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HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 987

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 311/13, Beschluss v. 21.08.2013, HRRS 2013 Nr. 987


BGH 2 StR 311/13 - Beschluss vom 21. August 2013 (LG Aachen)

Begriff der angeklagten Tat (Individualisierbarkeit auch bei Veränderung oder Erweiterung des Tatzeitraums).

§ 264 Abs. 1 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Gemäß § 264 Abs. 1 StPO ist Gegenstand der Urteilsfindung "die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Verhandlung darstellt." Zwar braucht eine Veränderung oder Erweiterung des Tatzeitraums die Identität zwischen Anklage und abgeurteilter Tat nicht aufzuheben, wenn die in der Anklage beschriebene Tat unabhängig von der Tatzeit nach anderen Merkmalen individualisiert und dadurch weiterhin als einmaliges, unverwechselbares Geschehen gekennzeichnet ist (vgl. BGHSt 46, 130). Bei gleichartigen, nicht durch andere individuelle Tatmerkmale als die Tatzeit unterscheidbaren Serientaten heben dagegen Veränderungen und Erweiterungen des Tatzeitraumes die Identität zwischen angeklagten und abgeurteilten Taten auf.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 11. Januar 2013

a) mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte in den Fällen II. 1-23 der Urteilsgründe wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt worden ist; insoweit wird das Verfahren eingestellt,

b) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch widerstandsunfähiger Personen verurteilt ist,

c) im Ausspruch über die Gesamtstrafe mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Im Umfang der Einstellung (Ziffer 1. a) trägt die Staatskasse die Kosten des Verfahrens und die dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen.

3. Im Umfang der Aufhebung (Ziffer 1. c) wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

4. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 24 Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch widerstandsunfähiger Personen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit der Revision, mit der er allgemein die Verletzung materiellen Rechts rügt. Das Rechtsmittel führt zur Einstellung des Verfahrens, soweit der Angeklagte in den Fällen II. 1-23 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt worden ist, und zur Aufhebung des Ausspruchs über die Gesamtstrafe; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

1. Hinsichtlich der unter II. 1-23 der Urteilsgründe abgeurteilten Straftaten fehlt es an der Verfahrensvoraussetzung der Anklageerhebung. Mit der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage vom 30. Juli 2012 wurde dem Angeklagten vorgeworfen, in der Zeit vom 5. Dezember 1995 bis zum 4. Dezember 1999 in 192 Fällen in seiner Wohnung spätabends auf der Wohnzimmercouch sexuelle Handlungen an dem Nebenkläger S. vorgenommen zu haben. Er habe seine Hand in die Hose des Kindes geführt und jeweils für kurze Dauer am Geschlechtsteil des Jungen manipuliert, wobei der Junge seinen eigenen Penis sehen konnte.

Gegenstand der Verurteilung durch das Landgericht waren 23 diesem Tatbild entsprechende Fälle "in der Zeit zwischen dem 3. November 1998 und dem 4. Dezember 2000". Soweit dem Angeklagten weitere 168 gleichartige Taten zum Nachteil des S. zur Last gelegt worden sind, hat es den Angeklagten freigesprochen, weil es nicht die für eine Verurteilung erforderliche Überzeugung gewinnen konnte, dass "der Angeklagte bereits vor November 1998 und häufiger als zwei Mal im Monat sexuelle Handlungen an dem Zeugen S. vorgenommen hat." 2. Das Landgericht meint, dass der der Verurteilung zugrunde liegende Tatzeitraum von der Anklage mitumfasst gewesen sei, weil die "Nämlichkeit der Tat" trotz der zeitlichen Abweichungen noch gewahrt sei; einer Nachtragsanklage habe es daher nicht bedurft.

a) Dies hält rechtlicher Prüfung nicht stand. Die 23 abgeurteilten Fälle des sexuellen Missbrauchs zum Nachteil des Nebenklägers S. waren von der zugelassenen Anklage nicht umfasst. Gemäß § 264 Abs. 1 StPO ist Gegenstand der Urteilsfindung "die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Verhandlung darstellt." Gegenstand der zugelassenen Anklage sind u.a. 192 Taten in der oben (Ziffer 1.) näher beschriebenen Ausführung in der Zeit vom 5. Dezember 1995 bis zum 4. Dezember 1999. Auf diese Taten erstreckte sich die Kognitionspflicht des Gerichts. Die abgeurteilten Straftaten betreffen mit dem 3. November 1998 bis zum 4. Dezember 2000 einen - zumindest teilweise (dazu anschließend b) - anderen Zeitraum. Zwar braucht eine Veränderung oder Erweiterung des Tatzeitraums die Identität zwischen Anklage und abgeurteilter Tat nicht aufzuheben (vgl. BGHR StPO § 200 Abs. 1 Satz 1 Tat 8), wenn die in der Anklage beschriebene Tat unabhängig von der Tatzeit nach anderen Merkmalen individualisiert und dadurch weiterhin als einmaliges, unverwechselbares Geschehen gekennzeichnet ist (vgl. BGHSt 46, 130; BGH, Urteil vom 28. Mai 2002 - 5 StR 55/02; BGHR StPO, § 200 Abs. 1 Satz 1 Tat 19). Bei gleichartigen, nicht durch andere individuelle Tatmerkmale als die Tatzeit unterscheidbaren Serientaten heben dagegen Veränderungen und Erweiterungen des Tatzeitraumes die Identität zwischen angeklagten und abgeurteilten Taten auf.

So verhält es sich in den abgeurteilten Fällen II. 1-23 der Urteilsgründe. Diese sind durch eine jeweils gleichförmige Tatausführung an einem jeweils identischen Tatort gekennzeichnet. Die Taten sind also nicht unabhängig von der Tatzeit nach individuellen Merkmalen unverwechselbar charakterisiert. Insofern kommt dem in der Anklageschrift genannten Tatzeitraum eine wesentliche, die Kognitionspflicht des Gerichts im Sinne des § 264 Abs. 1 StPO bestimmende und vor allem begrenzende Funktion zu.

b) Da eine Nachtragsanklage nicht erhoben ist, muss das Verfahren wegen des von Amts wegen zu beachtenden Verfahrenshindernisses fehlender Anklage eingestellt werden. Dies betrifft alle Missbrauchstaten, die nach den Feststellungen im Wohnzimmer des Angeklagten verübt wurden (II. 1-23 der Urteilsgründe). Zwar überschneiden sich insoweit angeklagter und abgeurteilter Tatzeitraum teilweise. Das Landgericht geht jedoch davon aus, dass es innerhalb der angenommenen Zeitspanne vom 3. November 1998 bis zum 4. Dezember 2000 lediglich über einen Zeitraum von einem Jahr zu entsprechenden Übergriffen gekommen ist. Da dieser Ausschnitt von einem Jahr zeitlich nicht näher bestimmt ist, kann der Senat nicht ausschließen, dass die 23 abgeurteilten Straftaten insgesamt in den nicht von der Anklage erfassten Zeitraum vom 5. Dezember 1999 bis zum 4. Dezember 2000 fallen. Die Einstellung des Verfahrens bedingt eine entsprechende Änderung des Schuldspruchs sowie die Aufhebung des Ausspruchs über die Gesamtstrafe.

c) Dagegen lässt die Veränderung der Tatzeit im Fall II. 24 der Urteilsgründe die Identität zwischen angeklagter und abgeurteilter Tat unberührt, da die Tatausführung eine Vielzahl individueller und origineller Details aufweist, die dem Geschehen ein unverwechselbares Gepräge geben.

HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 987

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel