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HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 1083

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 431/14, Urteil v. 16.09.2015, HRRS 2015 Nr. 1083


BGH 2 StR 431/14 - Urteil vom 16. September 2015 (LG Fulda)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (Anforderungen an die Darstellung in einem freisprechenden Urteil; Umgang mit Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen).

§ 261 StPO; § 267 Abs. 5 StPO

Entscheidungstenor

1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin wird das Urteil des Landgerichts Fulda vom 9. Oktober 2013 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, freigesprochen. Hiergegen richten sich die auf die Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin. Die Rechtsmittel haben Erfolg.

I.

1. Dem Angeklagten wird vorgeworfen, die am 17. April 1993 geborene Nebenklägerin F. M., die Tochter seiner damaligen Lebensgefährtin, im Sommer des Jahres 2002 in der gemeinsam mit der Nebenklägerin, deren jüngerer Halbschwester, ihrer Mutter sowie der Zeugin F. bewohnten Wohnung entkleidet zu haben und mit den Fingern in ihre Scheide eingedrungen zu sein; anschließend sei er mit seinem erigierten Glied in die Scheide der Nebenklägerin eingedrungen und habe Beischlafbewegungen vollzogen. Der Samenerguss sei nach dem Geschlechtsverkehr in ein Papiertaschentuch erfolgt. Bis kurz nach dem 13. Geburtstag der Nebenklägerin im Jahr 2006 hätten sich mindestens 19 weitere vergleichbare Taten ereignet, wobei der Angeklagte im dritten Fall nicht den Vaginal-, sondern den Analverkehr mit der Nebenklägerin ausgeübt habe.

2. Das Landgericht hat die Anklagevorwürfe 2 und 4 bis 18 gemäß § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt; im Übrigen hat es den die Tat bestreitenden Angeklagten in Anwendung des Zweifelssatzes aus tatsächlichen Gründen freigesprochen, weil es sich nicht von der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin zu überzeugen vermochte.

Es hat im Wesentlichen festgestellt, der Angeklagte habe nach dem Geschlechtsverkehr mit der Mutter der Nebenklägerin regelmäßig in ein Papiertaschentuch ejakuliert. Nachdem sich die Mutter der Nebenklägerin im Jahr 2000 einer Unterleibsoperation hatte unterziehen müssen, war es zu keinem Geschlechtsverkehr mehr zwischen ihr und dem Angeklagten gekommen; dieser hatte in der Folgezeit wechselnde Sexualpartnerinnen sowie einen einmaligen sexuellen Kontakt zur Zeugin F. Am 4. November 2009 trennten sich der Angeklagte und die Mutter der Nebenklägerin aufgrund vorangegangener Auseinandersetzungen. An diesem Tag verließ der Angeklagte die gemeinsame Wohnung und fuhr mit dem Auto in Richtung Mü. Als die Halbschwester der Nebenklägerin bemerkte, dass diese - anders als sie selbst - wegen der Trennung nicht weinte, machte sie ihr Vorwürfe. Die Nebenklägerin entgegnete, dass diese nicht wisse, was passiert sei und sie den Angeklagten hasse. Ihrer Mutter teilte sie kurz darauf mit, dass sie „keine Jungfrau mehr sei“ und „dies der Angeklagte gewesen sei“. Der Angeklagte, von der Mutter der Nebenklägerin telefonisch mit dem Vorwurf konfrontiert, kehrte umgehend in die gemeinsame Wohnung zurück. Dort zeigte er sich im Beisein der Nebenklägerin von den Vorwürfen „erschüttert“ und bot der Familie Geld an, damit man die gegen ihn erhobenen Vorwürfe fallen lasse. Im weiteren Verlauf kniete sich der Angeklagte vor die Zeugin K. M. bzw. schlug mit dem Kopf gegen den Türrahmen und äußerte dabei sinngemäß: „Ich weiß nicht, wie das passieren konnte“.

II.

Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin, die sich mit der Sachrüge jeweils gegen die Beweiswürdigung richten, sind begründet.

Spricht der Tatrichter einen Angeklagten frei, weil er Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters, dem es obliegt, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Der revisionsgerichtlichen Überprüfung unterliegt nur, ob dem Tatrichter bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. Senatsurteil vom 29. April 2015 - 2 StR 14/15). In einem Fall, in dem - wie hier - Aussage gegen Aussage steht, müssen die Urteilsgründe zudem erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten zu beeinflussen geeignet sind, erkannt, in seine Überlegungen einbezogen und in einer Gesamtschau gewürdigt hat (st. Rspr.; vgl. nur Senatsbeschluss vom 29. April 2015 - 2 StR 398/14, NStZ-RR 2015, 286, 287).

Gemessen an diesen Grundsätzen hält die Beweiswürdigung des Landgerichts revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand.

Den Urteilsgründen lässt sich ein Motiv für eine Falschbelastung, aus dem sich durchgreifende Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin ergeben könnten (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 1999 - 1 StR 618/98, BGHSt 45, 164, 175), nicht entnehmen. Das Landgericht hat zwar ausgeführt, die Nebenklägerin habe versucht, im Vorfeld und im Laufe des Strafverfahrens „ihre den Angeklagten belastenden Aussagen durch das Liefern bestimmter, jedoch nicht der Wahrheit entsprechender bzw. im Hinblick auf ihren Wahrheitsgehalt zweifelhafter Details als glaubhafter erscheinen zu lassen“ (UA S. 48). Dies erklärt jedoch nicht, warum die Nebenklägerin den Angeklagten am 4. November 2009 in einer Spontanreaktion gegenüber ihrer Mutter zu Unrecht des schweren sexuellen Missbrauchs beschuldigt haben sollte. Dazu, ob und aus welchem Grund die Nebenklägerin bereits zu diesem Zeitpunkt ein Motiv für eine Falschbelastung des Angeklagten gehabt haben könnte, verhalten sich die Urteilsgründe nicht.

Darüber hinaus ist die Beweiswürdigung auch deshalb lückenhaft, weil das Landgericht das Verhalten des Angeklagten am 4. November 2009 nach dessen Rückkehr in die Wohnung unzureichend gewürdigt hat. Die Annahme des Landgerichts, aus dessen Verhalten lasse sich nicht mit der erforderlichen Sicherheit ableiten, dass der Angeklagte „die ihm zur Last gelegten Taten eingeräumt bzw. gestanden haben könnte“, da es auch möglich sei, dass der Angeklagte „letztlich zu allen Mitteln gegriffen haben könnte, um die gegen ihn erhobenen - tatsächlich aber nicht der Wahrheit entsprechenden - Vorwürfe abzuwehren bzw. im Keim zu ersticken“ (UA S. 52 f.), unterstellt eine entsprechende Verhaltensmotivation lediglich, ohne sie zu belegen. Dem Angeklagten günstige Umstände dürfen aber nur zugrunde gelegt werden, wenn hierfür reale Anknüpfungspunkte vorliegen (vgl. BGH, Urteil vom 11. April 2002 - 4 StR 585/01, NStZ-RR 2002, 243; Senatsurteil vom 20. Mai 2009 - 2 StR 576/08, NStZ 2009, 630, 631). Es erschließt sich indes nicht, dass die Äußerung des Angeklagten, er wisse nicht, „wie das passieren konnte“, geeignet war, die gegen ihn erhobenen Vorwürfe abzuwehren. Anhaltspunkte dafür, dass diese spontan und unmittelbar nach der Konfrontation mit den Vorwürfen erfolgte Äußerung nicht als Eingeständnis der Tatbegehung zu verstehen war, sondern möglicherweise nur als Reaktion auf eine Falschbelastung durch die Nebenklägerin, zeigen die Urteilsgründe nicht auf. Eine solche Erklärung liegt angesichts des Zusammenhangs, in dem die Äußerung des Angeklagten erfolgt war, und mit Blick auf das nach der Rückkehr gezeigte Verhalten des Angeklagten auch nicht ohne Weiteres nahe. Insoweit wäre es erforderlich gewesen, in den Urteilsgründen detailliert darzulegen, welche Angaben die Nebenklägerin, deren Halbschwester und ihre Mutter zu dem Verhalten des Angeklagten nach dessen Rückkehr gemacht haben.

Schließlich ist die Erwägung des Landgerichts, aus dem Verhalten des Angeklagten könnten selbst dann „keinerlei Rückschlüsse auf Anzahl, Zeitpunkt, Modalität [und] Intensität etwaiger Vorfälle“ gezogen werden, „wenn man davon ausginge, dass es tatsächlich im Vorfeld des 4. November 2009 zu sexuellen Übergriffen [...] zum Nachteil der [Nebenklägerin] gekommen“ wäre (UA S. 53), nicht tragfähig. Sofern das Verhalten des Angeklagten und dessen Äußerungen am 4. November 2009 als grundsätzliches Eingeständnis der Tatbegehung zu werten wäre, ist es für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin ohne Bedeutung, dass der Angeklagte die Taten nicht näher konkretisiert hat.

Das Urteil beruht auch auf den vorgenannten Beweiswürdigungsmängeln; der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht bei einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung die Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten gewonnen hätte.

HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 1083

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede