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HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 678

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, AK 24/18, Beschluss v. 28.06.2018, HRRS 2018 Nr. 678


BGH AK 24 u. 25/18 - Beschluss vom 28. Juni 2018

Fortdauer der Untersuchungshaft (dringender Tatverdacht wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland; besondere Schwierigkeit und besonderer Umfang des Verfahrens); Unterrichtungspflicht gegenüber der Jugendgerichtshilfe in Haftsachen.

§ 112 StPO; § 116 StPO; § 121 StPO; § 122 StPO; § 129a StGB; § 129b StGB; § 8 VStGB; § 72a Satz 1 JGG; § 38 Abs. 2 JGG; § 107 JGG

Entscheidungstenor

Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem nach den allgemeinen Vorschriften zuständigen Gericht übertragen.

Gründe

I.

Die Beschuldigten befinden sich in dieser Sache auf Grund der Haftbefehle des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 15. September 2017 seit dem 5. Dezember 2017 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Für diese am 18. September 2017 verkündeten Haftbefehle war zuvor Überhaft notiert.

Gegenstand des gegen den Beschuldigten A. ergangenen Haftbefehls ist der Vorwurf, er habe sich seit Juni 2014 im Irak und in Deutschland als Mitglied an der außereuropäischen terroristischen Vereinigung „Islamischer Staat“ (IS) beteiligt und als solches im Zusammenhang mit einem nichtinternationalen bewaffneten Konflikt gemeinschaftlich handelnd drei nach dem humanitären Völkerrecht zu schützende Personen getötet, und zwar im Juni 2014 in Mossul zwei Nachbarinnen schiitischen Glaubens sowie am 23. Oktober 2014 in der Nähe von Mossul den irakischen Offizier U., strafbar als drei Fälle des Kriegsverbrechens gegen Personen jeweils in Tateinheit mit Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland sowie als weiterer Fall der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 1 VStGB, § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1, 2, § 25 Abs. 2, §§ 52, 53 StGB.

Gegenstand des gegen den Beschuldigten R. ergangenen Haftbefehls ist der Vorwurf, er habe sich als Jugendlicher ab dem 10. Juni 2014 im Raum Mossul mehrfach als Mitglied am IS beteiligt und dabei unter anderem im Zusammenhang mit einem nichtinternationalen bewaffneten Konflikt eine nach dem humanitären Völkerrecht zu schützende Person - den vorbenannten irakischen Offizier unmittelbar vor dessen Tötung - in schwerwiegender Weise entwürdigend und erniedrigend behandelt, strafbar als Kriegsverbrechen gegen Personen in Tateinheit mit Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland sowie als weiterer Fall der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 9 VStGB, § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1, 2, §§ 52, 53 StGB, § 1 JGG.

Bis die gegenständlichen Haftbefehle vollstreckt worden sind, waren ab dem 24. Mai 2017 zwei Haftbefehle des Amtsgerichts Tiergarten vom 23. Mai 2017 (A.) bzw. 24. Mai 2017 (R.) vollzogen worden, die auf den Vorwurf von Verbrechen nach dem Betäubungsmittelgesetz gestützt waren. Diese Haftbefehle hat das Kammergericht mit Beschluss vom 5. Dezember 2017 wegen Verletzung des Beschleunigungsgebots aufgehoben.

Mit Beschlüssen vom 22. Februar 2018 (AK 4/18 u. StB 29/17 bezüglich A. sowie AK 5/18 bezüglich R.) hat der Senat die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus angeordnet; mit dem den Beschuldigten A. betreffenden Beschluss hat der Senat auf dessen Beschwerde zugleich entschieden, dass dieser Beschuldigte ausschließlich der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer ausländischen terroristischen Vereinigung in zwei Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit Kriegsverbrechen gegen Personen - der mittäterschaftlichen Tötung des irakischen Offiziers - dringend verdächtig ist. Hinsichtlich der Tötung der beiden schiitischen Nachbarinnen hat der Senat den nach § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO erforderlichen Verdachtsgrad dagegen verneint. Im Rahmen der Haftprüfung ist er davon ausgegangen, dass der für die Bestimmung des Fristbeginns nach § 121 Abs. 1 StPO maßgebende Tag für den Beschuldigten A. auf den 24. Mai 2017, für den Beschuldigten R. auf den 14. Juni 2017 fällt, weil zu diesen Zeitpunkten für den Erlass der gegenständlichen Haftbefehle ausreichende Erkenntnisse zu den jeweiligen Tatvorwürfen vorlagen.

II.

Die Voraussetzungen der Untersuchungshaft auch über - seit den letzten Haftprüfungen vergangene - drei weitere Monate hinaus liegen für beide Beschuldigte vor.

1. Hinsichtlich der Einzelheiten der für die Entscheidung maßgeblichen Tatvorwürfe, der den jeweiligen dringenden Tatverdacht begründenden Umstände, der Haftgründe der Fluchtgefahr und der Schwerkriminalität sowie der Versagung einer Haftverschonung nimmt der Senat Bezug auf die Gründe seiner Haftfortdauerentscheidungen vom 22. Februar 2018, die fortgelten. Insoweit ist ergänzend auszuführen:

a) Es beseitigt den dringenden Tatverdacht nicht, dass das Landgericht Berlin die zwei Beschuldigten in dem Verfahren, in dem das Amtsgericht Tiergarten gegen sie Haftbefehl wegen des dringenden Tatverdachts von Verbrechen nach dem Betäubungsmittelgesetz erlassen hatte, mittlerweile freigesprochen hat. Zwar stützte sich der Tatverdacht im dortigen Verfahren ebenfalls auf Bekundungen der Zeugen All., Al., M. und T., deren Angaben auch im hiesigen Verfahren eine erhebliche Bedeutung zukommt. Die Tatvorwürfe in beiden Verfahren weisen jedoch keine Verflechtungen miteinander auf.

Soweit die Verteidigung mitteilt, der Vorsitzende des Landgerichts Berlin habe in Übereinstimmung mit den Sitzungsvertretern der Generalstaatsanwaltschaft Berlin zur Begründung des Freispruchs ausgeführt, dass die Angaben (auch) der vier benannten Zeugen „sich bei Nachfragen zum größten Teil als Spekulationen und Mutmaßungen sowie Erkenntnisse vom Hörensagen“ herausgestellt hätten, vermag dies eine abweichende Bewertung schon deshalb nicht zu rechtfertigen, weil im hiesigen Verfahren gerade Erkenntnisse dieser Zeugen vom Hörensagen bedeutsam sind. Das gilt sowohl für die dem Beschuldigten A. angelastete Mittäterschaft an der Tötung des irakischen Offiziers U. als auch für das mutmaßliche Nichtvorhandensein einer vom Beschuldigten R. behaupteten Zwangslage während des ihm vorgeworfenen schwerwiegenden Beschimpfens und Bespuckens unmittelbar zuvor, desgleichen für die Mitgliedschaft beider Beschuldigter im IS. Nach den Vernehmungsniederschriften haben die Zeugen vor allem über ihnen gegenüber getätigte Erklärungen der Beschuldigten berichtet (s. hierzu AK 4/18 unter II. 2. b) bb) (2) sowie AK 5/18 unter II. 1. a) bb) (3)), was den dringenden Verdacht belegt, nicht über eigene Wahrnehmungen zu den diesen zur Last liegenden Kriegsverbrechen oder zu von solchen Erklärungen unabhängigen mitgliedschaftlichen Betätigungsakten.

Darüber hinaus haben zwischenzeitlich weitere Zeugen die Tatvorwürfe bekräftigende Angaben gemacht. Hierbei handelt es sich um die Zeugen Alk., Alh. und O. sowie den gesperrten Zeugen „S.“ bei dessen zweiter Einvernahme am 7. März 2018.

Soweit die Verteidigung die Aussage des Zeugen Alk. als evident unglaubhaft behandelt, weil er angegeben habe, er sei bei der Hinrichtung des irakischen Offiziers anwesend gewesen, obwohl er zugleich bekundet habe, schon Monate zuvor aus Mossul geflohen zu sein, vermag der Senat ihr darin nicht zu folgen. Ausweislich des Vernehmungsprotokolls betrifft die Videosequenz über die Tötung in Mossul, bei der der Zeuge eigenen Angaben zufolge zugegen war, diejenige eines anderen Menschen, nicht das mutmaßliche Kriegsverbrechen an dem Offizier. Die eigene Anwesenheit am Ort dessen Hinrichtung hat der Zeuge Alk. nicht behauptet. Der Senat teilt daher nicht die Ansicht der Verteidigung, an der Vernehmungsniederschrift dieses Zeugen ließe sich beispielhaft ein unsachgemäßes Vorgehen der Ermittlungsbehörden erläutern.

Soweit die Zeugen Alh. und O., die Cousine des Beschuldigten A. und ihr Ehemann, zu dem Filmmitschnitt über U. s Hinrichtung sowie zu Erklärungen dieses Beschuldigten ihnen gegenüber Angaben gemacht haben, weist die Verteidigung zutreffend darauf hin, dass auf der Grundlage der Vernehmungsprotokolle die Bekundungen in bedeutsamen Punkten nicht miteinander in Einklang stehen. Dies nimmt den Angaben jedoch nicht jegliche Aussagekraft. Vielmehr sind sie mit einem entsprechend erheblich geminderten Beweiswert in die Würdigung der in den Sachakten verschrifteten Beweismittel einzubeziehen.

b) Der gegen den Beschuldigten R. ergangene Haftbefehl ist nicht wegen Verletzung der - auf Heranwachsende entsprechend anwendbaren (§ 109 Abs. 1 Satz 1 JGG) - Unterrichtungspflicht des § 72a Satz 1 JGG aufzuheben.

Die Jugendgerichtshilfe ist im hiesigen Verfahren - soweit ersichtlich - nicht unverzüglich mit dem Beginn der Vollstreckung dieses Haftbefehls am 5. Dezember 2017 benachrichtigt worden. Nach ihren Angaben hat sie am 7. Mai 2018 Kenntnis davon erlangt, dass der Haftbefehl mit Beschluss vom 22. Februar 2018 „aufrecht erhalten“ worden und eine erneute Haftprüfung nach weiteren drei Monaten vorgesehen ist. Unter Beachtung ihrer Verpflichtung zu beschleunigter Vorlage eines Berichts als Haftentscheidungshilfe nach § 38 Abs. 2 Satz 3, § 107 JGG hat die Jugendgerichtshilfe mit an den Generalbundesanwalt gerichtetem Schreiben vom 14. Mai 2018 Stellung genommen. Seit welchem Zeitpunkt ihr der Haftbefehl bekannt war, hat sie allerdings nicht mitgeteilt.

Unter den gegebenen Umständen ist auszuschließen, dass sich eine Verletzung der Unterrichtungspflicht auf die vorliegende Entscheidung auswirken würde. Wie dargelegt, liegt mittlerweile eine Stellungnahme der Jugendgerichtshilfe vor. In dem benannten Verfahren vor dem Landgericht Berlin hatte sie bereits unter dem 11. Dezember 2017 berichtet. Aus ihren schriftlichen Äußerungen ist nichts ersichtlich, was es rechtfertigen könnte, hinsichtlich des Beschuldigten R. die allgemeinen Haftvoraussetzungen zu verneinen; auch eine Haftverschonung analog § 116 StPO, gegen die aus Sicht der Jugendgerichtshilfe „nichts spräche“, ist weiterhin nicht erfolgversprechend.

2. Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über drei weitere Monate hinaus (§ 121 Abs. 1, § 122 Abs. 4 Satz 2 StPO) sind gegeben. Die besondere Schwierigkeit und der besondere Umfang des Verfahrens haben ein Urteil bislang noch nicht zugelassen und rechtfertigen den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft. Das Verfahren ist auch nach den Haftfortdauerentscheidungen des Senats vom 22. Februar 2018 hinreichend gefördert worden.

Die Ermittlungen sind insbesondere geprägt durch eine aufwendige Auswertung von Audiosequenzen aus der Telekommunikationsüberwachung und von auf digitalen Datenträgern gespeicherten Informationen. Die Erkenntnisse sind zum Großteil in arabischer Sprache angefallen, so dass sie vor der Auswertung übersetzt werden müssen. Bei Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen vom 16. Mai bis zum 25. November 2017 fielen allein 5.977 Audiosequenzen für das hiesige Verfahren an. Zudem wurden bei Durchsuchungsmaßnahmen Ende Mai und Mitte September 2017 im Ganzen 21 Mobiltelefone, sieben SIM-Karten, drei Laptops, zwei Spielekonsolen sowie ein Festnetztelefon nebst WLAN-Router mit einem Gesamtdatenvolumen von 720 Gigabyte sichergestellt. Die auf diesen Datenträgern gespeicherten Informationen sind zwar ganz überwiegend bereits vor der ersten Haftprüfungsentscheidung des Senats ausgewertet worden. Anschließend sind indes auf Grund einer Durchsuchung bei der Zeugin Alh. am 27. Februar 2018 nochmals zehn Mobiltelefone, ein Laptop, zwei Digitalkameras und eine Videokamera sichergestellt worden; nach Angaben der Zeugin standen (auch) diese Speichermedien vormals im Besitz des Beschuldigten A. .

Dass die Auswertung derartiger umfangreicher Datenbestände, insbesondere wenn gesprochene und geschriebene Äußerungen in einer fremden Sprache getätigt werden, erhebliche Zeit in Anspruch nimmt, versteht sich von selbst. Der Senat hat auch keine Zweifel an der inhaltlichen Richtigkeit der Mitteilung des Generalbundesanwalts, zur Zeit stünden für die arabische Sprache „nur eingeschränkt geeignete Übersetzer zur Verfügung“. Selbst wenn, wie die Verteidigung geltend macht, bei der Zeugin Alh. bereits früher hätte durchsucht werden können, hätte dies nicht die von den Ermittlungsbehörden erzielbaren Auswertungskapazitäten erhöht.

Wegen weiterer Einzelheiten, vor allem auch zu anderen - zwischenzeitlich durchgeführten - sachdienlichen Ermittlungshandlungen, wird auf den Vorlagebericht des Generalbundesanwalts vom 17. Mai 2018 Bezug genommen.

In Anbetracht dessen ist das Ermittlungsverfahren bislang mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden. Der Generalbundesanwalt hat angekündigt, „Mitte 2018" Anklage zum Kammergericht zu erheben. Angesichts des bereits weit fortgeschrittenen Ermittlungsstandes wird er sich um eine zügige Umsetzung dieser Ankündigung zu bemühen haben.

3. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht nach wie vor nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der im Fall einer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 678

Externe Fundstellen: NStZ 2018, 665

Bearbeiter: Christian Becker