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HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 627

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 54/13, Beschluss v. 04.06.2013, HRRS 2013 Nr. 627


BGH 2 StR 54/13 - Beschluss vom 4. Juni 2013 (LG Mainz)

Besonders schwerer sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen; Mittäterschaft (Exzess des Mittäters).

§ 179 Abs. 7 StGB; § 177 Abs. 4 Nr. 2 StGB; § 25 Abs. 2 StGB

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Mainz vom 14. September 2012, soweit es ihn betrifft, aufgehoben, die zugehörigen Feststellungen jedoch nur insoweit, als sie den Vorsatz des Angeklagten hinsichtlich der bei den sexuellen Missbrauchshandlungen ausgeübten Gewalt betreffen; im Übrigen bleiben die Feststellungen aufrechterhalten.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schweren sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person in Tateinheit mit Aussetzung zu einer Jugendstrafe von acht Jahren verurteilt. Seine dagegen gerichtete Revision, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt, hat mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet.

1. Nach den Feststellungen waren der Angeklagte und die beiden mit ihm befreundeten Mitangeklagten Y. und Z. mit dem späteren Tatopfer, der Nebenklägerin Martina A., bekannt, mit der sie gelegentlich gemeinsame Freizeitaktivitäten unternahmen. Die zur Tatzeit 16-jährige Nebenklägerin hat - wie der Angeklagte und die beiden Mitangeklagten - einen Migrationshintergrund, machte sich aber bezüglich ihres geschlechtsspezifischen Rollenverständnisses westliche Wertvorstellungen zu eigen. Sie kleidete und schminkte sich nach ihren eigenen Vorstellungen, ging bisweilen auch abends alleine aus und hatte bereits zwei sexuelle Beziehungen. Hierdurch disqualifizierte sich die Nebenklägerin nach dem Welt- und Frauenbild, das sich der Angeklagte und die beiden Mitangeklagten übereinstimmend zurecht gelegt hatten, als zu verachtende "Schlampe, die es mit jedem und gerne auch mit mehreren Männern gleichzeitig treibe".

Am Tattag, dem 15. Februar 2012, versuchte der Mitangeklagte Y. vormittags zunächst vergeblich, sich mit der Nebenklägerin zu einem Treffen zu verabreden, das nach seiner Vorstellung in die Ausübung von Geschlechtsverkehr münden sollte. Y. forderte nunmehr den Angeklagten auf, sich gemeinsam mit ihm und dem Mitangeklagten Z. zu treffen und die Nebenklägerin zu einer Zusammenkunft zu überreden. Der Angeklagte erklärte sich hierzu bereit. Der Angeklagte und die beiden Mitangeklagten kamen überein, dass ein gemeinsames Treffen im weiteren Verlauf zu sexuellen Handlungen mit der Nebenklägerin ausgenutzt werden sollte, ohne dass zunächst konkrete Vorstellungen über Art, Umfang und Hergang solcher Handlungen entwickelt wurden. Der Angeklagte verabredete daraufhin mit der Nebenklägerin unter einem unzutreffenden Vorwand eine Zusammenkunft für den Abend. Nach ihrem Zusammentreffen begaben sich der Angeklagte und die beiden Mitangeklagten mit der Nebenklägerin zunächst in eine Bar, wo der Angeklagte und der Mitangeklagte Y. ihren Tatplan konkretisierten. Sie wollten sich mit der Nebenklägerin in eine von ihnen gemeinsam schon häufiger als Aufenthaltsort genutzte Tiefgarage begeben und dort sexuelle Handlungen an der Nebenklägerin vornehmen, die dabei von ihnen gleichzeitig vaginal und anal penetriert werden sollte. Der in ihre Absichten eingeweihte Mitangeklagte Z. billigte zwar das Vorhaben, wollte selbst aber keine sexuellen Handlungen vornehmen.

Ihrem Tatentschluss entsprechend begaben sich der Angeklagte und die beiden Mitangeklagten mit der Nebenklägerin in ein Treppenhaus der zu diesem Zeitpunkt menschenleeren Tiefgarage. Ihnen war bewusst, dass die Nebenklägerin entgegen der von ihnen zur Rechtfertigung ihres Tuns vorgenommenen Charakterisierung als "Schlampe" niemals in die Vornahme sexueller Handlung einwilligen würde. Sie beabsichtigten daher, der Nebenklägerin in großen Mengen Alkohol zu trinken zu geben und sie dadurch für sexuelle Handlungen gefügig zu machen. Hierzu hatten sie sich mit zwei 0,7 l Wodka-Flaschen und anderen Getränken versorgt. Während der Angeklagte und der Mitangeklagte Y. unter einem Vorwand die Tiefgarage nochmals verließen, um u.a. Kondome zu erwerben, begannen der Mitangeklagte Z. und die Nebenklägerin bereits mit dem Alkoholkonsum. Nach ihrer Rückkehr animierten der Angeklagte und der Mitangeklagte Y. unter Mithilfe des Mitangeklagten Z. die Nebenklägerin, innerhalb kurzer Zeit so viel Alkohol zu sich zu nehmen, dass sie alsbald kaum noch ansprechbar war und nur noch mit Lautäußerungen reagierte. Obgleich sie in ihrer Bewegungsfähigkeit schon stark eingeschränkt war, wehrte sie einen Versuch des Mitangeklagten Y., den Gürtel ihrer Hose zu öffnen noch ab, bevor sie aufgrund des Alkoholrausches in vollständige Bewusstlosigkeit fiel. Nunmehr schleppten der Angeklagte und der Mitangeklagte Y. die Nebenklägerin auf ein Podest innerhalb des Treppenhauses. Sie entkleideten die Bewusstlose und sich selbst und streiften sich Kondome über. Der Mitangeklagte Y. hob die Nebenklägerin an und legte sie auf dem mit seinem Oberkörper an eine Wand gelehnten Angeklagten ab, der vaginal in sie eindrang und etwa vier Minuten lang den Geschlechtsverkehr ausübte. Währenddessen trat der Mitangeklagte Y. hinter die bewusstlose Nebenklägerin und befingerte zunächst deren Anus, in den er sodann gewaltsam eindrang. Dabei stieß er mindestens zweimal seine geballte Faust unter massiver Kraftanstrengung in ihren Anus und/oder er drang mit den Fingern beider Hände ein und riss beide Hände unter massiver Kraftanstrengung auseinander. Die von ihm dabei aufgewandte Kraft war so hoch, dass im Unterleib der Nebenklägerin das gesamte Binde- und Muskelgewebe zwischen Vagina und Rektum unter Einschluss des Schließmuskels bis in eine Tiefe von 10 cm zerriss und eine heftig blutende konkret lebensgefährliche Wundhöhle entstand. Der Angeklagte und der Mitangeklagte Y. ließen erst von der Nebenklägerin ab, als sich um sie herum eine Blutlache gebildet und der Mitangeklagte Z., der während der Tatausführung am Fuß der Treppe beim Lichtschalter geblieben war, auf Aufforderung des Angeklagten das Treppenhauslicht wieder eingeschaltet hatte.

Nachdem sich der Angeklagte und der Mitangeklagte Y. zunächst wechselseitig beschuldigt hatten, wer für den übereinstimmend als lebensgefährlich eingeschätzten Zustand der Nebenklägerin verantwortlich sei, fassten sie gemeinsam mit dem Mitangeklagten Z. den Entschluss, die weiterhin heftig blutende und nackte Nebenklägerin im Treppenhaus der ungeheizten Tiefgarage zurückzulassen. Ihnen war dabei bewusst, dass die Nebenklägerin aufgrund ihrer Bewusstlosigkeit nicht in der Lage war, sich selbst zu helfen und sich keine zur Hilfe bereiten Dritten in der Nähe befanden, so dass sie ohne Hilfe alsbald am Tatort verbluten oder erfrieren würde. Nach dem Verlassen der Tiefgarage, in der die Temperatur zur Tatzeit und in den folgenden Stunden 6° C nicht überschritt, diskutierten der Angeklagte und die beiden Mitangeklagten ein Untertauchen und sie entschlossen sich, zunächst zur Wohnung des Angeklagten zu fahren. Auf dem Weg dorthin schaute der Angeklagte gegen 21.40 Uhr nochmals am Tatort nach der weiterhin regungslos in ihrer Blutlache liegenden Nebenklägerin. Er schätzte die Wahrscheinlichkeit, dass sie noch lebte, auf 50/50 ein und entnahm aus ihrer herumliegenden Kleidung ihr Handy, weil er befürchtete, dass dort gespeicherte Nummern oder Anrufprotokolle die Polizei auf seine Spur oder die der Mitangeklagten führen könnte. Nach weiterem längeren Beratschlagen der Tatfolgen und ihres geplanten Untertauchens kamen der Angeklagte und die beiden Mitangeklagten schließlich überein, doch noch Rettungskräfte darüber zu informieren, wo die schwerverletzte Nebenklägerin aufzufinden sei. Als nach dem um 23.34 Uhr erfolgten Notruf wenige Minuten später Rettungskräfte die Nebenklägerin fanden, befand sie sich wegen lebensbedrohlichen Blutverlusts und lebensbedrohlicher Unterkühlung in akuter Lebensgefahr und wäre innerhalb kürzester Zeit ohne ärztliche Notmaßnahmen gestorben.

2. Die Verurteilung des Angeklagten wegen besonders schweren sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person gemäß § 179 Abs. 7 i.V.m. § 177 Abs. 4 Nr. 2 StGB hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.

Die Jugendkammer hat dem Angeklagten die Gewalthandlungen des Mitangeklagten Y. über § 25 Abs. 2 StGB zugerechnet und deshalb auch bei ihm den (besonderen) Qualifikationstatbestand des § 179 Abs. 7 i.V.m. § 177 Abs. 4 Nr. 2 Buchst. a) und b) StGB als erfüllt angesehen. Sie hat insoweit festgestellt, dass dem sexuell erfahrenen Angeklagten die "weit über gewöhnliche Penetrationen mit Fingern oder Glied hinausgehenden Gewalthandlungen" des Mitangeklagten Y. trotz eines vorübergehenden Verlöschens des Treppenhauslichts nicht verborgen geblieben seien, zumal aufgrund der von Y. aufgewandten Energie der Angeklagte und die Nebenklägerin mit ihren Köpfen gegen die Treppenhauswand geschleudert worden seien. Im Rahmen des gemeinschaftlichen Vorsatzes, die widerstandsunfähige und als verachtenswertes Sexualobjekt angesehene Nebenklägerin gleichzeitig vaginal und anal zu penetrieren, seien dem Angeklagten die einzelnen Handlungsweisen des Mitangeklagten Y. allerdings vollständig gleichgültig gewesen. Der Angeklagte habe die Gewalthandlungen mithin gebilligt (UA S. 22, 68).

Diese Feststellung eines hinsichtlich der Gewaltausübung bedingten Vorsatzes des Angeklagten entbehrt einer sie tragenden Beweiswürdigung. Das Landgericht lässt bei seiner Beweiswürdigung schon außer Acht, dass der Angeklagte nach dem Tatplan und der Tatvorbereitung (gemeinsames Besorgen und Überstreifen der Kondome), die eine Penetration der Nebenklägerin mit dem Glied erwarten ließ, mit solchen Gewalthandlungen des Mittäters Y. nicht hätte rechnen müssen. Soweit sich den Urteilsgründen entnehmen lässt, dass das Landgericht auf eine Billigung der Gewalthandlungen des Mittäters Y. durch den Angeklagten daraus schließt, dass sie ihm nicht hätten verborgen bleiben können, ist dies zur Begründung eines hierdurch sukzessiv erweiterten gemeinsamen Vorsatzes nicht geeignet. Denn es ist nach den Feststellungen nicht ersichtlich, dass der Angeklagte zum Zeitpunkt der Wahrnehmung der - mittelbar auch für ihn schmerzhaften - Gewalt seines Mittäters (auch sein eigener Kopf schlug gegen die Wand) von der exzessiv erweiterten Art der Tatausführung noch hätte Abstand nehmen können. Keine Erwähnung findet in der Beweiswürdigung des Landgerichts auch der Umstand, dass der Angeklagte dem Mitangeklagten Y. nach Beendigung der Missbrauchshandlungen vorwarf, für die lebensgefährliche Verletzung der Nebenklägerin verantwortlich zu sein. Dies spricht indiziell gegen eine völlige Gleichgültigkeit des Angeklagten in Bezug auf die massive Gewaltanwendung durch Y. und gegen deren Billigung.

3. Die Aufhebung des Schuldspruchs wegen besonders schweren sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person lässt auch die von dem aufgezeigten Rechtsfehler nicht betroffene Verurteilung wegen tateinheitlich begangener Aussetzung gemäß § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB entfallen.

Das neue Tatgericht wird dazu, ob die bei den sexuellen Missbrauchshandlungen ausgeübte Gewalt und insbesondere die massiven Gewaltakte des Mitangeklagten Y. vom (bedingten) Vorsatz des Angeklagten getragen waren, neue Feststellungen zu treffen haben. Die Feststellungen des Landgerichts zur objektiven und zur übrigen subjektiven Tatseite des schweren sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person sind ebenso rechtsfehlerfrei wie die Feststellungen zur Aussetzung und können deshalb bestehen bleiben.

In der neuen Hauptverhandlung wird auch zu bedenken sein, ob der vom Angeklagten gemeinsam mit dem Mitangeklagten Y. gefasste Tatentschluss, die bewusstlose Nebenklägerin gleichzeitig zu penetrieren, einen zumindest bedingten Körperverletzungsvorsatz umfasste. Für diesen Fall wird das neue Tatgericht zu prüfen haben, ob das Missbrauchsgeschehen im Hinblick auf die schweren verbliebenen Verletzungsfolgen für die Nebenklägerin, der ein künstlicher Darmausgang gelegt werden musste, - unter der Voraussetzung des § 18 StGB - nicht auch unter den Tatbestand der schweren Körperverletzung nach § 226 Abs. 1 StGB in der (dritten) Alternative der dauerhaften Entstellung in erheblicher Weise zu subsumieren ist.

HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 627

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel