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HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 552

Bearbeiter: Goya Tyszkiewicz

Zitiervorschlag: BGH, AK 22/11, Beschluss v. 22.12.2011, HRRS 2012 Nr. 552


BGH AK 22 und 23/11 - Beschluss vom 22. Dezember 2011

Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (dringender Tatverdacht; mitgliedschaftliche Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland; Fluchtgefahr).

§ 121 StPO; 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO; § 129b Abs. 1 Satz 1 StGB, § 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB

Entscheidungstenor

Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem Kammergericht Berlin übertragen.

Gründe

I.

Der Angeklagte O. befindet sich seit dem 20. Juni 2011 aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 25. März 2011 (2 BGs 126/11), ergänzt durch Beschluss vom 20. Juni 2011 (2 BGs 313/11) sowie abgeändert und neu gefasst durch Beschluss vom 26. Oktober 2011 (2 BGs 564/11) in Untersuchungshaft.

Der Angeklagte L. befindet sich seit dem 2. Juni 2011 aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 3. Juni 2011 (2 BGs 281/11), abgeändert und neu gefasst durch Beschluss vom 26. Oktober 2011 (2 BGs 565/11) in Untersuchungshaft.

Gegenstand des Haftbefehls gegen den Angeklagten O. ist der Vorwurf, dieser habe spätestens Anfang September 2009 mit anderen Personen im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet die terroristische Vereinigung Deutsche Taliban Mujahideen gegründet und sich sodann bis zumindest Ende April 2010 an dieser Organisation als Mitglied beteiligt sowie sich danach durch eine weitere rechtlich selbstständige Handlung in derselben Region, in U. und in Ö. bis zu seiner Festnahme am 31. Mai 2011 als Mitglied in der Al Qaida betätigt. Gegenstand des Haftbefehls gegen den Angeklagten L. ist der Vorwurf, dieser habe sich spätestens ab August 2010 im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet, in U. und in D. bis zu seiner Festnahme am 16. Mai 2011 als Mitglied an der Al Qaida beteiligt. Bei den Organisationen Deutsche Taliban Mujahideen und Al Qaida handele es sich jeweils um eine Vereinigung im Ausland, deren Zwecke und deren Tätigkeit darauf gerichtet sind, Mord (§ 211 StGB) und Totschlag (§ 212 StGB) zu begehen.

Der Generalbundesanwalt hat gegen die Angeklagten unter dem 11. November 2011 Anklage zum Kammergericht in Berlin erhoben. Das Kammergericht hat mit Beschluss vom 15. Dezember 2011 die Anklage zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Mit Verfügung vom 16. Dezember 2011 hat der Senatsvorsitzende den Beginn der Hauptverhandlung auf den 25. Januar 2012 bestimmt.

II.

Die Voraussetzungen der Untersuchungshaft und ihrer Fortdauer über sechs Monate hinaus liegen bei beiden Angeklagten vor.

1. Nach dem bisherigen Ergebnis der Ermittlungen ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts im Wesentlichen von folgendem Geschehen auszugehen:

a) Die Al Qaida wurde im Jahre 1988 von Usama Bin Laden und weiteren Islamisten gegründet. Sie verfolgt das Ziel, Gottesstaaten auf der Basis des islamischen Rechts zu errichten und den westlichen Einfluss in der muslimischen Welt zu eliminieren. Aus diesem Grund bekämpft Al Qaida im Rahmen des "Jihad" gewaltsam insbesondere die Vereinigten Staaten von Amerika und Israel, aber auch die anderen westlichen Staaten. Ab 1996 entwickelte Al Qaida zentralisierte organisatorische Strukturen und unterhielt vor allem in Afghanistan zahlreiche Ausbildungs- und Rekrutierungslager. In der Folgezeit führten Mitglieder der Al Qaida zahlreiche terroristische Anschläge durch, etwa auf die US-amerikanische Botschaft in Ost-Afrika am 7. August 1998 und in den Vereinigten Staaten von Amerika am 11. September 2001.

Die dadurch ausgelösten militärischen Reaktionen beeinträchtigten in der Folgezeit die operative Handlungsfähigkeit der Organisation, führten aber nicht zu einer vollständigen Zerschlagung sämtlicher Strukturen von Al Qaida, sondern nur zu deren - dem Verfolgungsdruck angepassten - Modifizierung.

Nach einer Änderung der Steuerungs-, Koordinations- und Mobilisierungsmechanismen führt Al Qaida den gewaltsamen "Jihad" fort. Zu den von ihr zentral gesteuerten Straftaten zählen etwa die Anschläge auf eine Synagoge auf der Insel Djerba im April 2002, auf das Londoner Nahverkehrssystem im Juli 2005 sowie auf die dänische Botschaft in Islamabad im Juni 2008. An der Spitze der Organisation stand Usama Bin Laden. Nach dessen Tod am 2. Mai 2011 wurde der bisherige Stellvertreter Ayman Al-Zawahiri zu seinem Nachfolger bestimmt. Für die Bereiche Militär, Außenbeziehungen/Operationen, Finanzen sowie Medien/Propaganda bestehen nachgeordnete Organisationsstrukturen mit jeweils eigenen Führungspersonen. Die von Mitgliedern der Al Qaida geführten Anschlagszellen agieren zunehmend dezentral, d.h. sie orientieren sich an den Zielvorgaben und der strategischen Ausrichtung der Spitze der Organisation, führen die konkreten Anschläge jedoch eigenverantwortlich durch.

Durch den vor allem über das Internet, aber auch über Rundfunk und Fernsehen verbreiteten Führungsanspruch von Bin Laden und Al-Zawahiri gelang es, auch ohne die Bildung eigenständiger Netzwerke neue Mitglieder der Organisation unter dem "Dach" der Al Qaida zu rekrutieren. Zahlreiche Video und Audiobotschaften, deren Häufigkeit in den letzten Jahren noch zugenommen hat, dienen als Propagandamittel, um insbesondere Mitglieder und Sympathisanten zu Aktionen im Rahmen des gewaltsamen "Jihads" aufzufordern, die Ziele der Organisation darzustellen und zu legitimieren, neue Mitglieder und Unterstützer zu rekrutieren sowie den "politischen Gegner" zu beeinflussen und einzuschüchtern.

Die Al Qaida versteht sich als Anlaufstelle und terroristischer Überbau zahlreicher Unternetzwerke, regionaler "Jihad"-Gruppen sowie autonomer Zellen. Diese sind mit der Al Qaida in vielfältiger Form vernetzt und werden von dieser finanziell und logistisch unterstützt. Zu diesen Gruppierungen zählen etwa die Organisationen "Al Qaida im Zweistromland", "Al Qaida auf der arabischen Halbinsel" sowie die algerische frühere "Groupe Salafiste pour la Prédication et le Combat", die sich mittlerweile in "Organisation Al Qaida im Islamischen Maghreb" umbenannt hat.

b) Der Angeklagte O. reiste Ende Mai 2009 von B. aus mit dem Ziel, sich einer den bewaffneten "Jihad" führenden Organisation anzuschließen, in das afghanisch-pakistanische Grenzgebiet. Dort fand er sich mit anderen Personen zu der Gruppierung Deutsche Taliban Mujahideen zusammen. Im Frühjahr 2010 verließ er diese Gruppe und trat zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt nach Ende April 2010 der Al Qaida bei.

Der Angeklagte L. verließ am 23. Mai 2009 seine Heimatstadt W., um sich in ein terroristisches Ausbildungslager in Pakistan zu begeben. In der Folgezeit wurde er entsprechend dieser Absicht in einem Lager im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet ausgebildet. Spätestens im August 2010 schloss er sich ebenfalls der Al Qaida an. Beide Angeklagten lernten sich zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt in Wa. kennen. Sie erhielten eine Ausbildung, die unter anderem eine religiös-ideologische Schulung, den Umgang mit Waffen und Sprengstoffen sowie die Anwendung von Verschlüsselungsprogrammen und sonstigen Techniken konspirativen Verhaltens umfasste. Die Führung der Al Qaida erteilte ihnen den Auftrag, sich nach Europa zu begeben, um dort für die Organisation Geld zu sammeln, Personen zu rekrutieren, sich auf nicht näher spezifizierte Operationen vorzubereiten und sich hierfür bereit zu halten.

Frühestens am 29. Januar 2011 traten die Angeklagten zur Ausführung dieses Auftrags die Rückreise nach Europa an. Sie bedienten sich verschiedener Schleuser in Pakistan, dem Iran sowie der Türkei und trafen spätestens Anfang Mai 2011 in Bu. /U. ein. Spätestens am 7. Mai 2011 reiste der Angeklagte O. weiter nach W. und nahm dort Kontakt mit dem islamistisch geprägten Bekanntenkreis des Angeklagten L. auf, um dort u.a. Geld zu sammeln. Anschließend reiste er zurück nach Bu. . Der Angeklagte O. wollte ihm bekannte Mitglieder einer Gruppe von Islamisten in B. dazu bringen, den "Jihad" materiell zu unterstützen oder sich ihm als Kämpfer anzuschließen. Er beauftragte deshalb den Angeklagten L., sich nach B. zu begeben, dort Personen mit islamistischem Gedankengut anzusprechen und sie für die Ausführung jihadistischer Tätigkeiten zu gewinnen. Hierfür stellte er dem Angeklagten L. entsprechende Informationen zur Verfügung, die auf einem USB-Stick hinter unverfänglichen Dateien versteckt und verschlüsselt wurden. Der Angeklagte L. reiste am 14. Mai 2011 nach B. Er führte u.a. sein Netbook, den genannten USB-Stick und eine SD-Speicherkarte mit sich. In B. begab er sich zu mehreren Moscheen. Dort stellte er Erkundigungen nach bestimmten Personen an, die ihm der Angeklagte O. benannt hatte, und nahm zu einem Teil von diesen Kontakt auf. Nachdem er in einer Moschee übernachtet hatte, wurde er am 16. Mai 2011 in Gewahrsam genommen. Dabei führte er u.a. 1.000 € mit sich, die er in seiner Unterhose versteckt hatte. Der Angeklagte O. reiste am 30. Mai 2011 nach W., wo er einen Tag später festgenommen wurde.

2. Der dringende Tatverdacht ergibt sich insbesondere aus den Bekundungen der Zeugen M. und S. sowie dem Inhalt der Dateien, die auf den Datenträgern sichergestellt wurden, die der Angeklagte L. bei seiner Festnahme in Besitz hatte. Bezüglich der Einzelheiten wird auf die Ausführungen in den Beschlüssen des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 26. Oktober 2011 sowie der Anklageschrift des Generalbundesanwalts vom 11. November 2011 Bezug genommen.

3. Danach besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit dahin, dass die Angeklagten sich wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland nach § 129b Abs. 1 Satz 1, § 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB strafbar gemacht haben.

Die Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung hat das Bundesministerium der Justiz für alle bereits begangenen und zukünftigen Taten im Zusammenhang mit der Al Qaida am 16. März 2009 erteilt (§ 129b Abs. 1 Satz 3 und 4 StGB). Die deutsche Strafgewalt ist aus den in den Beschlüssen des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 26. Oktober 2011 angegebenen Gründen gegeben.

4. Da allein der Vorwurf der mitgliedschaftlichen Beteiligung an der terroristischen Vereinigung Al Qaida auch bei dem Angeklagten O. die Untersuchungshaft trägt, kann dahinstehen, ob darüber hinaus bezüglich dieses Angeklagten der dringende Tatverdacht besteht, er habe sich wegen seiner Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Gruppe Deutsche Taliban Mujahideen wegen Gründung und mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland strafbar gemacht. Der Senat ist deshalb vor allem mit Blick auf die Ausführungen des Sachverständigen Dr. St. in dessen Gutachten vom 21. Februar 2011, der zu dem Ergebnis gekommen ist, die Gruppierung Deutsche Taliban Mujahideen weise nicht alle notwendigen Merkmale einer eigenständigen terroristischen Organisation auf, nicht gehalten, in diesem Stadium des Verfahrens zu entscheiden, ob nach dem Ergebnis der übrigen Ermittlungen gleichwohl auch insoweit eine hohe Verurteilungswahrscheinlichkeit besteht. Dem Ergebnis der in der Hauptverhandlung durchzuführenden Beweisaufnahme vorzubehalten ist somit insbesondere, ob es sich bei der Gruppe Deutsche Taliban Mujahideen um eine eigenständige, alle Merkmale einer Vereinigung im Sinne der § 129a Abs. 1, § 129b StGB erfüllende Personenmehrheit handelt und ob der Angeklagte O. gegebenenfalls deren Gründung wesentlich förderte, indem er einen für das Zustandekommen der Vereinigung weiterführenden und richtungsweisenden Beitrag leistete (BGH, Beschluss vom 10. Januar 2006 - 3 StR 263/05, NStZ-RR 2006, 267, 269). Vertiefter Betrachtung bedarf auch nicht die unter Umständen in den Blick zu nehmende Frage, ob die Angehörigen der Gruppierung Deutsche Taliban Mujahideen möglicherweise wegen deren Verhältnisses zur Islamischen Jihad Union als Mitglieder dieser Organisation anzusehen sein könnten.

5. Es liegt der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) vor; denn es ist mit Blick vor allem auf die persönlichen Lebensumstände der Angeklagten sowie die Straferwartung wahrscheinlich, dass diese, in Freiheit belassen, sich dem Verfahren entziehen werden. Wegen der Einzelheiten wird auf die zutreffenden Erwägungen in den Beschlüssen des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 26. Oktober 2011 verwiesen. Weniger einschneidende Maßnahmen nach § 116 Abs. 1 StPO vermögen nicht die Erwartung zu begründen, dass durch sie der Zweck der Untersuchungshaft jeweils erreicht werden kann.

6. Die besonderen Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) liegen vor. Die besondere Schwierigkeit und der besondere Umfang der Ermittlungen haben ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigen die Fortdauer der Untersuchungshaft.

Das Verfahren ist bislang mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden. Seit der Festnahme der Angeklagten wurden zeit- und arbeitsintensive Ermittlungsmaßnahmen durchgeführt. So wurden etwa zahlreiche, teils umfangreiche elektronische Dateien aufwändig entschlüsselt, verschriftet und ausgewertet, Zeugen vernommen sowie Ermittlungsmaßnahmen im Wege der Rechtshilfe vorgenommen. Trotz dieses Umfangs der Ermittlungen hat der Generalbundesanwalt noch im November 2011 Anklage erhoben. Das Kammergericht in Berlin hat die Anklage bereits zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet; die Hauptverhandlung soll noch im Januar 2012 beginnen.

7. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht zu dem gegen die Angeklagten jeweils erhobenen Tatvorwurf der mitgliedschaftlichen Beteiligung an der Al Qaida nicht außer Verhältnis (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 552

Bearbeiter: Goya Tyszkiewicz