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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 178

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 168/18, Urteil v. 26.09.2018, HRRS 2019 Nr. 178


BGH 2 StR 168/18 - Urteil vom 26. September 2018 (LG Marburg)

Urteilsgründe (Anforderungen an die Begründung eines freisprechenden Urteils).

§ 267 Abs. 5 Satz 1 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Nach den Anforderungen an die Begründung eines freisprechenden Urteils muss der Tatrichter bei einem Freispruch aus tatsächlichen Gründen im Anschluss an die Mitteilung des Anklagevorwurfs zunächst diejenigen Feststellungen anführen, die er für erwiesen hält, bevor er in der Beweiswürdigung darlegt, aus welchen Gründen die für einen Schuldspruch erforderlichen zusätzlichen Feststellungen nicht getroffen werden können. Die Begründung muss dabei so abgefasst sein, dass das Revisionsgericht prüfen kann, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind, insbesondere ob der den Entscheidungsgegenstand bildende Sachverhalt erschöpfend gewürdigt worden ist.

2. Das Revisionsgericht hat es zwar grundsätzlich hinzunehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an dessen Tatbegehung nicht zu überwinden vermag. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht etwa der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Rechtsfehlerhaft ist es auch, wenn sich das Tatgericht bei seiner Beweiswürdigung darauf beschränkt, die einzelnen Belastungsindizien gesondert zu erörtern und auf ihren jeweiligen Beweiswert zu prüfen, ohne eine Gesamtabwägung aller für und gegen die Täterschaft sprechenden Umstände vorzunehmen. Der revisionsgerichtlichen Überprüfung unterliegt ferner, ob überspannte Anforderungen an die für die Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt worden sind.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin V. wird das Urteil des Landgerichts Marburg vom 6. November 2017 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte im Fall II. 1 der Urteilsgründe freigesprochen worden ist.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin V. insoweit entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schwerer sexueller Nötigung unter Verwendung eines gefährlichen Werkzeugs in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, Beleidigung und Sachbeschädigung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen. Die auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin, die den Freispruch angreifen, haben Erfolg.

1. Dem Angeklagten ist betreffend Fall II. 1 der Urteilsgründe zur Last gelegt worden, durch dieselbe Handlung einen schweren sexuellen Missbrauch eines Kindes in Tateinheit mit Vergewaltigung begangen zu haben. Die zum Tatzeitpunkt 12-jährige Zeugin habe im Herbst 2000 den Angeklagten, der bei seinen Eltern in G. wohnte, aufgesucht. Dieser sei allein in der Wohnung gewesen. Nachdem beide in dessen Zimmer gegangen seien, habe der Angeklagte eine Hantelstange vor die Tür gelegt, um zu verhindern, dass sie das Zimmer verlasse. Zunächst hätten beide auf einem Sofa gesessen, er habe sie überall, auch zwischen den Beinen berührt, was sie nicht gewollt und ihm auch gesagt habe. Kurze Zeit später habe er sie, die inzwischen auf seinem Bett gesessen habe, aufgefordert, den Oralverkehr an ihm auszuführen, eine Stoppuhr auf fünf Minuten eingestellt und ihr gedroht, sie zu vergewaltigen, wenn sie es bis zu diesem Zeitpunkt nicht geschafft haben würde, ihn zu befriedigen. Als die Stoppuhr abgelaufen gewesen sei und der Oralverkehr nicht zur Befriedigung des Angeklagten geführt habe, habe er ihr die Hose heruntergezogen und sich auf sie gelegt, um vaginal in sie einzudringen. Sie habe sich gewehrt und ihm gesagt, es tue „höllisch weh“. Es sei ihm gelungen, ein Stück in die Scheide einzudringen. Dann seien seine Eltern nach Hause gekommen. Die Nebenklägerin habe dann gegen eine Heizung getreten, um auf sich aufmerksam zu machen. Deshalb habe der Angeklagte sodann von ihr abgelassen.

2. a) Das Landgericht hat Feststellungen zum eigentlichen Tatgeschehen nicht zu treffen vermocht.

Es hat dargelegt, dass der Angeklagte im Juni 2000 aus der Haft entlassen worden war und anschließend ein Zimmer in der Wohnung seiner Eltern bezogen hatte, dessen Lage sich aus einem in Bezug genommenen Grundriss ergebe. Nach weiterer Strafhaft aus verschiedenen Verurteilungen zwischen 2001 und 2008 lebte der Angeklagte mit seiner Freundin und jetzigen Ehefrau in G. in einer eigenen Wohnung. Ab dem Jahre 2012 kam es zu einer Reihe von nicht zur Anklage gelangten Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen des Verdachts sexueller Gewalttaten. Dies brachte dem Angeklagten den Ruf ein, er sei ein Vergewaltiger und auch sonst gewalttätig, wovon auch die Nebenklägerin V. hörte.

So endete unter anderem auch ein Verfahren zum Nachteil der Zeugin K. im Jahr 2015 mit einer Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO, nachdem ein dort eingeholtes aussagepsychologisches Gutachten ergeben hatte, dass die Hypothese einer teilweise autosuggestiven falschen Erinnerung nicht mit der erforderlichen Sicherheit zurückgewiesen werden könne. Der Anzeige durch die Zeugin K. war ein von der Nebenklägerin initiiertes Treffen mit ihr vorausgegangen, in dessen Folge die Zeugin nach Hinweisen der Nebenklägerin, auch ihr sei von dem Angeklagten Gewalt angetan worden, Anzeige erstattete und im Übrigen mitteilte, dass es noch ein weiteres Opfer gebe.

Dies führte im April 2014 zu einer ersten Vernehmung der Nebenklägerin, bei der sie den sexuellen Übergriff durch den Angeklagten beschrieb. Eine richterliche Vernehmung im August 2014 folgte, schließlich kam es im Rahmen der Exploration zur Erstellung eines aussagepsychologischen Gutachtens zu weiteren Angaben der Nebenklägerin, die das Landgericht wie auch ihre Aussage in der Hauptverhandlung im Einzelnen mitteilt.

b) Das Landgericht hat sich nicht in der Lage gesehen, die Einlassung des Angeklagten, „es sei nichts gewesen“, zu widerlegen und ernstliche Zweifel an der Täterschaft des Angeklagten zu überwinden. Zwar hätten „weite Teile des aussagepsychologischen Gutachtens der Sachverständigen“ für den Tatnachweis gesprochen. Gegen den Nachweis der angeklagten Tat sprächen hingegen die Angaben der Nebenklägerin zur Möblierung des Tatzimmers. Aufgrund entgegenstehender Aussagen des Bruders und der Mutter des Angeklagten zur Ausstattung des Zimmers des Angeklagten (und auch des Bruders) stelle sich die Frage, ob hier „eine faktische Unmöglichkeit zu verzeichnen sei, als deren Folge die Aussage endgültig abzuwerten sei“. Diese Frage könne jedoch - auch vor dem Hintergrund, dass die Nebenklägerin in der ersten polizeilichen Vernehmung anders als bei späteren Aussagen die Unwahrheit gesagt habe, als sie angab, „mit dem Angeklagten sei ihr erstes Mal gewesen“ - nicht hinreichend sicher entschieden werden. Die Aufklärung der Widersprüche sei nämlich nicht möglich gewesen, da die Nebenklägerin nicht hätte nachvernommen werden können. Auch sei zu berücksichtigen gewesen, dass mögliche Auswirkung einer bei der Nebenklägerin anzunehmenden Borderline-Störung eine Scheinerinnerung sein könne. Vor diesem Hintergrund könne es mit Blick auf Angaben der Zeugin F., die berichtet habe, dass die Nebenklägerin nach eigenen Angaben mit dem Angeklagten „zusammen“ gewesen sei, sein, dass die Nebenklägerin mit diesem ein wie auch immer geartetes Verhältnis gehabt habe, in deren Verlauf es zu einer von ihr als gegen ihren Willen erfolgt wahrgenommenen sexuellen Begegnung gekommen sei. Es sei nicht bloße Spekulation, sondern normpsychologisch erklärbar, dass sie dabei eine Kränkung durch den sieben Jahre älteren Angeklagten erlebt und deshalb das sexuelle Erlebnis im Nachhinein als gewaltsam definiert habe.

3. Die auf den Freispruch im Fall II. 1 der Urteilsgründe beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft hat wie auch das Rechtsmittel der Nebenklägerin mit der Sachrüge Erfolg.

a) Zwar liegt der gerügte Verstoß gegen die Kognitionspflicht (§ 264 StPO) nicht vor. Es bestand für das Landgericht kein Anlass, sich mit einer möglichen Strafbarkeit des Angeklagten nach den §§ 176, 176a StGB zu befassen. Das Landgericht hat zwar einen einvernehmlichen Sexualkontakt der 12 Jahre alten Nebenklägerin mit dem Angeklagten als „wirklichkeitsnah“ bezeichnet. Aus der an anderer Stelle getroffenen Feststellung, es könne sein, dass die Nebenklägerin ein wie auch immer geartetes Verhältnis mit dem Angeklagten gehabt habe, in dessen Verlauf es zu einer sexuellen Begegnung gekommen sei, ergibt sich jedoch hinreichend deutlich, dass es sich die für eine Verurteilung notwendige Überzeugung von einem freiwilligen Sexualkontakt zwischen der Nebenklägerin und dem Angeklagten nicht zu verschaffen vermochte. Aus diesem Grund brauchte sich das Landgericht auch nicht ausdrücklich mit der Frage auseinander zu setzen, ob bei dieser Sachlage eine Strafbarkeit wegen (schweren) sexuellen Missbrauchs in Betracht käme.

b) Die angefochtene Entscheidung genügt jedoch nicht den Anforderungen an die Begründung eines freisprechenden Urteils (§ 267 Abs. 5 Satz 1 StPO). Danach muss der Tatrichter bei einem Freispruch aus tatsächlichen Gründen im Anschluss an die Mitteilung des Anklagevorwurfs zunächst diejenigen Feststellungen anführen, die er für erwiesen hält, bevor er in der Beweiswürdigung darlegt, aus welchen Gründen die für einen Schuldspruch erforderlichen zusätzlichen Feststellungen nicht getroffen werden können. Die Begründung muss dabei so abgefasst sein, dass das Revisionsgericht prüfen kann, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind, insbesondere ob der den Entscheidungsgegenstand bildende Sachverhalt erschöpfend gewürdigt worden ist (st. Rspr.; vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl., § 267, Rn. 33 m.N. zur Rspr.).

Gemessen daran fehlt es jedenfalls an Feststellungen zur Ausstattung des Tatzimmers. Sie wären möglich und auch notwendig gewesen, um die Beweiswürdigung des Landgerichts überprüfen zu können. Denn die Möblierungsverhältnisse dieses Zimmers, die nach Ansicht des Landgerichts mit den Angaben der Nebenklägerin nicht in Einklang zu bringen waren, waren für die Strafkammer der maßgebliche Umstand, der trotz der an sich glaubhaften Angaben der Nebenklägerin der Überzeugung von einer Täterschaft des Angeklagten entgegenstand.

c) Auch die Beweiswürdigung des Landgerichts leidet an durchgreifenden Rechtsfehlern.

aa) Das Revisionsgericht hat es zwar grundsätzlich hinzunehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an dessen Tatbegehung nicht zu überwinden vermag. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht etwa der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Rechtsfehlerhaft ist es auch, wenn sich das Tatgericht bei seiner Beweiswürdigung darauf beschränkt, die einzelnen Belastungsindizien gesondert zu erörtern und auf ihren jeweiligen Beweiswert zu prüfen, ohne eine Gesamtabwägung aller für und gegen die Täterschaft sprechenden Umstände vorzunehmen. Der revisionsgerichtlichen Überprüfung unterliegt ferner, ob überspannte Anforderungen an die für die Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt worden sind (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 11. Oktober 2016 - 5 StR 181/16, NStZ 2017, 600 mwN).

bb) Nach diesen Maßstäben hält die Beweiswürdigung des Landgerichts rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

Die Beweiswürdigung ist lückenhaft, soweit die Jugendkammer Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Nebenklägerin insbesondere darauf gestützt hat, dass deren Beschreibung des Tatzimmers mit den tatsächlichen Möblierungsverhältnissen der von dem Angeklagten (bzw. seinem Bruder) bewohnten Zimmer(n) unvereinbar sei. Die von dem Landgericht hierzu getroffenen Feststellungen beruhen nämlich allein auf den - durch eine Polizeibeamtin - vermittelten Angaben zweier Angehöriger des Angeklagten, nämlich seiner Mutter sowie seines Bruders. Dabei hat es das Landgericht in rechtlich fehlerhafter Weise unterlassen, deren Angaben einer Glaubhaftigkeitsprüfung zu unterziehen und dies in den Urteilsgründen darzulegen. Dies gilt schon mit Blick darauf, dass die Möblierungsverhältnisse den zentralen Punkt in der Beweiswürdigung des Landgerichts darstellen, der ausschlaggebend dafür ist, den Angaben der im Übrigen nach dem aussagepsychologischen Gutachten glaubwürdigen Nebenklägerin V. nicht zu folgen.

Dass dazu im konkreten Fall besonderer Anlass bestanden hätte, ergibt sich zudem aus dem - insoweit von dem Landgericht nicht in den Blick genommenen - Umstand, dass die Mutter des Angeklagten hinsichtlich der abgeurteilten zweiten Tat Anstrengungen unternommen hat, die Nebenklägerin S. zur Rücknahme ihrer Anzeige zu bewegen, weil „ihr Sohn das nicht gewesen sei“. Dieser Versuch belegt - was bei einer Mutter ohnehin regelmäßig nahe liegen dürfte - ihr deutliches Interesse, ihren Sohn vor einer Strafverfolgung zu schützen. Angesichts dessen war das Landgericht gehalten, sich in den Urteilsgründen mit der Frage auseinander zu setzen, ob ein solches Interesse ein Motiv gewesen sein könnte, unzutreffende oder - bezogen auf den Zeitpunkt der Möblierung - unklare Angaben zu machen.

Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht bei gebotener Auseinandersetzung mit den dargelegten Umständen die Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin überwunden und sich die Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten verschafft hätte.

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 178

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner