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HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 599

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 48/10, Urteil v. 26.05.2010, HRRS 2010 Nr. 599


BGH 2 StR 48/10 - Urteil vom 26. Mai 2010 (LG Bad Kreuznach)

Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern; Sichverschaffen kinderpornographischer Schriften (verdrängter Besitz kinderpornographischer Schriften); rechtsfehlerfreies Absehen von der Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus bei Pädophilie (schwere andere seelische Abartigkeit; Persönlichkeitsstörung; Umgang mit Sachverständigengutachten; eigene Sachkunde).

§ 176 StGB; § 184b Abs. 4 Satz 1 StGB; § 63 StGB; § 20 StGB; § 21 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Bei der Beurteilung, ob ein pädophiles Störungsbild unter eines der Eingangsmerkmale der §§ 20, 21 StGB zu subsumieren ist und dadurch die Schuldfähigkeit des Angeklagten erheblich eingeschränkt ist, entscheidet das Gericht nach sachverständiger Beratung (BGH NStZ-RR 2006, 73). Bei seiner Beurteilung ist der Tatrichter nicht gehindert, von dem Gutachten eines vernommenen Sachverständigen abzuweichen. Dabei ist er gehalten, sich mit dessen Darlegungen in einer Weise auseinanderzusetzen, die erkennen lässt, dass er mit Recht eigene Sachkunde in Anspruch genommen hat (BGH NStZ 2007, 114).

2. Nicht jede Devianz in Form einer Pädophilie ist ohne Weiteres mit einer schweren anderen seelischen Abhängigkeit gleichzusetzen (BGH StV 2005, 20).

3. Das Gericht ist unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt gehalten, die Prozessbeteiligten über die vorläufige Bewertung von Beweismitteln - hier des Sachverständigengutachtens - zu informieren. Erst in der Urteilsberatung hat der Tatrichter darüber zu befinden, wie er die erhobenen Beweise einschätzt. Ein Zwischenverfahren, in dem sich das Gericht zu Inhalt und Ergebnis einzelner Beweiserhebungen erklären müsste, ist nicht vorgesehen (vgl. BGHSt 43, 212, 214; BGH NStZ-RR 2008, 180).

Entscheidungstenor

Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Bad Kreuznach vom 30. September 2009 wird mit der Maßgabe als unbegründet verworfen, dass für die Tat II.5 der Urteilsgründe eine Einzelgeldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 5 Euro festgesetzt wird.

Die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen hat die Staatskasse zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern und wegen vorsätzlicher Körperverletzung in jeweils vier Fällen, wegen Freiheitsberaubung in zwei Fällen sowie wegen Sichverschaffens kinderpornographischer Schriften zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und zehn Monaten verurteilt und dessen Laptop nebst externer Festplatte eingezogen. Mit ihrer vom Generalbundesanwalt nicht vertretenen Revision beanstandet die Staatsanwaltschaft die Nichtverurteilung des Angeklagten auch wegen Besitzes von kinderpornographischen Schriften, den Strafausspruch sowie die unterbliebene Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus; sie rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel führt auf die Sachrüge zur Nachholung eines unterbliebenen Einzelstrafausspruchs; im Übrigen ist es unbegründet.

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts hatte der heute 24jährige nicht vorbestrafte Angeklagte vor seinem 18. Lebensjahr alterstypische, mit Geschlechtsverkehr einhergehende Beziehungen zu geringfügig jüngeren Mädchen. Von Oktober 2003 bis Juni 2008 lebte er in einer festen Beziehung mit der gleichaltrigen H. Im Anschluss hatte er ein sexuelles Verhältnis mit einem 17jährigen Mädchen. Während des Zusammenlebens mit H. war es zu Spannungen gekommen, weil der Angeklagte pornographisches, zum Teil kinderpornographisches Bildmaterial konsumiert hatte und sich zu jüngeren Mädchen, auch unter 14 Jahren, hingezogen fühlte.

a) Im November 2007 führte der damals 22jährige Angeklagte mit einem 13 Jahre und zehn Monate alten, sexuell noch unerfahrenen Mädchen, das er bereits seit längerem kannte, einvernehmlich Geschlechtsverkehr durch.

b) Im Frühjahr 2008 steigerten sich die Spannungen zwischen dem Angeklagten und seiner Lebensgefährtin und mündeten bei vier Gelegenheiten in körperlichen Auseinandersetzungen. Während dieses Zeitraums lud der Angeklagte zwei Bilddateien mit kinderpornographischen Darstellungen aus dem Internet auf seinen Rechner. In zwei Fällen schloss der Angeklagte seine Lebensgefährtin nach Streitigkeiten in der Wohnung ein.

c) Im Frühjahr 2009 schließlich führte der Angeklagte mit einem sexuell bereits erfahrenen, 13 Jahre und zwei Monate alten Mädchen, das er seit ca. einem halben Jahr kannte, bei drei Gelegenheiten jeweils einverständlich Geschlechtsverkehr durch.

2. In Übereinstimmung mit dem gehörten psychiatrischen Sachverständigen stellte die Strafkammer bei dem geständigen, sein Verhalten bedauernden Angeklagten pädophile Neigungen fest, zu denen dieser sich auch bekennt. Die bei dem Angeklagten vorliegende Pädophilie sei jedoch - anders als der Sachverständige meine - nicht von solchem Ausmaß, dass sie als schwere andere seelische Abartigkeit im Sinne von § 20 StGB zu werten sei. Vielmehr handele es sich um eine allgemeine Störung der Persönlichkeit, die keinen Einfluss auf die strafrechtliche Verantwortung i.S.d. §§ 20, 21 StGB habe.

II.

1. Die Rüge, das Landgericht habe gegen seine Aufklärungs- und Fürsorgepflicht verstoßen, in dem es ohne vorherigen Hinweis dem Sachverständigen hinsichtlich der Frage des Vorliegens einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit i.S.d. § 21 StGB nicht gefolgt sei, ist unbegründet. Das Gericht war unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt gehalten, die Prozessbeteiligten über die vorläufige Bewertung von Beweismitteln - hier des Sachverständigengutachtens - zu informieren. Erst in der Urteilsberatung hat der Tatrichter darüber zu befinden, wie er die erhobenen Beweise einschätzt. Ein Zwischenverfahren, in dem sich das Gericht zu Inhalt und Ergebnis einzelner Beweiserhebungen erklären müsste, ist nicht vorgesehen (vgl. BGHSt 43, 212, 214; BGH NStZ-RR 2008, 180).

2. Auch die Sachrüge deckt keinen Rechtsfehler des Urteils zum Vorteil des Angeklagten auf.

a) Der Schuldspruch ist nicht zu beanstanden. Die im Fall II.8 der Urteilsgründe zwar erfüllte Tatbestandsalternative des Besitzes kinderpornographischer Schriften gemäß § 184 b Abs. 4 Satz 2 StGB ist ein Auffangtatbestand, der - was die Revision verkennt - hinter dem hier ausgeurteilten Tatbestand des Sichverschaffens dieser Schriften gemäß § 184 b Abs. 4 Satz 1 StGB zurücktritt (BGH NStZ 2009, 208; Fischer, StGB 57. Aufl. § 184 b Rdn. 28).

b) Ebenso wenig ist der Rechtsfolgenausspruch zu beanstanden. Ohne Rechtsfehler ist das Landgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass bei dem Angeklagten die Voraussetzungen des § 21 StGB nicht vorlagen, womit die Verhängung einer Maßregel nach § 63 StGB ausgeschlossen war. Es ist dem Sachverständigen in dessen Einschätzung gefolgt, dass bei dem Angeklagten pädophile Neigungen vorliegen. Ob dieses Störungsbild unter eines der Eingangsmerkmale der §§ 20, 21 StGB zu subsumieren ist und dadurch die Schuldfähigkeit des Angeklagten erheblich eingeschränkt ist, entscheidet nach sachverständiger Beratung das Gericht (BGH NStZ-RR 2006, 73). Bei seiner Beurteilung ist der Tatrichter nicht gehindert, von dem Gutachten eines vernommenen Sachverständigen abzuweichen. Dabei ist er - wie vorliegend geschehen - gehalten, sich mit dessen Darlegungen in einer Weise auseinanderzusetzen, die erkennen lässt, dass er mit Recht eigene Sachkunde in Anspruch genommen hat (BGH NStZ 2007, 114).

Hier hat das Landgericht die Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen in nachprüfbarer Weise wiedergegeben, sich damit auseinandergesetzt und seine abweichende Auffassung nachvollziehbar begründet. Da nicht jede Devianz in Form einer Pädophilie ohne Weiteres gleichzusetzen ist mit einer schweren anderen seelischen Abhängigkeit (BGH StV 2005, 20), war aufgrund einer Gesamtschau von Täterpersönlichkeit und Taten darauf abzustellen, ob seine Neigungen den Angeklagten im Wesen seiner Persönlichkeit so verändert haben, dass er zur Bekämpfung seiner Triebe nicht die erforderlichen Hemmungen aufbringt. Eine solche Prüfung hat die Strafkammer vorgenommen und im Einzelnen begründet, weshalb sie bei dem Angeklagten eine zwanghafte gedankliche Einengung auf Sexualverkehr mit Kindern ebenso wenig zu erkennen vermochte wie eine süchtige Entwicklung bzw. einen Ausbau des Raffinements zur Erlangung ungestörter Kontakte mit Kindern. Vielmehr sei der Angeklagte in der Lage, seine pädophilen Neigungen zu beherrschen. Diese gut und nachvollziehbar begründete Einschätzung ist möglich und damit revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Die dagegen und gegen die Strafzumessung im Übrigen erhobenen Einwände der Revision erschöpfen sich in dem revisionsrechtlich unbeachtlichen Versuch, eine eigene Beweiswürdigung - teils sogar auf urteilsfremder Grundlage - an die Stelle derjenigen des Landgerichts zu setzen.

c) Die fehlende Festsetzung der Einzelstrafe im Fall II.5 der Urteilsgründe war vom Senat in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO nachzuholen.

Das Verbot der Schlechterstellung (§ 358 Abs. 2 StPO) steht der Nachholung der Festsetzung nicht entgegen (BGHR StPO § 354 Abs. 1 Strafausspruch 10 m.w.N.). Auf Antrag des Generalbundesanwalts verhängt der Senat mit Blick auf die in jeder Hinsicht vergleichbaren Fälle II.2 bis 4 der Urteilsgründe im Fall II.5 ebenfalls eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 5 Euro.

HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 599

Bearbeiter: Karsten Gaede