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HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 677

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, AK 23/18, Beschluss v. 17.05.2018, HRRS 2018 Nr. 677


BGH AK 23/18 - Beschluss vom 17. Mai 2018 (OLG Hamburg)

Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (dringender Tatverdacht wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat; Fluchtgefahr; Verhältnismäßigkeit).

§ 112 StPO; § 121 StPO; § 89a StGB

Entscheidungstenor

Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem Oberlandesgericht Hamburg übertragen.

Gründe

I.

Der Angeschuldigte wurde aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 31. Oktober 2017 (1 BGs 436/17) am selben Tage vorläufig festgenommen und befindet sich seit dem 1. November 2017 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Beschuldigte habe als Heranwachsender eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet, nämlich eine Straftat gegen das Leben nach §§ 211, 212 StGB, die nach den Umständen bestimmt und geeignet ist, die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zu beeinträchtigen, indem er Gegenstände sowie Stoffe sich verschafft und verwahrt habe, die für die Herstellung von Sprengstoffen und Spreng oder Brandvorrichtungen wesentlich seien (§ 89a Abs. 1, 2 Nr. 3 StGB i.V.m. §§ 1, 105 JGG).

II.

Die Voraussetzungen für den Vollzug der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.

1. Der Angeschuldigte ist der ihm zur Last gelegten Tat dringend verdächtig.

a) Nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:

Der Angeschuldigte, der in Damaskus nach seinem naturwissenschaftlichen Abitur an der Universität Bauingenieurwesen studierte, reiste Ende des Jahres 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und wurde durch den Bescheid vom 16. Februar 2016 als Flüchtling anerkannt; seine Aufenthaltserlaubnis gilt bis zum 17. April 2019. Der Angeschuldigte befürwortet seit September 2017 die Ideologie der ausländischen terroristischen Vereinigung „Islamischer Staat (IS)". Er hatte vor, ins Kampfgebiet dieser Vereinigung auszureisen, um sich ihr anzuschließen und sich dort am Jihad gegen die „Ungläubigen“ zu beteiligen. Zuvor wollte er jedoch in der Bundesrepublik Deutschland die „Ungläubigen“ bekämpfen und verfolgte spätestens seit Juli 2017 die Absicht, hier zu einem nicht bekannten Zeitpunkt an einem unbekannten Ort einen Sprengsatz in einer Ansammlung von Menschen zu zünden, um eine möglichst große Anzahl von Personen zu töten und zu verletzen. Der Anschlag sollte in seiner Dimension den bisherigen Anschlägen in Europa gleichkommen, zu denen sich der IS bekannt hatte. Durch eine solche Tat wäre in der deutschen Bevölkerung ein Klima der Angst und Verunsicherung entstanden, worauf es dem Angeschuldigten ankam.

Um seinen Entschluss in die Tat umzusetzen, nahm der Angeschuldigte am 26. Juli 2017 über das von ihm benutzte Facebook-Konto „M.“ Kontakt mit einem bislang noch nicht identifizierten Mann mit Nutzernamen „A.“ auf, der sich als „Soldat des Kalifats“ bezeichnete und wahrscheinlich IS-Mitglied ist. Der Angeschuldigte berichtete ihm von seinem Vorhaben, worauf ihm der im Irak ansässige Gesprächspartner die Erreichbarkeit einer unbekannten Person in Mauretanien mitteilte, die über die notwendigen Kenntnisse und Informationen zur Herstellung eines Sprengstoffes verfügen sollte. Ob der Angeschuldigte zu dieser Person Kontakt aufnahm, ist ungeklärt.

Jedenfalls gelang es dem Angeschuldigten, sich von weiteren, dem IS zumindest nahestehenden Personen über soziale Netzwerke die notwendigen Kenntnisse zur Herstellung von Sprengstoffen, Spreng- und Brandvorrichtungen sowie Zündvorrichtungen zu verschaffen. Die Chat-Partner unterrichteten den Angeschuldigten u.a. im konspirativen Verhalten, erklärten ihm, wie er als Einzeltäter die Funktionstüchtigkeit der hergestellten Vorrichtungen überprüfen könne, und belehrten ihn über die Vor- und Nachteile der verschiedenen in Betracht kommenden Zündauslösevorrichtungen. In Umsetzung des erworbenen Wissens besorgte sich der Angeschuldigte elektronische Bauteile und Chemikalien, die für die Herstellung von Sprengstoffen, Zündauslösevorrichtungen sowie Spreng- und Brandvorrichtungen benötigt werden. Anschließend deponierte er die Utensilien in seiner Wohnung, wo er alsbald mit der Anfertigung von Sprengstoff und Zündvorrichtung begann. Insbesondere ließ sich der Angeschuldigte am 27. Juli 2017 vom nicht identifizierten „Mu. ", der unter dem Registrierungsnamen „G.“ und dem Nutzernahmen „H.“ auftrat, eine Videoanleitung für den Bau eines Zünders einer unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtung zusenden. Auf dem gleichen Wege besorgte sich der Angeschuldigte am 1. August 2017 schriftliche Anleitungen für die Konstruktion von Fernauslösungen für Sprengsätze mittels Mobiltelefon oder Funkgeräten sowie am 7. August 2017 eine Videoanleitung zur Herstellung einer unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtung mit Splitterbelegung unter Verwendung von Triacetontriperoxid (TATP). Um diesen Stoff herzustellen, benötigt man Wasserstoffperoxid, Schwefelsäure und Aceton. Der Angeschuldigte erwarb im August 2017 geeignete Funkgeräte beim Internetversandhändler Amazon und Mini-Lichterketten sowie am 9. August 2017 Streichhölzer, um entsprechend der Anleitung die Zündauslösevorrichtung aus TATP und einem Glühbrückenzünder, bestehend aus einem präparierten, mit Streichholzkopfmasse gefüllten Glühbirnchen, zu fertigen. Entsprechend der Anleitung begann der Angeschuldigte mit der Manipulation eines Funkgerätes. Er bestellte am 30. Juli 2017 Batteriesäure, die zu 37 % aus Schwefelsäure bestand, und am 7. August 2017 ein Tee-Thermometer, da TATP unter Kühlung hergestellt werden muss. Anfang August 2017 erwarb der Angeschuldigte Einwegspritzen für das Zusammenführen von Stoffen, Mitte August 2017 einen Messbecher sowie jeweils einen Liter Oxydator-Lösung, die aus Wasser und Wasserstoffperoxid bestand, sowie nochmals Schwefelsäure. Das erforderliche Aceton wollte der Angeschuldigte aus im Einzelhandel erworbenem Nagellackentferner gewinnen. Der Angeschuldigte versuchte mit den genannten erworbenen Mitteln zu mindestens fünfmal, TATP herzustellen, was ihm entgegen seiner Annahme wenigstens einmal gelang.

Weil er nicht wusste, welcher Fehler ihm jeweils unterlaufen war, suchte der Angeschuldigte am 7. September 2017 im Internet nach weiteren Anleitungen. Schließlich unterstützte ihn der nicht identifizierte Nutzer „AL. ". Nach Scheitern der Übermittlung von Fotografien wies ihn dieser Nutzer an, u.a. fünf Liter Wasserstoffperoxid-Lösung mit einer Konzentration von mindestens sechs Prozent für eine Sprengladung zu besorgen. Diese Menge solle zur 8 Herstellung einer Sprengladung genügen, die für die Tötung von mindestens 200 Personen geeignet sein sollte. Am selben Tage bestellte der Angeschuldigte zehn Kilogramm Wasserstoffperoxid; aus unbekanntem Grund stornierte er diese Bestellung jedoch wieder.

Am 16. Oktober 2017 suchte der Angeschuldigte weiteren Rat bei einem bislang nicht identifizierten Telegram-Nutzer. Dieser übersandte ihm eine Anleitung zur Aufkonzentrierung einer handelsüblichen Wasserstoffperoxid-Lösung, da für die Herstellung von Sprengstoffen eine Konzentration von 30 % benötigt werde. Deshalb suchte der Angeschuldigte am 22. Oktober 2017 im Internet nach Oxydator-Lösung mit einer Konzentration von 30 % Wasserstoffperoxid, die jedoch aufgrund der seit Januar 2017 geltenden Chemikalien-Verbotsverordnung nicht über den Versandhandel erworben werden konnte. Infolge seiner Festnahme konnte der Angeschuldigte sein Vorhaben nicht realisieren.

Wegen der weiteren Einzelheiten der Konkretisierung der Tat wird auf die Anklageschrift des Generalbundesanwalts vom 28. Februar 2018 verwiesen.

b) Der dringende Tatverdacht beruht auf den Angaben des Angeschuldigten, auf der Sicherstellung der vorgenannten Gegenstände und Stoffe zur Herstellung des Sprengsatzes in seiner Wohnung sowie auf den Nachrichten, die der Angeschuldigte über die Nachrichtendienste Facebook und Telegram versandte und erhielt. Soweit der Angeschuldigte sich dahin eingelassen hat, er habe mit den Gegenständen nur experimentieren wollen, wird sein Vorbringen durch seinen Chatverkehr widerlegt, in dem er gegenüber Personen, die ihm Ratschläge erteilten, die Taten ankündigte. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die detaillierten Ausführungen im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen in der genannten Anklageschrift des Generalbundesanwalts Bezug genommen.

2. Danach hat der Angeschuldigte mit hoher Wahrscheinlichkeit eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet (§ 89a Abs. 1, 2 Nr. 3 StGB i.V.m. §§ 1, 105 JGG). Er war zu einem Anschlag, der dem in London im Jahre 2005 verübten gleichkommen sollte, fest entschlossen. Dies rechtfertigt die Annahme der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat (vgl. nur BGH, Urteil vom 8. Mai 2014 - 3 StR 243/13, BGHSt 59, 218, 239 f.).

3. Es besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO i.V.m. § 2 Abs. 2, § 72 JGG). Der Angeschuldigte hat auch unter Berücksichtigung seines Alters mit der Verurteilung zu einer nicht unerheblichen Freiheits- oder Jugendstrafe zu rechnen. Dem davon ausgehenden Fluchtanreiz stehen keine ausreichend gewichtigen fluchthindernden Umstände entgegen. Nahe Familienangehörige leben nicht in Deutschland; auch sonst sind keine sozialen Bindungen erkennbar, denen sich der Angeschuldigte nicht entziehen könnte. Zudem plante der Angeschuldigte seine Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland.

Aus den genannten Gründen kann der Zweck der Untersuchungshaft nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als deren Vollzug erreicht werden (§ 116 Abs. 1 StPO).

4. Die besonderen Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) liegen vor. Die besondere Schwierigkeit und der besondere Umfang der Ermittlungen haben ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigen die Dauer der Untersuchungshaft.

Seit der Verhaftung des Angeschuldigten sind die Ermittlungen mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung fortgeführt worden. Die Sachakten umfassen mittlerweile 29 Stehordner; mehrere sichergestellte Mobiltelefone mussten ausgewertet werden. Für den Fall der Eröffnung des Hauptverfahrens hat die Vorsitzende des Staatschutzsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts mit den Verteidigern Termine für den Zeitraum vom 26. Juli 2018 bis 11. Oktober 2018 abgestimmt.

5. Schließlich steht der weitere Vollzug der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der im Falle der Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO i.V.m. § 72 Abs. 1 Satz 2 JGG).

HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 677

Bearbeiter: Christian Becker