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HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 403

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 259/14, Urteil v. 07.01.2015, HRRS 2015 Nr. 403


BGH 2 StR 259/14 - Urteil vom 7. Januar 2015 (LG Bonn)

Strafzumessung (Berücksichtigung von nicht abgeurteilten Straftaten).

§ 46 Abs. 1, Abs. 2 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Zwar ist es zulässig, bei der Strafzumessung zu berücksichtigen, dass der Angeklagte weitere nicht abgeurteilte Straftaten begangen hat. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die weiteren Taten prozessordnungsgemäß festgestellt sind. Das Abstellen auf einen bloßen Verdacht ist unzulässig. Die Taten müssen so konkret festgestellt sein, dass sie in ihrem wesentlichen Unwertgehalt abzuschätzen sind (vgl. BGH NJW 2014, 2514, 2516).

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Bonn vom 7. März 2014 zugunsten des Angeklagten im Strafausspruch zu den Einzelstrafen in den Fällen 1 und 2 der Urteilsgründe und im Gesamtstrafenausspruch aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in drei Fällen und sexuellen Missbrauch eines Kindes zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf die Sachrüge gestützte und auf den Ausspruch über die Gesamtstrafe beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft, die zuungunsten des Angeklagten eingelegt ist. Das Rechtsmittel führt gemäß § 301 StPO nur in dem aus der Urteilsformel ersichtlichen Umfang zur Aufhebung des Strafausspruchs zugunsten des Angeklagten.

I.

Nach den Feststellungen des Landgerichts missbrauchte der damals 18jährige Angeklagte die zehnjährige Nebenklägerin P. Ende 2000 oder Anfang 2001 dadurch, dass er an ihrer Scheide manipulierte (Fall 1). Im Oktober 2002 streichelte er in einer Sauna die Scheide dieser Geschädigten und drang mit dem Finger ein (Fall 2).

Weitere Taten zum Nachteil dieser Nebenklägerin waren auch aufgrund des Geständnisses des Angeklagten und der Vernehmung von Zeugen nicht konkret feststellbar; insoweit stellte das Landgericht das Verfahren gemäß § 154 Abs. 2 StPO vorläufig ein.

Am 22. Juni 2013 missbrauchte der Angeklagte bei zwei Gelegenheiten den sechsjährigen H. dadurch, dass er zuerst im Schlafzimmer seiner Wohnung mit diesem wechselseitig den Oralverkehr ausübte (Fall 3). Wenig später am gleichen Tag fuhr der Angeklagte mit dem Kind in den Wald, wo es erneut zu Oralverkehr kam und der Angeklagte sexuelle Handlungen und ein Posieren des nackten Kindes fotografierte (Fall 4).

II.

1. Die Revision der Staatsanwaltschaft ist auf den Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe beschränkt. Die Beschränkung ist jedoch unwirksam, soweit sie die Entscheidung über die Einzelstrafen zu den Fällen 1 und 2 betrifft. Die Beanstandung der diesbezüglichen Strafzumessung durch die Staatsanwaltschaft, weil das Landgericht weitere Taten, von deren Verfolgung nach § 154 Abs. 2 StPO abgesehen wurde, nicht berücksichtigt habe, betrifft sowohl die Begründung dieser Einzelstrafen als auch die hierauf Bezug nehmende Begründung der Gesamtstrafe.

2. Die zuungunsten des Angeklagten eingelegte Revision führt in dem aus der Urteilsformel ersichtlichen Umfang zur Aufhebung des Strafausspruchs zu seinen Gunsten (§ 301 StPO).

Die Rüge, das Landgericht habe die von der Verfahrensbeschränkung gemäß § 154 Abs. 2 StPO betroffenen Taten zum Nachteil der Nebenklägerin P. nicht berücksichtigt, deckt keinen Rechtsfehler zum Vorteil des Angeklagten auf. Tatsächlich hat das Landgericht zu seinen Lasten berücksichtigt, dass "die konkret festgestellten Taten nur ein Ausschnitt einer Tatserie sind". Diese Wertung enthält jedoch einen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten.

Zwar ist es zulässig, bei der Strafzumessung zu berücksichtigen, dass der Angeklagte weitere nicht abgeurteilte Straftaten begangen hat. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die weiteren Taten prozessordnungsgemäß festgestellt sind. Das Abstellen auf einen bloßen Verdacht ist unzulässig (vgl. BGH, Beschluss vom 12. September 2012 - 5 StR 425/12, NStZ-RR 2012, 368). Die Taten müssen so konkret festgestellt sein, dass sie in ihrem wesentlichen Unwertgehalt abzuschätzen sind (Senat, Urteil vom 5. Juni 2014 - 2 StR 381/13, NJW 2014, 2514, 2516).

Nach den getroffenen Feststellungen bleibt offen, welche und wie viele Straftaten der Angeklagte - über die abgeurteilten Taten im gleichen Zeitraum hinaus - innerhalb von sechs Jahren nach dem Jahreswechsel von 2000 zu 2001 zum Nachteil der Nebenklägerin P. begangen hat. Das Landgericht hat ausgeführt, dass es in diesem Zeitraum "mehrfach zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten" gekommen sei. Wann dies der Fall war, konnte die Jugendkammer nicht feststellen. Nähere Einzelheiten des jeweiligen Geschehensablaufs vermochte sie nicht zu klären. Die Ausführungen genügen daher nicht dem Erfordernis ausreichend bestimmter Feststellungen zu solchen Taten, die trotz Verfahrensbeschränkung gemäß § 154 Abs. 2 StPO strafschärfend berücksichtigt werden können (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Oktober 2003 - 4 StR 359/03).

3. Im Übrigen ist die zuungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft unbegründet.

a) Die Staatsanwaltschaft beanstandet, dass bei den Taten zum Nachteil des Geschädigten H. (Fälle 3 und 4) deren enger zeitlicher Zusammenhang strafmildernd berücksichtigt wurde. Gegen die Bewertung des Landgerichts ist jedoch rechtlich nichts zu erinnern. Die Taten in den Fällen 3 und 4 wurden tatsächlich am gleichen Tag begangen, wobei die Tat im Fall 4 "wenig später" erfolgte als die Tat im Fall 3. Die Handlungen weisen danach einen engen zeitlichen Zusammenhang auf. Eine rechtlich fehlerhafte Bewertung dieser Tatsache liegt auch nicht vor.

b) Entgegen der Ansicht der Revision ist nicht zu besorgen, dass die Jugendkammer die Fotoaufnahmen von den sexuellen Handlungen im Fall 4 bei der Bemessung der Gesamtstrafe übersehen hat. Zwar hat sie diesen Aspekt bei der Strafbemessung nicht besonders erwähnt, jedoch war dies nicht erforderlich. Dabei handelte es sich nicht um einen bestimmenden Strafzumessungsaspekt im Sinne von § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO. Die Jugendkammer konnte nicht feststellen, wozu der Angeklagte die Fotos anfertigte, die er später auch wieder gelöscht hat.

c) Die Annahme des Landgerichts, bei der Gesamtstrafenbildung sei eine zeitliche Zäsur von über zehn Jahren zwischen den Taten in den Fällen 1 und 2 einerseits und den Fällen 3 und 4 andererseits zu berücksichtigen, ist ebenfalls nicht rechtsfehlerhaft. Die abgeurteilten Taten wiesen einen solchen zeitlichen Abstand auf.

Die Annahme, dass in der Zwischenzeit weitere Taten, die von der Verfahrensbeschränkung gemäß § 154 Abs. 2 StPO erfasst sind, die Zeitspanne straflosen Verhaltens des Angeklagten verkürzen, wird nicht durch die Feststellungen belegt. Mögliche weitere Taten zum Nachteil der Nebenklägerin P. sind nämlich, wie bereits oben ausgeführt wurde, nicht so bestimmt festgestellt worden, dass sie bei der Strafzumessungsentscheidung zum Nachteil des Angeklagten bewertet werden könnten.

HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 403

Externe Fundstellen: NStZ 2015, 450

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel