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HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 107

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 376/15, Urteil v. 26.10.2016, HRRS 2017 Nr. 107


BGH 2 StR 376/15 - Urteil vom 26. Oktober 2016 (LG Aachen)

Anwendbarkeit von Jugendstrafrecht (Gesamtwürdigung; Berücksichtigung der sozialen Lebensbedingungen).

§ 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG

Leitsätze des Bearbeiters

1. Für die Frage, ob der heranwachsende Täter zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand, kommt es maßgebend darauf an, ob er sich noch in einer für Jugendliche typischen Entwicklungsphase befand und in ihm noch Entwicklungskräfte in größerem Umfang wirksam waren.

2. Dies ist aufgrund einer Gesamtwürdigung seiner Persönlichkeit unter Berücksichtigung der sozialen Lebensbedingungen zu beurteilen. Dem Tatrichter steht insoweit ein erheblicher Beurteilungsspielraum zu. Seine Bewertungen müssen allerdings mit Tatsachen unterlegt und nachvollziehbar sein; sie dürfen keine wesentlichen Gesichtspunkte außer Betracht lassen.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 26. Februar 2015 im Strafausspruch mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen unter Einbeziehung einer Jugendstrafe aus einer anderen Entscheidung zu einer Einheitsjugendstrafe von vier Jahren verurteilt und eine Verfallsentscheidung getroffen. Die auf den Strafausspruch beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.

1. Das Landgericht hat hinsichtlich des Angeklagten folgende Feststellungen getroffen.

Spätestens im Jahr 2012 kamen der Angeklagte P. sowie die Mitangeklagten Q. und D., zusammen mit weiteren, gesondert verfolgten Mittätern überein, größere Mengen Kokain zu erwerben, um diese in K. gewinnbringend zu veräußern. Etwa im Juni 2013 fassten die Beteiligten, denen sich zwischenzeitlich weitere Personen angeschlossen hatten, den Entschluss, nunmehr auch Marihuana in größerem Umfang zu erwerben und es unter Nutzung der - zum Kokainvertrieb aufgebauten - Logistik der Gruppierung gewinnbringend abzusetzen. Dabei beteiligte der Angeklagte sich an fünf Betäubungsmittelgeschäften, wobei die Strafkammer - nachdem einer der Fälle bereits durch eine einbezogene Entscheidung anderweitig abgeurteilt worden war und sie hinsichtlich eines weiteren Falles die Strafverfolgung beschränkt bzw. das Verfahren insoweit vorläufig eingestellt hatte - folgende drei Fälle ihrer Verurteilung zugrunde legte:

a) Mitte April 2013 lagerten in einer von Q. zu diesem Zweck angemieteten Depotwohnung mindestens 808 Gramm Kokain, das in einer Menge von mindestens 533,29 Gramm von Q. mit Wissen und Wollen des Angeklagten und weiterer zwei Beteiligter zuvor in B. oder den N. erworben worden war. Das Kokain wurde gestreckt und in der Zeit von Mitte April 2013 bis Ende Juli 2013 im Straßenverkauf in Kleinverkaufsmengen oder auf Bestellung auch in größeren Mengen auch vom Angeklagten gewinnbringend weiterveräußert.

b) Ab Anfang September 2013 lagerten in der genannten Wohnung mindestens zuvor in B. oder in den N. erworbene 591,79 Gramm Kokain. 221 Gramm der Betäubungsmittel wurden in der Folgezeit im Straßenverkauf auch vom Angeklagten weiterverkauft, der Rest wurde bei der Durchsuchung der Wohnung Mitte Oktober 2013 sichergestellt.

c) Im Juni 2013 beschafften sich der Angeklagte P., Q. sowie weitere Beteiligte 8 Kilogramm Marihuana zum gewinnbringenden Weiterverkauf. Knapp sieben Kilogramm dieser in der Depotwohnung gelagerten Betäubungsmittel konnten dort Mitte Oktober 2013 sichergestellt werden.

Das Landgericht hat hinsichtlich des zur Tatzeit 19 bzw. 20 Jahre alten Angeklagten entsprechend der Stellungnahme der Vertreterin der Jugendgerichtshilfe festgestellt, dass er nach seiner geistigen und sittlichen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstehe, und hat deshalb Jugendstrafrecht zur Anwendung gebracht. Es ist vom Vorliegen erheblicher schädlicher Neigungen ausgegangen und hat - unter Einbeziehung einer zuvor ergangenen Entscheidung zu Jugendstrafe von einem Jahr und acht Monaten - eine zur Erziehung erforderliche Einheitsjugendstrafe von vier Jahren verhängt.

2. a) Die Revision der Staatsanwaltschaft ist trotz des Antrags auf Aufhebung des gesamten Rechtsfolgenausspruchs ausweislich ihrer Begründung auf den Strafausspruch beschränkt. Diese Beschränkung ist wirksam.

b) Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.

Die Erwägungen, aufgrund derer das Landgericht hinsichtlich des im Tatzeitraum zwischen 19 und 20 Jahre alten Angeklagten gemäß § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG zur Anwendung gebracht hat, halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

Es begegnet zwar noch keinen durchgreifenden Bedenken, dass die Strafkammer den Inhalt der Stellungnahme der Jugendgerichtshilfe, der sie im Ergebnis gefolgt ist, nicht im Einzelnen mitgeteilt hat. Denn sie führt für ihre Entscheidung eigenständig Gründe an, die allerdings nicht frei von Rechtsfehlern sind.

Für die Frage, ob der heranwachsende Täter zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand, kommt es maßgebend darauf an, ob er sich noch in einer für Jugendliche typischen Entwicklungsphase befand und in ihm noch Entwicklungskräfte in größerem Umfang wirksam waren (st. Rspr.; vgl. BGH, NStZ-RR 2011, 218; NStZ 2013, 289; NStZ 2015, 230). Dies ist aufgrund einer Gesamtwürdigung seiner Persönlichkeit unter Berücksichtigung der sozialen Lebensbedingungen zu beurteilen. Dem Tatrichter steht insoweit ein erheblicher Beurteilungsspielraum zu. Seine Bewertungen müssen allerdings mit Tatsachen unterlegt und nachvollziehbar sein; sie dürfen keine wesentlichen Gesichtspunkte außer Betracht lassen (vgl. BGH, NStZ-RR 2011, 218 f.).

Diesen Anforderungen wird das angegriffene Urteil nicht in jeder Hinsicht gerecht.

Es fehlt an einer umfassenden Würdigung aller wesentlichen Gesichtspunkte. Das Verhältnis des Angeklagten zu seinen in A. lebenden Eltern wird nicht erörtert. Nicht ausreichend in den Blick genommen werden auch die durchaus erfolgreichen Bemühungen des Angeklagten zu seiner schulischen und beruflichen Ausbildung. Der schlagwortartige Hinweis auf das Fehlen einer Ausbildung oder eines abgeschlossenen Studiums greift mit Blick auf den Schulabschluss des zum Verurteilungszeitpunkt 21-jährigen Angeklagten und die Aufnahme eines Fernstudiums zu kurz. Auch fehlt es an einer hinreichenden Auseinandersetzung mit dem Umstand, dass der Angeklagte eine nicht unbedeutende Rolle bei den Drogengeschäften gespielt hat. Denn auch daraus lassen sich Rückschlüsse ziehen, ob und inwieweit sich der Angeklagte hin zu einer eigenen Persönlichkeit entwickelt hat. Der insoweit mitgeteilten Erwägung des Landgerichts, der Angeklagte habe nicht ausschließbar Q., seinem Onkel, der für ihn die Rolle einer Führungsfigur eingenommen habe, „ähnlich wie ein Sohn seinem Vater sein Können beweisen“ wollen, fehlt es an einer Tatsachengrundlage. Sie findet weder in den Feststellungen noch in den Einlassungen des Angeklagten und der Mitangeklagten eine Stütze. Dies gilt im Übrigen auch, soweit die Strafkammer angenommen hat, der Angeklagte habe bei seiner Lebensführung wie auch bei Begehung seiner Taten unter dem Eindruck des Lebenswandels und unter der Führung seiner beiden an den Taten beteiligten Onkel gestanden. Hinweise darauf, dass er in seiner Lebensführung jenseits der Tatbegehung von diesen beeinflusst und gelenkt sein könnte, ergeben sich aus den Feststellungen nicht.

Die Sache bedarf deshalb insoweit, ohne dass es noch auf die Einwendungen gegen die Höhe der verhängten Jugendstrafe ankäme, neuer Verhandlung und Entscheidung. Der Senat kann nicht ausschließen, dass eine umfangreiche Würdigung aller wesentlichen Gesichtspunkte zu einer Nichtanwendung von Jugendstrafrecht und damit zu einem anderen Strafausspruch geführt hätte.

HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 107

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner