: „Nach Belehrung hat sie sich in der Hauptverhandlung damit einverstanden erklärt, dass ihre polizeilichen Aussagen verwertet werden dürfen“. Auch das Urteil verweist darauf, dass die Zeugin sich nach „ausdrücklicher Belehrung“ mit der Verwertung ihrer Angaben bei der polizeilichen Vernehmung einverstanden erklärt habe. Daraus und aus der Reaktion der Zeugin auf die Belehrung entnimmt der Senat, dass ein Hinweis des Gerichts auf die Folgen der Einverständniserklärung erfolgt ist.

Die nicht näher erläuterte Behauptung der Revision, die Zeugin sei sich der Tragweite ihres Verzichtes nicht bewusst gewesen, ist mit dem Protokollvermerk über deren Äußerung unvereinbar: „Ich möchte zur Sache nichts aussagen. Ich bin damit einverstanden, dass meine polizeiliche Aussage verwertet wird. Insbesondere darf der Polizeibeamte, der mich vernommen hat, vor Gericht gehört werden.“ Nach alledem besteht kein Grund zur Annahme eines Beweisverwertungsverbots gemäß § 252 StPO.

b) Der Beschwerdeführer macht ferner einen Verstoß gegen § 244 Abs. 4 StPO geltend. Das Landgericht hat seinen Beweisantrag auf Einholung eines „psychoanalytischen Obergutachtens“ zu der Behauptung zurückgewiesen, er leide nicht unter Schizophrenie, sondern unter einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung. Die ausführlich erläuterte Begründung der Zurückweisung des Beweisantrags damit, das Gegenteil der Beweisbehauptung sei durch den gerichtlichen Sachverständigen bereits erwiesen, es bestünden keine Zweifel an dessen Sachkunde, sein Gutachten entspreche den Methodenanforderungen und gehe von zutreffenden Anknüpfungstatsachen aus, weist keinen Rechtsfehler auf.

2. Die Revision hat jedoch mit der Sachrüge in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg. Die Ausführungen des Landgerichts zur Frage einer teils erheblich verminderten, teils nicht ausschließbar aufgehobenen Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit weisen durchgreifende Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf.

a) Ob die Steuerungsfähigkeit wegen einer schweren anderen seelischen Abartigkeit bei Begehung der Tat erhalten geblieben, erheblich vermindert (§ 21 StGB) oder sogar aufgehoben war (§ 20 StGB), ist eine Rechtsfrage, die der Tatrichter ohne Bindung an Äußerungen von Sachverständigen in eigener Verantwortung zu beantworten hat (vgl. Senat, Urteil vom 19. Oktober 2011 - 2 StR 172/11, BeckRS 2012, 1000; Beschluss vom 28. September 2016 - 2 StR 223/16, NStZ-RR 2017, 37, 38; BGH, Beschluss vom 6. Februar 2019 - 3 StR 479/18). Hierbei fließen auch normative Gesichtspunkte ein. Der Tatrichter hat das Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen eigenverantwortlich zu bewerten und weiterzuverarbeiten; er muss sich mit Hilfe des Sachverständigengutachtens selbst sachkundig machen (vgl. Senat, Beschluss vom 25. Mai 2011 - 2 StR 585/10, NStZ 2012, 103). Vom Tatgericht zu beurteilen ist danach, ob der Täter bei der Begehung der jeweiligen Tat defektbedingt motivatorischen und situativen Tatanreizen wesentlich weniger Widerstand entgegensetzen konnte als ein Durchschnittsbürger (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Dezember 2018 - 4 StR 505/18, StV 2019, 274, 276) oder ob ihm das sogar unmöglich war. Wegen der Schwierigkeit einer genauen Grenzziehung bedarf es einer konkretisierenden Darlegung, aus der sich ergibt, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung jeweils bei Begehung der konkret abzuurteilenden Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten ausgewirkt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Januar 2016 - 3 StR 521/15, NStZ-RR 2016, 135; Beschluss vom 11. April 2018 - 4 StR 446/17, StV 2019, 232, 233; Schönke/Schröder/Perron/Weißer, StGB, 30. Aufl., § 20 Rn. 31).

b) Den sich daraus ergebenden Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht.

aa) Der gerichtliche Sachverständige hat bei dem Angeklagten eine paranoide Schizophrenie mit Verfolgungsgedanken und Anzeichen hypochondrischer Wahnvorstellungen diagnostiziert. Substanzmissbrauch komme als Nebenbefund hinzu. Taten des Angeklagten zum Nachteil seiner Mutter und seines Großvaters (Fälle II.1. 2. 4. der Urteilsgründe) seien auf krankheitsbedingte Reizbarkeit und Hostilität zurückzuführen, seine Drohungen hätten etwas Maßloses, die Beschriftung der Tapete (Fall II.5. der Urteilsgründe) habe auf einer psychotischen Motivation beruht, in den Fällen II.6. und II.7. der Urteilsgründe sei die Psychose handlungsauslösend gewesen. Die Brandstiftung mit dem Ziel, in Haft zu kommen, sei „normalpsychologisch nicht erklärbar“. Bei allen Taten sei „jedenfalls von einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit zu den jeweiligen Tatzeitpunkten auszugehen“.

Zu den Ausführungen des Sachverständigen hat die Strafkammer angemerkt, infolge „dieser Auswirkungen der psychischen Erkrankung in Form einer paranoiden Schizophrenie auf das Denken, Fühlen und Handeln des Angeklagten zu den Tatzeitpunkten“ sei sie „zu der sicheren Überzeugung“ gelangt, dass der Angeklagte aufgrund der bei ihm vorliegenden krankhaften seelischen Störung bei Begehung der Taten zwar in der Lage gewesen sei, das Unrecht seiner Taten einzusehen. Er sei jedoch nicht imstande gewesen, „sein Verhalten adäquat nach dieser Unrechtseinsicht auszurichten, sodass er in allen Fällen jedenfalls erheblich vermindert schuldfähig im Sinne von § 21 StGB“ gewesen sei.

bb) Damit wird nicht nachvollziehbar und auf den jeweiligen Einzelfall bezogen durch das Tatgericht erläutert, warum einerseits das Hemmungsvermögen des Angeklagten zur Tatzeit in den Fällen II.2., II.3., II.6. und II.7. der Urteilsgründe erheblich vermindert, aber nicht aufgehoben war, wohingegen in den Fällen II.4. und II.5. der Urteilsgründe eine Aufhebung der Steuerungsfähigkeit zumindest nicht auszuschließen sei. Die Darlegungen sind widersprüchlich und unklar. War der Angeklagte „nicht imstande“, sein Verhalten adäquat nach der vorhandenen Unrechtseinsicht auszurichten, so war er schuldunfähig. Konnte er sein Verhalten entgegen dieser Wertung nach dem Entscheidungsergebnis des Landgerichts aber noch dem Grunde nach entsprechend seiner Unrechtseinsicht steuern, stellt sich die Frage der normativ geprägten Erheblichkeit der Beeinträchtigung dieser Fähigkeit, und zwar mit Blick auf den jeweils erfüllten Unrechtstatbestand in unterschiedlicher Weise. Darauf gehen die Urteilsgründe nicht ein. Ihre pauschalen Wertungen, die den jeweils in Rede stehenden Straftatbestand, die Motivationslage des Angeklagten im Einzelfall und die Bedeutung der psychischen Krankheit für den Tatantrieb und die diesem entgegenzusetzenden Hemmungen nicht in den Blick nehmen, lassen besorgen, dass die Strafkammer die notwendige eigenverantwortliche und rechtliche Wertung der Einzelfälle nicht vorgenommen hat.

3. Das Urteil unterliegt daher der Aufhebung, soweit der Angeklagte verurteilt wurde. Jedoch können die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zu den rechtswidrigen Taten aufrecht erhalten bleiben; insoweit ist die Revision unbegründet.

Die Anordnung der Maßregel nach § 63 StGB kann ebenfalls nicht bestehen bleiben, weil sie die sichere Feststellung eines Falles des § 20 oder § 21 StGB voraussetzt, die hier nicht rechtsfehlerfrei getroffen wurde.

In diesem Fall muss mit Blick auf die Vorschrift des § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO wegen des untrennbaren Zusammenhangs zwischen der Entscheidung über die Unterbringung nach § 63 StGB und dem auf § 20 StGB gestützten Freispruch schließlich auch der Freispruch im Fall II.4. der Urteilsgründe aufgehoben werden (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Oktober 2016 - 4 StR 78/16, NStZ-RR 2017, 74, 75).

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 288

Externe Fundstellen: NStZ 2020, 432

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner