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HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 183

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 486/12, Beschluss v. 04.12.2012, HRRS 2013 Nr. 183


BGH 2 StR 486/12 - Beschluss vom 4. Dezember 2012 (LG Bonn)

Voraussetzungen der Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (schwere seelische Abartigkeit; Darlegungsvoraussetzungen).

§ 63 StGB; § 21 StGB; § 20 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der Anlasstaten aufgrund einer nicht nur vorübergehenden psychischen Störung schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung auf diesem Zustand beruht. Dies muss sich den Urteilsgründen sicher entnehmen lassen.

2. Insbesondere müssen die die Bewertung tragenden konkreten Anknüpfungs- und Befundtatsachen zur ausschlaggebenden Erkrankung und ihrem Verlauf bis hin zur Tat mitgeteilt.

3. Behauptet der Angeklagte ein für seine Tat ausschlaggebendes Ereignis in seiner frühen Kindheit, kann die Unwahrheit seiner Behauptung ohne eine dahingehende Beweiserhebung nicht zum Anlass genommen werden, von einer Wahnvorstellung auszugehen.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bonn vom 9. Mai 2012 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat Erfolg.

I.

1. In den frühen Morgenstunden des 25. August 2011 grübelte der Angeklagte über einen Vorfall nach, der sich seiner Erinnerung nach in seiner Kindheit ereignet habe. Im Alter von fünf oder sechs Jahren soll ihn seine Mutter im Beisein eines Nachbarn und eines anderen Mannes aufgefordert haben, seinen jüngeren Bruder in der Badewanne anal zu penetrieren. Als er sich geweigert habe, soll der andere Mann seinen Bruder vor seinen Augen missbraucht haben. Er entschloss sich, seine Mutter für diese angebliche Tat zu bestrafen, nahm ein Küchenmesser an sich und wartete auf sie vor der Küche. Er brachte es zunächst nicht über sich, ihr Gewalt anzutun, und warf das Messer ins Spülbecken. In seinem Zimmer dachte er über weitere Schritte nach und ging erneut in die Küche. Er nahm einen hölzernen Baseballschläger mit sich, machte seiner Mutter Vorwürfe und schlug ihr dann, seinem vorgefassten Plan entsprechend, mit dem Schläger auf die Arme und mehrfach auf den Kopf. Sie erlitt neben Prellungen eine lebensbedrohliche Schädelfraktur, die mittlerweile folgenlos verheilt ist. Als der jüngere Bruder des Angeklagten hinzukam, ließ der Angeklagte von seiner Mutter ab und forderte ihn auf, den Notruf zu wählen.

2. Das Landgericht hat das Verhalten des Angeklagten als gefährliche Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB angesehen. Es hat ihn von diesem Vorwurf freigesprochen, da er aufgrund einer schweren seelischen Erkrankung unfähig gewesen sei, das Unrecht seiner Tat einzusehen. Dabei hat die Kammer sich auf die Einschätzung einer Sachverständigen gestützt, die nachvollziehbar und plausibel erläutert habe, dass der Angeklagte an einer chronischen Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis leide. Diese habe einen schleichenden Verlauf genommen, wobei in der Symptomatik die sog. "Minussymptome" einer Psychose, Einschränkungen des normalen Lebens und Wegfall früherer Persönlichkeitsmerkmale, überwögen. Es gebe eine Vielzahl von Indizien, die nicht isoliert betrachtet, aber in ihrer Gesamtschau den sicheren Schluss auf das Vorliegen dieser Erkrankung rechtfertigten. Darüber hinaus seien auch Anhaltspunkte für "Positivsymptome" einer Psychose, nämlich Anzeichen für wahnhaftes Erleben, festzustellen. So habe der Angeklagte etwa berichtet, beim Warten an der Bushaltestelle sähen andere Menschen zu ihm herüber und sprächen über ihn. In diesem Sinne sei die Erinnerung an den angeblichen sexuellen Übergriff als "Wahnerinnerung" einzustufen, als Erinnerung mit unrealistischem Inhalt bei zugleich absoluter, nicht korrigierbarer Überzeugung von deren Wahrheitsgehalt. Es liege bei dem Angeklagten eine Fixierung vor, ein Sich-Hinein-Steigern bis zu einem Punkt, an dem er geglaubt habe, seine Mutter bestrafen zu müssen. Im Moment der Tatbegehung habe er dann durchaus gewusst, dass sein Verhalten grundsätzlich unrechtmäßig sei, habe allerdings aufgrund einer psychotischen Realitätsverkennung geglaubt, gerechtfertigt zu handeln. Unabhängig davon, ob es sexuelle Übergriffe gegenüber dem Angeklagten in der Vergangenheit gegeben habe, läge diese "Wahnerinnerung" vor, weshalb die Kammer sich auch nicht zu einer weitergehenden Aufklärung des von dem Angeklagten geschilderten sexuellen Übergriffs veranlasst gesehen habe.

Im Rahmen der für die Anordnung nach § 63 StGB erforderlichen Gefahrenprognose ist das Landgericht davon ausgegangen, dass die bei dem Angeklagten bestehende Psychose unbehandelt mit hoher Wahrscheinlichkeit zu ähnlichen Gewalttaten führen werde. Die Erkrankung sei zwar behandelbar, der Angeklagte zeige aber keinerlei Krankheitseinsicht und Therapiebereitschaft. Es bestehe eine erhöhte Gefahr von Straftaten gegen Angehörige, aber auch gegen andere Personen. Bei dem Angeklagten sei, nachdem er zunächst auf seine Mutter fixiert gewesen sei, nunmehr eine für eine chronische Psychose typische Erstreckung von Wahnvorstellungen auf andere Themen und Personen zu beobachten. Dies zeige sich etwa in seinem Glauben, andere Menschen würden an der Bushaltestelle über ihn sprechen. Er beginne in anderen Bereichen gegen ihn gerichtete Ungerechtigkeiten und Manipulationen wahrzunehmen. Es sei jederzeit damit zu rechnen, dass er aufgrund der psychotischen Realitätsverkennung auch gegen andere Personen in vergleichbarer Weise Gewalt anwenden werde, um sie für angeblich an ihm begangenes Unrecht zu bestrafen.

II.

Die Voraussetzungen des § 63 StGB werden durch die Urteilsfeststellungen nicht hinreichend belegt.

1. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der Anlasstaten aufgrund einer nicht nur vorübergehenden psychischen Störung schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung auf diesem Zustand beruht (vgl. Beschluss vom 11. März 2009 - 2 StR 42/09, NStZ-RR 2009, 198; Beschluss vom 8. April 2003 - 3 StR 79/03, NStZ-RR 2003, 232). Dies lässt sich den Urteilsgründen nicht sicher entnehmen.

Schon für die auf Angaben der Sachverständigen gestützte Annahme des Landgerichts, der Angeklagte leide seit mehreren Jahren an einer "chronischen Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis" (UA S. 7, 11), fehlt es an hinreichenden tatsächlichen Anhaltspunkten. Die mitgeteilten "Minussymptome" einer solchen Erkrankung, Einschränkungen des normalen Erlebens und Wegfall früherer Persönlichkeitsmerkmale, ermöglichen es in ihrer Allgemeinheit dem Revisionsgericht nicht, nachzuvollziehen, ob etwa ein Leistungsknick in der Schule, Kontaktarmut, Zurückgezogenheit, der Konsum von Drogen, innere Leere und Gefühlsarmut (vgl. UA S. 7 f.) tatsächlich Ausdruck einer beim Angeklagten vorliegenden "blanden Psychose" oder nicht etwa lediglich Kennzeichen einer Persönlichkeitsakzentuierung sind, die noch keinen relevanten Krankheitswert aufweisen. Es fehlt insoweit an der Mitteilung der die Bewertung tragenden konkreten Anknüpfungs- und Befundtatsachen zu der Entwicklung der angenommenen Erkrankung und ihrem Verlauf bis hin zur Tat, die die durch Angaben der Sachverständigen gestützte Annahme einer schweren seelischen Abartigkeit stützen kann.

Auch soweit das Landgericht darüber hinaus Anhaltspunkte für sog. "Positivsymptome" einer Psychose benennt, versetzt dies das Revisionsgericht nicht in die Lage, ihr Vorliegen hinreichend nachzuvollziehen. Die erwähnten Anzeichen für "wahnhaftes Erleben" erschöpfen sich - abgesehen von der Bewertung des Auslösers für die Tat als "wahnhafte Erinnerung" - in zwei Hinweisen auf wenig aussagekräftige Alltagssituationen, wobei jedenfalls hinsichtlich einer dieser Konstellationen (Herübersehen von Menschen zu dem an einer Bushaltestelle wartenden Angeklagten) schon nicht nachvollziehbar ist, ob überhaupt eine "wahnhafte Verkennung" der Situation durch den Angeklagten vorliegt. Aber auch soweit die Kammer die Erinnerung des Angeklagten an ein Erlebnis aus seiner Kindheit, die zu der "Bestrafung" der Mutter geführt hat, als "Wahnerinnerung" einstuft, stellt sich dies nicht als tragfähiger Beleg für das Vorliegen der angenommenen psychischen Erkrankung des Angeklagten dar. Ob es zu irgendwelchen sexuellen Übergriffen gegen den Angeklagten gekommen ist, hat die Kammer nicht aufgeklärt, weil sie davon ausgegangen ist, dass die Erinnerung des Angeklagten in der nunmehr von ihm geschilderten Form jedenfalls nicht der Realität entspreche (UA S. 8 f., 10). Dass dies tatsächlich der Fall ist und damit ein vom Krankheitsbild erfasstes wahnhaftes Erleben gegeben ist, lässt sich allerdings den Urteilsgründen nicht entnehmen. Ob Teile seiner Schilderungen schon aus anatomischen Gründen unmöglich sind, kann das Revisionsgericht schon deshalb nicht nachvollziehen, weil nicht im Einzelnen mitgeteilt wird, was der Angeklagte ursprünglich ausgesagt und auf entsprechenden Vorhalt hierzu angegeben hat. Voneinander abweichende Aussagen im Laufe eines Verfahrens, die auch zu konkreteren Angaben zu einem späteren Zeitpunkt (etwa erst in der Hauptverhandlung) führen, können auch bloße Folge bestimmter Aussagesituationen (vor allem mit Blick auf die Person des Fragenden und die Art der von ihm durchgeführten Befragung) oder auch Ausdruck eines geänderten Einlassungsverhaltens sein, ohne dass dies ohne Weiteres eine "Fixierung" des Angeklagten, ein Hineinsteigern in eine "Wahnerinnerung" belegt. Selbst wenn man aber davon ausginge, dass das Geschehen aus der Kindheit jedenfalls in der zuletzt vom Angeklagten geschilderten Form nicht der Realität entspräche, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen, warum bei einem möglichen sexuellen Übergriff, der stattgefunden haben könnte und lediglich abweichend vom Angeklagten geschildert worden ist, ein "wahnhaftes Erleben" gegeben sein soll, das Ausdruck einer psychotischen Grunderkrankung ist.

2. Damit entfällt die Grundlage für die Anordnung einer Maßnahme nach § 63 StGB, ohne dass es noch darauf ankäme, ob das Landgericht die weiteren Voraussetzungen hierfür hinreichend festgestellt hat, etwa ob die Diagnose einer chronischen Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis bei dem Angeklagten im Tatzeitpunkt zu einer erheblichen Beeinträchtigung oder Aufhebung der Schuldfähigkeit geführt hat und ob in Zukunft infolge seiner Erkrankung mit höherer Wahrscheinlichkeit von der Begehung weiterer vergleichbarer Straftaten durch ihn ausgegangen werden muss. Die Sache bedarf - unter Aufhebung des auf die mangelhaften Feststellungen zur psychischen Erkrankung des Angeklagten gestützten Freispruchs (vgl. Senat, Beschluss vom 29. Mai 2012 - 2 StR 139/12, NStZ-RR 2012, 306, 307) - insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung. Dabei liegt es nahe, mit der erforderlichen Begutachtung des Angeklagten (§ 246a StPO) einen neuen Sachverständigen zu betrauen.

HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 183

Bearbeiter: Karsten Gaede