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HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 252

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 536/10, Urteil v. 08.12.2010, HRRS 2011 Nr. 252


BGH 2 StR 536/10 - Urteil vom 8. Dezember 2010 (LG Kassel)

Anforderungen an den Rücktritt vom Versuch (Abgrenzung vom unbeendeten und beendeten Versuch; keine Vorstellung des möglichen Todeseintritts; besonders gefährliche Gewalthandlungen; Grenzen des Zweifelsgrundsatzes).

§ 24 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Nach ständiger Rechtsprechung kommt es für die Abgrenzung eines unbeendeten vom beendeten Versuch und damit für die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein strafbefreiender Rücktritt gegeben ist, darauf an, ob der Täter nach der letzten von ihm konkret vorgenommenen Ausführungshandlung den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs für möglich hält (sog. Rücktrittshorizont; vgl. BGHSt 39, 221, 227 f. mwN) oder sich - namentlich nach besonders gefährlichen Gewalthandlungen, die zu schweren Verletzungen geführt haben - keine Vorstellungen über die Folgen seines Handelns macht (vgl. BGHSt 40, 304, 306).

2. Die Annahme eines unbeendeten Versuchs setzt darüber hinaus gerade bei besonders gefährlichen Gewalthandlungen eines mit bedingtem Tötungsvorsatz handelnden Täters voraus, dass auch Umstände festgestellt werden, die im Rahmen einer Gesamtwürdigung die Wertung zulassen, er habe nach Beendigung seiner Tathandlung den tödlichen Erfolg nicht (mehr) für möglich gehalten. Es müssen zumindest nach dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe Umstände festgestellt sein, aus denen geschlossen werden kann, dass der Angeklagte nach seiner letzten Ausführungshandlung nicht mehr mit dessen tödlicher Folge gerechnet habe.

3. Es ist zwar auch bei der Prüfung des Rücktritts im Rahmen der Bewertung des Rücktrittshorizonts zulässig, auf den Zweifelssatz zurückzugreifen. Dies setzt aber zunächst eine Gesamtwürdigung der festgestellten Beweistatsachen voraus, die erst im Ergebnis eine eindeutige Wertung nicht ermöglicht.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 30. Juni 2010, soweit es den Angeklagten T. betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat gegen den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung eine Jugendstrafe von drei Jahren verhängt. Die hiergegen auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts suchten der Angeklagte und der Mitangeklagte M. am Abend des 20. Januar 2010 gemeinsam eine Gaststätte in K. auf, um den Wirt, den Geschädigten G., körperlich zu misshandeln und zu verletzen. M. begab sich hinter die Theke, stach mehrfach mit einem Messer in Richtung des G. und verletzte ihn schließlich am Arm. Währenddessen schlug der 1,91 m große und jahrelang als Amateurboxer tätige Angeklagte mit einem Barhocker in Richtung des Geschädigten G. Sein erster Schlag verfehlte diesen jedoch und traf nur die Theke und die Zapfanlage. Der folgende zweite, mit voller Wucht geführte Schlag, bei dem der Angeklagte auch den Tod des Geschädigten billigend in Kauf nahm, traf diesen am Kopf. Der Geschädigte erlitt einen Schädelbasisbruch und brach sofort zusammen.

Er versuchte sich aufzurichten, brach aber aufgrund der von dem Schlag verursachten Lähmungserscheinungen sogleich wieder zusammen. Der Angeklagte und M. warfen noch mehrere Barhocker auf ihn und verließen sodann, während der Geschädigte bewusstlos am Boden liegen blieb, die Gaststätte. Zwei verängstigte, während des Angriffs in der Gaststätte anwesende Zeugen verständigten den Notarzt.

Das Landgericht hat das Vorgehen des Angeklagten als Tötungsversuch gewertet, ist aber unter Anwendung des Zweifelsgrundsatzes davon ausgegangen, dass er mit strafbefreiender Wirkung davon zurückgetreten sei. Mangels entgegenstehender Hinweise sei zu unterstellen, dass der Angeklagte - schon aufgrund der Versuche des Geschädigten sich aufzurichten - diesen weder für tot gehalten habe noch davon ausgegangen sei, bereits alles für seine Tötung Erforderliche getan zu haben (UA S. 16). Der lebensgefährlich verletzte Geschädigte wäre zwar ohne ärztliche Hilfe verstorben. Der Angeklagte hätte aber damit rechnen müssen, dass er diese erhalte.

2. Diese Bewertung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Feststellungen zum strafbefreienden Rücktritt und deren Wertung sind nicht ausreichend und lassen besorgen, dass das Landgericht von einem unrichtigen Maßstab ausgegangen ist.

Nach ständiger Rechtsprechung kommt es für die Abgrenzung eines unbeendeten vom beendeten Versuch und damit für die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein strafbefreiender Rücktritt gegeben ist, darauf an, ob der Täter nach der letzten von ihm konkret vorgenommenen Ausführungshandlung den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs für möglich hält (sog. Rücktrittshorizont; vgl. BGHSt 39, 221, 227 f. mwN) oder sich - namentlich nach besonders gefährlichen Gewalthandlungen, die zu schweren Verletzungen geführt haben - keine Vorstellungen über die Folgen seines Handelns macht (vgl. BGHSt 40, 304, 306; Fischer, StGB 57. Aufl. § 24 Rn. 15 mwN).

Dies hat die Kammer, die offensichtlich vom Vorliegen eines unbeendeten Versuchs ausgegangen ist, verkannt, denn sie hat lediglich darauf abgestellt, dass der Angeklagte nach Beendigung seiner Tathandlung den Geschädigten weder für tot gehalten habe noch davon ausgegangen sei, dass er bereits alles für den Todeseintritt Erforderliche getan habe. Die Annahme eines unbeendeten Versuchs setzt darüber hinaus gerade bei besonders gefährlichen Gewalthandlungen eines mit bedingtem Tötungsvorsatz handelnden Täters voraus, dass auch Umstände festgestellt werden, die im Rahmen einer Gesamtwürdigung die Wertung zulassen, er habe nach Beendigung seiner Tathandlung den tödlichen Erfolg nicht (mehr) für möglich gehalten. Daran fehlt es vorliegend.

Auch aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe ergibt sich nicht, aus welchen Umständen geschlossen werden könnte, der Angeklagte - der eine Tatbeteiligung abgestritten hat - habe nach dem zweiten Schlag mit dem Barhocker nicht mehr mit dessen tödlicher Folge gerechnet. Dass der Geschädigte nach dem Schlag versucht hatte, sich aufzurichten - wobei unklar bleibt, worauf diese Feststellung beruht -, lässt diesen Schluss angesichts der äußeren Umstände jedenfalls nicht zu. Insoweit zu berücksichtigen sind nämlich die Wucht des Schlages sowie die Schwere der Verletzungen, die dazu führten, dass es dem Geschädigten gerade nicht gelang, sich wieder aufzurichten, sondern er sogleich wieder zusammenbrach. Auch wurde der Geschädigte nach den Feststellungen bewusstlos zurückgelassen, wobei nach Zeugenangaben "alles voller Blut war".

Soweit die Kammer zugunsten des Angeklagten auf den Zweifelssatz zurückgreift, ist dies zwar grundsätzlich auch im Rahmen der Bewertung des Rücktrittshorizonts zulässig. Dies setzt aber zunächst eine Gesamtwürdigung der festgestellten Beweistatsachen voraus, die erst im Ergebnis eine eindeutige Wertung nicht ermöglicht.

Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung.

HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 252

Externe Fundstellen: NStZ 2011, 209

Bearbeiter: Karsten Gaede