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HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 489

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 43/09, Urteil v. 22.04.2009, HRRS 2009 Nr. 489


BGH 2 StR 43/09 - Urteil vom 22. April 2009 (LG Darmstadt)

Rechtsfehlerhafte Nichtanordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung bei Vermögensstraftaten (Vorverbüßung; Ermessen und Revisibilität; Umkehrwille; prognostizierbare Wirkungen des Strafvollzuges).

§ 66 Abs. 2 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 StGB setzt keine Vorverurteilung und mithin auch keine Vorverbüßung (längerer) Freiheitsstrafe voraus. Dass der Angeklagte bisher zu keinen längeren Strafen als zwei Jahre Freiheitsstrafe oder zwei Jahren zwei Monaten Jugendstrafe verurteilt worden ist, von denen er nicht mehr als jeweils mehrere Monate in Folge verbüßt hat, ist als solches ebenso wenig ein gegen die Anordnung der Sicherungsverwahrung sprechender Umstand wie die Tatsache, dass es dem Angeklagten in der Vergangenheit in einer Vielzahl von Fällen gelungen ist, von ihm begangene Straftaten einer anderen Person "in die Schuhe zu schieben".

2. Eine frühere Unbestraftheit oder nur geringfügige Vorstrafen können aber darauf hinweisen, dass es sich bei den jetzt abzuurteilenden Taten um ein Augenblicksversagen gehandelt hat und der Angeklagte in der Lage ist, seinen Hang zu kriminellen Taten zu beherrschen.

3. Die Erwartung, dass ein langjähriger Freiheitsentzug und das Fortschreiten des Lebensalters des Angeklagten bei diesem eine weitere Haltungsänderung bewirken werde, ist zwar bei der Ermessensausübung zu berücksichtigen (std. Rspr., vgl. BGH NStZ 1985, 261; 2004, 438; 2007, 401; StV 2008, 139, 140 Rdn. 8). Dies gilt jedoch nur dann, wenn sich aus den Feststellungen Anhaltspunkte dafür ergeben, dass eine Haltungsänderung beim Angeklagten bereits eingetreten ist oder erfahrungsgemäß eintreten wird.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 29. August 2008 bezüglich des Angeklagten B. jeweils mit den Feststellungen aufgehoben, soweit das Landgericht von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen hat und im Ausspruch der Gesamtstrafe.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision der Staatsanwaltschaft, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gewerbsmäßigen Betruges in Tateinheit mit gewerbsmäßiger Urkundenfälschung in zwölf Fällen, versuchten gewerbsmäßigen Betruges in Tateinheit mit gewerbsmäßiger Urkundenfälschung in zehn Fällen sowie wegen Urkundenfälschung in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit mittelbarer Falschbeurkundung und falscher Versicherung an Eides Statt zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt.

Dagegen richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft, die auf die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung beschränkt ist. Die Beschränkung ist jedoch hinsichtlich des Gesamtstrafenausspruchs unwirksam, weil das Landgericht die Bemessung der Gesamtstrafe mit der Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung verknüpft hat (UA S. 205, 209).

Das Rechtsmittel, das vom Generalbundesanwalt vertreten wird, hat Erfolg.

1. Nach den Feststellungen begann die kriminelle Karriere des jetzt 38jährigen Angeklagten, der weder über einen Schulabschluss noch über eine Berufsausbildung verfügt, bereits im frühen Jugendalter. Er wurde 1994 mit unbefristeter Wirkung aus dem Bundesgebiet ausgewiesen und in der Folgezeit mehrfach, zuletzt am 10. Mai 2006, in sein Heimatland Türkei abgeschoben, kehrte jedoch immer wieder nach kurzer Zeit illegal mit Hilfe gefälschter Ausweisdokumente zurück. Seinen vom Glücksspiel geprägten Lebensstil finanzierte er durch die Begehung von Straftaten. Der Angeklagte ist vielfach vorbestraft.

Zuletzt verurteilte ihn das Landgericht Hanau am 13. September 2004 wegen gewerbsmäßigen Betrugs in Tateinheit mit gewerbsmäßiger Urkundenfälschung in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren. Die Strafvollstreckung war am 10. Mai 2006 erledigt. Bei den jetzt abgeurteilten Betrugstaten hatte der Angeklagte ihm zuverlässig und vertrauenswürdig erscheinende türkische Landsleute angeworben und mit falschen Personalpapieren (u. a. gefälschten türkischen Pässen und gefälschten Verdienstbescheinigungen) ausgestattet, die dann gegen Entlohnung in der überwiegenden Anzahl der Fälle bei verschiedenen Banken Kredite beantragten und die ausgezahlten Kreditbeträge dem Angeklagten aushändigten. In anderen Fällen ließ der Angeklagte seine Mittäter mit Hilfe der falschen Personalpapiere Mobilfunkverträge oder Kaufverträge über Möbel und Elektrogeräte abschließen. Das Landgericht hat eine Einsatzstrafe von vier Jahren sowie weitere Einzelstrafen von drei Jahren und sechs Monaten (viermal), drei Jahren (viermal), zwei Jahren und sechs Monaten (dreimal), zwei Jahren und drei Monaten (dreimal), zwei Jahren (einmal), einem Jahr und neun Monaten (viermal), einem Jahr (zweimal) und neun Monaten (zweimal) verhängt und daraus die Gesamtstrafe von acht Jahren gebildet.

2. Die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung weist Rechtsfehler auf.

Die formalen Voraussetzungen des § 66 Abs. 2 StGB liegen vor. Sachverständig beraten hat die Strafkammer beim Angeklagten einen Hang zu erheblichen Straftaten festgestellt, aufgrund dessen ernsthaft zu besorgen sei, dass er weitere erhebliche Straftaten begehen werde. Zutreffend hat sie für die von ihr bejahte Gefährlichkeit des Angeklagten auf den Zeitpunkt der Hauptverhandlung abgestellt (std. Rspr.; vgl. u. a. BGH NStZ-RR 2004, 202; 2005, 337; NStZ 2007, 401). Gleichwohl hat sie in der Erwartung, "dass ein erstmals durchlebter, als einschneidend empfundener langjähriger Freiheitsentzug seine Wirkung nicht verfehlen und unter dem Eindruck eines erstmals langjährigen Strafvollzugs und mit dem Fortschreiten des Lebensalters des Angeklagten bei diesem eine weitere Haltungsänderung eintreten" werde, von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen.

Dies hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Die Entscheidung gemäß § 66 Abs. 2 StGB liegt zwar im pflichtgemäßen Ermessen des Tatrichters und ist deshalb der Kontrolle durch das Revisionsgericht nur begrenzt zugänglich (vgl. nur BGHR StGB § 66 Abs. 2 Ermessensentscheidung 2). Die hier von der Strafkammer maßgeblich für die Ablehnung der Sicherungsverwahrung herangezogenen Gesichtspunkte gehen jedoch teilweise von einem rechtlich nicht zutreffenden Ansatz aus, teilweise finden sie in den Feststellungen keine ausreichende Grundlage oder stehen sogar im Widerspruch hierzu.

a) Die Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 StGB setzt keine Vorverurteilung und mithin auch keine Vorverbüßung (längerer) Freiheitsstrafe voraus. Dass der Angeklagte bisher zu keinen längeren Strafen als zwei Jahre Freiheitsstrafe oder zwei Jahren zwei Monaten Jugendstrafe verurteilt worden ist, von denen er nicht mehr als jeweils mehrere Monate in Folge verbüßt hat, ist als solches ebenso wenig ein gegen die Anordnung der Sicherungsverwahrung sprechender Umstand wie die Tatsache, dass es dem Angeklagten in der Vergangenheit in einer Vielzahl von Fällen gelungen ist, von ihm begangene Straftaten seinem Bruder A., der seit 1992 unbekannten Aufenthalts ist, in die Schuhe zu schieben. Eine frühere Unbestraftheit oder nur geringfügige Vorstrafen könnten zwar darauf hinweisen, dass es sich bei den jetzt abzuurteilenden Taten um ein Augenblicksversagen gehandelt hat und der Angeklagte in der Lage ist, seinen Hang zu kriminellen Taten zu beherrschen. Hier aber weisen die Urteilsfeststellungen aus, dass der Angeklagte seit seiner frühen Jugend durchgängig Straftaten begangen hat.

b) Soweit die Strafkammer Ansätze eines Umkehrwillens (vgl. BGH, NStZ 2005, 212 Rdn. 6 f.) in der teilgeständigen Einlassung des Angeklagten und in dem von ihm ernsthaft geäußerten Therapiewillen erblickt, ist dies nicht ohne weiteres mit den Feststellungen vereinbar. Nach den Ausführungen des Sachverständigen, von deren Richtigkeit die Strafkammer überzeugt ist, besteht beim Angeklagten neben der pathologischen Spielsucht eine dissoziale Persönlichkeitsstörung mit histrionischen Persönlichkeitsanteilen, wobei bei ihm sogar das Vollbild des "Psychopathen" erfüllt ist, ohne dass seine Schuldfähigkeit bei den Taten erheblich eingeschränkt war. Eine hinreichende Bereitschaft und Fähigkeit, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen, konnte der Sachverständige nicht feststellen. Vielmehr schreibe der Angeklagte seinen deliktischen Lebensverlauf im Wesentlichen schicksalhaften und situativen Umständen zu und sehe sich selbst als generösen Menschen, der anderen stets zur Hilfe eile und wegen seiner Naivität immer nur ausgenutzt worden sei. Entsprechend habe er sich auch in der Hauptverhandlung eingelassen, wonach er seinen Mittätern E. und Bi. nur habe helfen wollen. Während der Angeklagte erkannt habe, dass hinsichtlich seiner Spielsucht - die die Strafkammer als weniger gravierend gewertet hat, weil er selbst ein eher kontrolliertes Spielverhalten geschildert habe - ein Behandlungsbedarf bestehe, sei eine echte Einsicht in das Bestehen der Persönlichkeitsstörung nicht erkennbar. Unter diesen Umständen hätte in den Urteilsgründen näher dargelegt werden müssen, weshalb die Strafkammer in der teilgeständigen Einlassung und dem offenbar allein auf die Spielsucht bezogenen Therapiewillen Ansätze eines (ernsthaften) Umkehrwillens erkannt hat.

c) Die Strafkammer hat die Erwartung geäußert, dass ein langjähriger Freiheitsentzug und das Fortschreiten des Lebensalters des Angeklagten bei diesem eine weitere Haltungsänderung bewirken werde. Zwar sind diese Umstände bei der Ermessensausübung zu berücksichtigen (std. Rspr., vgl. BGH NStZ 1985, 261; 2004, 438; 2007, 401; StV 2008, 139, 140 Rdn. 8). Dies gilt jedoch nur dann, wenn sich aus den Feststellungen Anhaltspunkte dafür ergeben, dass eine Haltungsänderung beim Angeklagten bereits eingetreten ist oder erfahrungsgemäß eintreten wird. Daran fehlt es hier. Vielmehr lässt insbesondere die dissoziale Persönlichkeitsstörung, die zu durchgängig kriminellem Verhalten seit frühester Jugend geführt hat, befürchten, dass der Angeklagte auch während des Strafvollzugs keinen gangbaren Weg für ein Leben ohne Straftaten finden wird. Das Lebensalter von 44 Jahren bei Entlassung aus der Strafhaft nach Vollverbüßung stünde weiteren Straftaten der bisher begangenen Art offensichtlich nicht entgegen (vgl. BGH NStZ 2002, 30, 31 Rdn. 10 f.).

d) Die Erwägung, bei den vom Angeklagten zu erwartenden Straftaten handele es sich allenfalls um solche der mittleren Kriminalität (vgl. BGH StV 2005, 129), steht bereits im Widerspruch zu den Ausführungen bei der Strafzumessung, wonach es sich unter Berücksichtigung der bisherigen Frequenz und des Ausmaßes des aus den der aktuellen Verurteilung zugrunde liegenden Taten resultierenden Gesamtschadens von über 200.000 € um erhebliche Straftaten handelt. Dagegen spricht auch die Höhe der vom Landgericht in den einzelnen Fällen verhängten Freiheitsstrafen von bis zu vier Jahren.

3. Die Aufhebung der Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung erfordert auch die Aufhebung der an sich nicht zu beanstandenden Gesamtfreiheitsstrafe.

Angesichts der vom Landgericht angestellten Erwägungen zur Erforderlichkeit und zu den Auswirkungen einer empfindlichen Gesamtfreiheitsstrafe mit der Folge der Verneinung der Notwendigkeit einer Sicherungsverwahrung (UA S. 205, 209) kann der Senat nicht ausschließen, dass die Strafkammer, hätte sie die Sicherungsverwahrung angeordnet, eine geringere Gesamtstrafe verhängt hätte.

HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 489

Externe Fundstellen: NStZ 2010, 272

Bearbeiter: Karsten Gaede