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HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 956

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 195/16, Beschluss v. 02.08.2016, HRRS 2016 Nr. 956


BGH 2 StR 195/16 - Beschluss vom 2. August 2016 (LG Limburg)

Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Gefährlichkeitsprognose)

§ 63 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Ein allgemein erhöhtes Risiko von Gewaltdelikten durch Personen, die unter einer Wahnerkrankung leiden, ist für sich genommen nicht ausreichend, im Einzelfall die Gefährlichkeitsprognose nach § 63 StGB zu begründen.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Limburg an der Lahn vom 22. Februar 2016 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte freigesprochen und ihre Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Dagegen richtet sich die Revision der Angeklagten mit der Sachrüge. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Die Angeklagte leidet unter einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie. Nach der Eheschließung mit D. und der Errichtung eines Wohnhauses in C. zog sie sich zurück und hielt sich fast nur noch im Haus auf. Zunehmend erzählte sie darüber, dass sie von ihrem früheren Freund misshandelt worden sei. Sie dehnte ihre Berichte über Misshandlungen auch auf Familienangehörige aus. Schließlich entwickelte sie die Vorstellung, ihr Ehemann sei mit einer anderen indonesischen Frau verheiratet. Alle Personen in ihrem Umfeld hätten sich gegen sie verschworen, weil ein arabischer Prinz, der über viel Geld verfüge, diese bezahle, damit sie einen Racheplan gegen sie verfolgten. Nachdem die Angeklagte das Ansinnen ihres Ehemanns, einen Therapeuten aufzusuchen, abgelehnt hatte, beschloss er, sich von ihr zu trennen. Am Abend des 20. August 2015 verlangte die Angeklagte von ihrem Ehemann, dass er ihr Tabletten besorge, damit sie sich töten könne. Er ging jedoch nicht darauf ein.

Am nächsten Morgen fuhr D. zur Arbeit, bat aber seine Eltern, sich um die Angeklagte zu kümmern. Als die Angeklagte zunächst allein im Haus war, zerschlug sie Fenster und einen Spiegel. Danach rief sie ihren Ehemann an und erklärte, er sei bestimmt böse, weil sie die Fenster eingeschlagen habe. D. nahm dies jedoch nicht ernst. Gegen 13.15 Uhr erschienen die Schwiegereltern der Angeklagten, I. und H. Di., als die Angeklagte vor der Haustür saß. Sie hatte ihre Sachen in Tüten verpackt und im Flur abgestellt; sie erklärte, sie habe „alles kaputt gemacht“. Nachdem die Schwiegereltern den von ihr angerichteten Sachschaden besichtigt hatten, riefen sie D. an, der sie darum bat, die Polizei zu rufen. Bei Eintreffen von Polizeibeamten, die den Vorgang aufnahmen, baten die Schwiegereltern darum, die Angeklagte in ein psychiatrisches Krankenhaus einzuweisen. Die Beamten lehnten dies ab, weil sich die Angeklagte zu dieser Zeit ruhig verhielt und scheinbar keinen Anlass für eine Unterbringung bot. Nachdem die Beamten das Haus verlassen hatten, lief die Angeklagte nervös herum und sagte immer wieder: „Das ist mein Haus“.

Als D. eintraf, befürchtete die Angeklagte, von ihm ins Gefängnis gebracht zu werden. Er versuchte sie zu beruhigen. Sie wich ihm aus und lief von der Küche ins Wohnzimmer, von dort in den Flur. D. folgte ihr. Sie nahm aus einer Tasche ein Küchenmesser und versetzte ihrem Ehemann einen Stich in die Brust. Als er sich umdrehte, stach sie ihn auch in den Rücken. D. konnte die Angeklagte kurz darauf im Wohnzimmer auf eine Couch drücken und festhalten. Sein Vater H. Di. beteiligte sich daran. Die Angeklagte schlug und trat jedoch heftig um sich. Dabei versetzte sie H. Di. einen Messerstich in den Oberschenkel, bevor es I. Di. gelang, ihr das Messer zu entwinden.

2. Das Landgericht hat angenommen, die Angeklagte habe bei der Ausführung der Messerstiche gegen ihren Ehemann mit natürlichem Tötungsvorsatz gehandelt, „was aus der Gedankenwelt und der Art der Stichführung folgt“. Die Angeklagte sei dabei zumindest nicht ausschließbar unfähig gewesen, das Unrecht der Tat einzusehen. Gleiches gelte für eine nach Ansicht des Landgerichts tateinheitlich begangene gefährliche Körperverletzung zum Nachteil von H. Di. .

3. Das Landgericht hat die Voraussetzungen für eine Anordnung der Unterbringung der Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB bejaht. Sie habe im Zustand zumindest erheblich verminderter Schuldfähigkeit eine erhebliche Straftat begangen. Die Gesamtwürdigung aller Umstände ergebe, dass künftig erhebliche rechtswidrige Taten von ihr zu erwarten seien und sie deshalb für die Allgemeinheit gefährlich sei. Aus dem Vorliegen der Wahnerkrankung ergebe sich ein erhöhtes Risiko für Gewaltdelikte. Dieses Risiko sei bei Wahnkranken drei- bis zehnmal so hoch wie bei psychisch gesunden Menschen. Der Angeklagten fehle die Krankheitseinsicht. Sie habe außerhalb eines psychiatrischen Krankenhauses keine „Compliance“. Ein sozialer Empfangsraum sei nicht vorhanden, nachdem sich der Ehemann von ihr distanziert habe. Die Wahrscheinlichkeit weiterer Gewaltdelikte sei mittelgradig bis hoch.

II.

1. Die in der Revisionsbegründungsschrift erklärte Beschränkung der Revision auf die Maßregelanordnung mit Ausnahme der Feststellungen zur rechtswidrigen Tat ist unwirksam, weil sowohl die Unterbringung nach § 63 StGB als auch der auf § 20 StGB gründende Freispruch von den Feststellungen zur Anlasstat abhängen. Deshalb besteht zwischen beiden Entscheidungen aus sachlichrechtlichen Gründen ein untrennbarer Zusammenhang (vgl. Senat, Beschluss vom 21. Mai 2013 - 2 StR 29/13, NStZ-RR 2014, 54).

2. Das Rechtsmittel der Angeklagten ist mit der Sachrüge begründet.

a) Die Urteilsgründe zur subjektiven Tatseite sind lückenhaft.

Das Landgericht hat nicht näher erläutert, inwieweit sich die Wahnvorstellungen der Angeklagten aus ihrer „Gedankenwelt“ auf ihren Tötungsvorsatz und die Einsicht in das Unrecht des Angriffs auf das Leben ihres Ehemanns ausgewirkt haben. Offen bleibt in den Urteilsgründen ferner, ob die Angeklagte bei dem Versuch, sich gegen das Festhalten durch Schläge und Tritte zu wehren, auch einen zumindest natürlichen Vorsatz zu einer - nach Ansicht des Landgerichts tateinheitlich begangenen - gefährlichen Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB zum Nachteil von H. Di. gehabt oder insoweit fahrlässig gehandelt hat.

b) Durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet auch die Annahme des Landgerichts, es sei künftig mit erheblichen rechtswidrigen Taten der Angeklagten zu rechnen.

Die unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme. Sie darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der Anlasstaten aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung hierauf beruht. Daneben muss eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades bestehen, der Täter oder die Täterin werde infolge des fortdauernden Zustandes in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit, des Vorlebens und der Anlasstat zu entwickeln. Dem tragen die Urteilsgründe des Landgerichts nicht ausreichend Rechnung.

Der Hinweis des Landgerichts auf ein allgemein erhöhtes Risiko von Gewaltdelikten durch Personen, die unter einer Wahnerkrankung leiden, ist für sich genommen zutreffend, er wird aber dem Einzelfall nicht gerecht. Die Tatsache fehlender Krankheitseinsicht der Angeklagten und mangelnder Unterstützung außerhalb eines psychiatrischen Krankenhauses lässt selbst im Hinblick auf ihre gefährlichen Handlungen bei der Anlasstat ebenfalls noch nicht den Schluss zu, sie werde künftig ähnliche rechtswidrige Taten begehen. Bei der Prognose muss nämlich in der Gesamtschau die konkrete Situation der Angeklagten zur Zeit der Anlasstat berücksichtigt werden. Der Ehemann hatte ihr seinen Trennungswunsch offenbart; sie sollte das in seinem Alleineigentum stehende Haus, auf das sie nach ihrer Vorstellung auch Anrechte besaß, verlassen und hatte ihre Sachen gepackt. Die Schwiegereltern hatten auf Bitte des Ehemanns die Polizei gerufen, und alle hatten sich damit aus der Sicht der Angeklagten gegen sie gewandt. Sie hatte Angst von der Polizei festgenommen und in eine Justizvollzugsanstalt verbracht zu werden. Sie war danach ohne Unterstützung. Nachdem inzwischen die Trennung der Eheleute vollzogen ist, bleibt im Rahmen der Zukunftsprognose zu erwägen, ob auch unter den veränderten Umständen mit einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades weitere Gewalthandlungen der Angeklagten gegen dieselben oder andere Personen zu erwarten sind. Bei der Prognoseentscheidung ist schließlich zu berücksichtigen, dass trotz länger andauernder Erkrankung der Angeklagten vor und nach der Anlasstat von ihr keine rechtswidrigen Taten begangen wurden.

3. Der neue Tatrichter wird § 63 Satz 1 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Novellierung des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 des Strafgesetzbuches und zur Änderung anderer Vorschriften vom 28. April 2016, das am 1. August 2016 in Kraft getreten ist (BGBl. 2016 I, S. 1610 ff.; vgl. Regierungsentwurf dazu in BT-Drucks. 18/7244; s.a. Peglau NJW 2016, 2298 ff.), zu prüfen haben (§ 2 Abs. 6 StGB). Er hat sich gegebenenfalls auch mit der bisher nicht erörterten Frage zu befassen, ob insbesondere nach Sicherstellung einer ausreichenden Medikation der Angeklagten und ihrer sonstigen Versorgung eine Aussetzung der Maßregelvollstreckung zur Bewährung gemäß § 67b Abs. 2 Satz 1 StGB in Frage kommt.

HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 956

Externe Fundstellen: StV 2017, 591

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede