HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 1032
Bearbeiter: Karsten-Gaede und Marc-Philipp Bittner
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 71/16, Beschluss v. 07.09.2016, HRRS 2016 Nr. 1032
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Gießen vom 12. Januar 2015, soweit es ihn betrifft und er verurteilt worden ist, mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge nach dem Urteilstenor zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten, nach den Gründen zu einer solchen von acht Monaten verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen. Seine dagegen gerichtete, auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.
1. Nach den Feststellungen besaß der Angeklagte bei seiner Festnahme 7,79 Gramm Kokainzubereitung mit einem Wirkstoffgehalt von 6,37 Gramm Kokainhydrochlorid zum Eigenverbrauch. Die Bestimmung von Art und Wirkstoffgehalt des aufgefundenen Betäubungsmittels beruht ausweislich der Urteilsgründe auf einem Gutachten des Hessischen Landeskriminalamtes, in dem die Chemieoberrätin Dr. N. schlüssig und nachvollziehbar ihr Untersuchungsergebnis mitgeteilt habe. Die Revision rügt die fehlende Verlesung dieses Gutachtens und trägt darüber hinaus vor, dass dessen Inhalt auch nicht durch Vernehmung der Verfasserin des Gutachtens eingeführt worden sei.
2. Die Verfahrensrüge ist zulässig und begründet. Der Generalbundesanwalt hat dazu ausgeführt:
„Da dem Hauptverhandlungsprotokoll eine Verlesung des Gutachtens nicht zu entnehmen ist, ergibt sich im Hinblick auf die Beweiskraft des Protokolls (§ 274 StPO), dass eine Verlesung des Gutachtens nicht stattgefunden hat. Das Protokoll ist auch weder lückenhaft noch widersprüchlich, sondern insoweit eindeutig.
a) Nach § 274 Satz 1 StPO kann die Beobachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten nur durch das Protokoll bewiesen werden. Als Gegenbeweis lässt das Gesetz nur den Nachweis der Fälschung zu (§ 274 Satz 2 StPO). Darüber hinaus kann zwar nach der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofes durch eine nachträgliche Berichtigung des Protokolls auch einer bereits ordnungsgemäß erhobenen Verfahrensrüge zum Nachteil des Revisionsführers die Tatsachengrundlage entzogen werden (BGHSt 51, 298; BVerfG, NJW 2009, 1469). Eine solche nachträgliche Protokollberichtigung hat vorliegend nicht stattgefunden und kommt ausweislich der dienstlichen Erklärung der Vorsitzenden Richterin am Landgericht auch nicht in Betracht.
b) Neben einer ordnungsgemäßen Protokollberichtigung besteht grundsätzlich kein Raum mehr dafür, zum Nachteil des Angeklagten freibeweislich über die Beobachtung der wesentlichen Förmlichkeiten zu befinden. Denn gegenüber einem den Maßstäben des Großen Senats genügenden förmlichen Berichtigungsverfahren bietet das Freibeweisverfahren nur geringere verfahrensrechtliche Sicherungen für die Ermittlung des wahren Sachverhalts (BGH, Beschluss vom 28. Juni 2011 - 3 StR 485/10, StV 2012, 523; BGH, Beschluss vom 14. Juli 2010 - 2 StR 158/10, StV 2010, 675; BGH, Beschluss vom 28. Januar 2010 - 5 StR 169/09, NJW 2010, 2068).
c) Das Urteil beruht auf diesem Verfahrensverstoß. Ausweislich der Urteilsgründe ist auszuschließen, dass der Inhalt dieses Gutachtens anderweitig in die Hauptverhandlung eingeführt worden ist.
d) Der neue Tatrichter wird gemäß § 358 Abs. 2 StPO zu berücksichtigen haben, dass von einer Freiheitsstrafe von acht Monaten als Obergrenze der neu zu verhängenden Strafe auszugehen ist. Nach der Urteilsformel im schriftlichen Urteil, die auch der verkündeten entspricht, beträgt die verhängte Freiheitsstrafe zwar neun Monate, nach den Urteilsgründen indes nur acht Monate. Worauf der Widerspruch beruht, lässt sich dem Urteil nicht entnehmen. Um ein offenkundiges Fassungsversehen, das einer Berichtigung zugänglich sein könnte, handelt es sich nicht, weil die Strafzumessungsgründe, die eine Strafe in der einen wie in der anderen Höhe zulassen, keine Anhaltspunkte dafür bieten, welche der beiden Strafen das Landgericht für angemessen erachtet hat. Auszuschließen ist aber, dass die Strafkammer eine niedrigere Strafe als die in den Gründen genannte verhängen wollte (BGH, Beschluss vom 11. September 2013 - 2 StR 298/13; BGH, Beschluss vom 15. Juni 2011 - 2 StR 194/11).“ Dem schließt sich der Senat an.
HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 1032
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2017, 52
Bearbeiter: Karsten-Gaede und Marc-Philipp Bittner