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HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 755

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 255/13, Beschluss v. 17.07.2013, HRRS 2013 Nr. 755


BGH 2 StR 255/13 - Beschluss vom 17. Juli 2013 (LG Frankfurt am Main)

BGHSt; Erforderlichkeit eines Sachverständigengutachtens bei Erwägung der Maßregelanordnung durch das Gericht (Umfang des diesbezüglichen gerichtlichen Ermessens; umfassendes Informationsrecht des Gutachters).

§ 246a Satz 2 StPO; § 64 StGB; § 63 StGB

Leitsätze

1. Wenn das Tatgericht einen Sachverständigen zur Prüfung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt hinzuzieht, erwägt es die Maßregelanordnung konkret und hat deshalb ein Gutachten einzuholen. Dem vom Gericht bestellten Sachverständigen ist in diesem Fall zu ermöglichen, von ihm für erforderlich gehaltene Erkenntnisquellen - insbesondere frühere Gutachten - zu verarbeiten; dies kann nicht mit der Begründung abgelehnt werden, auf das Ergebnis des Gutachtens komme es nicht an (Fortführung von BGH, Beschluss vom 30. März 1977 - 3 StR 78/77, BGHSt 27, 166 ff.). (BGHSt)

2. § 246a Satz 2 StPO stellt die Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht ins Belieben des Tatgerichts. Diese Pflicht entfällt nur, wenn die Maßregel in Ausübung des ihm gemäß § 64 Satz 2 StGB eingeräumten Ermessens nicht angeordnet wird. Der Ermessensspielraum ist jedoch auf Ausnahmefälle beschränkt (vgl. BGH NStZ 2009, 204, 205). Das Gebot der Gutachteneinholung aus § 246a Satz 2 StPO darf nicht durch die Behauptung eigener Sachkunde des Gerichts umgangen werden (vgl. BGHSt 27, 166, 167). (Bearbeiter)

3. Das Landgericht hatte dafür Sorge zu tragen, dass der Sachverständige umfassend über alle relevanten Tatsachen informiert wird (vgl. BGHSt 27, 166, 167). Ihm ist auch die Sichtung von Behandlungsunterlagen früherer Therapien zu ermöglichen. Dies gilt insbesondere dann, wenn er die Sichtung dieser Unterlagen für erforderlich erklärt und die Verteidigung deren Beiziehung beantragt. Durch Auswertung des Aktenmaterials sollen Defizite der Sachaufklärung durch das Gericht in der Hauptverhandlung ausgeglichen werden (vgl. BGH, NStZ 2012, 463, 464). (Bearbeiter)

4. Mit einer wegen Verstoßes gegen § 246a Abs. 1 StPO rechtsfehlerhaften Maßregelentscheidung ist nicht zwingend eine Aufhebung der Freiheitsstrafe zu verbinden. Jedoch kann diese im Einzelfall erfolgen, wenn nicht auszuschließen ist, dass eine Fehlbewertung der Maßregelvoraussetzungen auch einen Einfluss auf die Strafzumessung hat (vgl. BGH NStZ-RR 2013, 150, 151).

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 23. Januar 2013 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben

a) im Strafausspruch,

b) soweit eine Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt unterblieben ist.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Diebstahls in sieben Fällen unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus einem früheren Urteil zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf die Sachbeschwerde und Verfahrensrügen gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg. Im Übrigen ist es unbegründet.

1. Der Verfahrensrüge liegt Folgendes zugrunde:

Das Landgericht hat zur Hauptverhandlung den medizinischen Sachverständigen Dr. L. hinzugezogen. Dieser erklärte, er sehe sich außerstande, die Frage der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zu beantworten. Er halte es für erforderlich, die medizinischen Unterlagen über die Behandlung des Angeklagten in zwei früheren Therapien auszuwerten, die ihm bisher unbekannt seien. Der Verteidiger beantragte die Beiziehung dieser Unterlagen. Der Vorsitzende lehnte den Antrag ab, "da nicht ersichtlich ist, welche Tatsachen ermittelt werden sollen". Der Sachverhalt könne "so bewertet werden, als wäre die Therapie günstig und aus Sicht der Einrichtung erfolgreich gewesen". Der Verteidiger beantragte die gerichtliche Entscheidung; dies führte zur Bestätigung der Verfügung des Vorsitzenden durch die Strafkammer.

Die Revision trägt vor, der Sachverständige habe "weder den Angeklagten in der Justizvollzugsanstalt untersucht noch Unterlagen über den vergangenen Therapieablauf dieser Einrichtungen seitens des Gerichts erhalten und demnach kein schriftliches Gutachten erstattet". Sie sieht in der Ablehnung der Beiziehung von Behandlungsunterlagen zur Informierung des Sachverständigen einen Verstoß gegen § 244 Abs. 2 Satz 2 StPO und gegen § 246a StPO.

Im Urteil hat die Strafkammer die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt wie folgt abgelehnt: "Auch wenn die vorangegangenen Therapiemaßnahmen erfolgreich abgeschlossen worden sind und zu Gunsten des Angeklagten angenommen wird, der Therapieverlauf sei für ihn jeweils positiv zu bewerten, so ändern diese Umstände nichts daran, dass der Angeklagte jeweils innerhalb nur weniger Monate nach Abschluss einer solchen Maßnahme wieder drogenrückfällig geworden ist und in der Folge erneut gleichartige Straftaten begangen hat."

2. Die Rüge der Verletzung von § 246a Satz 2 StPO ist zulässig. Entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts ist nicht erforderlich, dass der Beschwerdeführer mitteilt, welche Anknüpfungstatsachen im Fall der Beiziehung der Behandlungsunterlagen festzustellen gewesen wären. Denn hier geht es nicht um eine Aufklärungsrüge (§§ 244 Abs. 2, 337 StPO), für die weiter gehende Darlegungspflichten im Sinne von § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO bestehen könnten. Die Verletzung der Pflicht des Gerichts zur umfassenden Unterrichtung des Sachverständigen verstößt jedenfalls auch gegen § 246a Satz 2 StPO (vgl. SK/Frister, StPO 4. Aufl. § 246a Rn. 23). Die für die Prüfung dieses Verfahrensfehlers erforderlichen Prozesstatsachen sind vom Beschwerdeführer mitgeteilt worden.

3. Die Verfahrensrüge ist begründet. Dies führt zur Aufhebung der Entscheidung des Landgerichts, die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 Satz 2 StGB mangels hinreichend konkreter Aussicht eines Behandlungserfolges nicht anzuordnen, und zur Aufhebung des Strafausspruchs.

a) Das Landgericht hat § 246a Satz 2 StPO verletzt.

Danach ist in der Hauptverhandlung ein Sachverständiger über den Zustand des Angeklagten und die Behandlungsaussichten zu vernehmen, wenn das Gericht erwägt, die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt anzuordnen. Das Landgericht hat durch Hinzuziehung des Sachverständigen Dr. L. zu erkennen gegeben, dass es konkret erwogen hat, die Maßregel anzuordnen. Von dieser Vorgabe hat es sich in der Hauptverhandlung bis zur Beweiserhebung auch nicht distanziert, sondern den Sachverständigen befragt. Der Senat kann daher offen lassen, ob und wie die Strafkammer von dem durch den Vorsitzenden mit der Ladung und Vernehmung des Sachverständigen zum Ausdruck gebrachten "Erwägen" wieder Abstand hätte nehmen können. Die vom Vorsitzenden - mit nachfolgender Bestätigung durch die Strafkammer - erklärte Unterstellung einer Tatsachenannahme sieht das Gesetz im Anwendungsbereich des § 246a Satz 2 StPO dagegen nicht vor. Vielmehr war unter den gegebenen Umständen ein Sachverständigengutachten einzuholen.

§ 246a Satz 2 StPO stellt dies nicht ins Belieben des Tatgerichts. Dessen Pflicht zur Einholung eines Sachverständigengutachtens entfällt nur, wenn die Maßregel in Ausübung des ihm gemäß § 64 Satz 2 StGB eingeräumten Ermessens nicht angeordnet wird. Der Ermessensspielraum ist jedoch auf Ausnahmefälle beschränkt (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Oktober 2008 - 5 StR 472/08, NStZ 2009, 204, 205). Um einen solchen Ausnahmefall geht es hier nicht. Das Gebot der Gutachteneinholung aus § 246a Satz 2 StPO darf dann aber nicht durch die Behauptung eigener Sachkunde des Gerichts umgangen werden (vgl. BGH, Beschluss vom 30. März 1977 - 3 StR 78/77, BGHSt 27, 166, 167). Das Landgericht hatte dafür Sorge zu tragen, dass der Sachverständige umfassend über alle relevanten Tatsachen informiert wird (vgl. BGH aaO). Ihm ist auch die Sichtung von Behandlungsunterlagen früherer Therapien zu ermöglichen. Dies gilt insbesondere dann, wenn er die Sichtung dieser Unterlagen für erforderlich erklärt und die Verteidigung deren Beiziehung beantragt. Durch Auswertung des Aktenmaterials sollen Defizite der Sachaufklärung durch das Gericht in der Hauptverhandlung ausgeglichen werden (vgl. BGH, Beschluss vom 20. September 2011 - 4 StR 434/11, NStZ 2012, 463, 464). Das Landgericht hat dies zu Unrecht abgelehnt.

b) Auf dem Rechtsfehler beruht die Maßregelentscheidung. Damit ist nicht zwingend eine Aufhebung der Freiheitsstrafe zu verbinden. Jedoch kann diese im Einzelfall erfolgen, wenn nicht auszuschließen ist, dass eine Fehlbewertung der Maßregelvoraussetzungen auch einen Einfluss auf die Strafzumessung hat (vgl. Senat, Beschluss vom 22. August 2012 - 2 StR 235/12, NStZ-RR 2013, 150, 151; Fischer, StGB 60. Aufl. § 64 Rn. 30). So liegt es hier, weil das Landgericht der Sache nach von einer bei dem Angeklagten nicht therapierbaren Rückfallgefahr ausgegangen ist, ferner weil es die Einzelstrafen ausschließlich wegen Beschaffungsdelikte des Angeklagten für seinen Drogenkonsum verhängt hat, außerdem weil die Einsatzstrafe bei der Gesamtstrafenbildung vor diesem Hintergrund ohne Erläuterung um mehr als das Dreifache erhöht wurde, und schließlich, weil Fragen des Vorwegvollzugs der Strafe vor der Maßregel zu erörtern sind, sofern der neue Tatrichter eine Maßregelanordnung trifft. Daher hebt der Senat auch den Strafausspruch auf.

HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 755

Externe Fundstellen: NJW 2013, 3318; NStZ 2013, 670; StV 2014, 125; StV 2014, 126

Bearbeiter: Karsten Gaede