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HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 953

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 280/09, Beschluss v. 30.09.2009, HRRS 2009 Nr. 953


BGH 2 StR 280/09 - Beschluss vom 30. September 2009 (LG Erfurt)

Rechtsfehlerhaft dokumentiertes Selbstleseverfahren (Dokumentation der Kenntnisnahme durch die Berufsrichter im Hauptverhandlungsprotokoll; Vorhalt; Beruhen; Untersagung des Freibeweises).

§ 261 StPO; § 249 Abs. 2 StPO; § 273 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Macht das Tatgericht von der Möglichkeit des Selbstleseverfahrens nach § 249 Abs. 2 StPO Gebrauch, müssen sowohl die Berufsrichter als auch die Schöffen vom Wortlaut der Urkunden Kenntnis nehmen, diese also tatsächlich gelesen haben. Eine Differenzierung hinsichtlich der Vorgehensweise zwischen Berufsrichtern und Schöffen ist unzulässig (BGH NStZ 2001, 161; 2005, 160; vgl. insoweit auch KK-Diemer, StPO 6. Aufl. § 249 Rdn. 36, 39). Die übrigen Beteiligten müssen Gelegenheit zur Kenntnisnahme vom Wortlaut gehabt haben.

2. Der Vorsitzende muss gemäß § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO die Feststellung über die Kenntnisnahme sowie die Gelegenheit hierzu in das Protokoll aufnehmen. Dabei handelt es sich um eine wesentliche Förmlichkeit im Sinne des § 273 StPO (vgl. BGH NStZ 2000, 47; 2001, 161; 2005, 160; StV 2000, 603, 604). Der Nachweis hierüber kann somit nur durch das Protokoll geführt werden (§ 274 StPO).

3. Wurde die Feststellung der Kenntnisnahme durch die Richter sowie der Gelegenheit hierzu für die übrigen Verfahrensbeteiligten nicht protokolliert, ist somit aufgrund der negativen Beweiskraft des Protokolls davon auszugehen, dass das Beweismittel nicht zur Kenntnis gelangt ist bzw. die Gelegenheit hierzu nicht eingeräumt worden ist (vgl. BGH NStZ 2005, 160; NJW 2009, 2836).

4. Dem Revisionsgericht ist verwehrt, hierzu freibeweisliche Ermittlungen anzustellen. Die Beweiskraft des - hier auch nach Erhebung der Verfahrensrüge nicht berichtigten (vgl. dazu auch BGH NJW 2009, 2836) - Protokolls kann nur bei offenkundiger Fehler- oder Lückenhaftigkeit entfallen; solches ist hier nicht ersichtlich. Eine Lückenhaftigkeit ergibt sich nicht etwa schon daraus, dass die Anordnung des Selbstleseverfahrens, nicht aber die nach § 249 Abs. 2 StPO notwendige Feststellung über dessen erfolgreiche Durchführung vermerkt ist. Die Anordnung des Selbstleseverfahrens lässt keinen Schluss auf die weitere Beachtung des Verfahrens nach § 249 Abs. 2 StPO zu (vgl. BGH NStZ 2000, 47 m.w.N.).

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 9. Januar 2009 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit er verurteilt worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen "sexueller Nötigung - Vergewaltigung -" zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten mit Bewährung verurteilt; von dem Vorwurf einer weiteren Vergewaltigung hat es ihn freigesprochen.

Hiergegen wendet sich die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat mit der Verfahrensrüge Erfolg; auf die Sachrüge kommt es daher nicht an.

Mit Recht beanstandet der Beschwerdeführer das durchgeführte Selbstleseverfahren (§§ 261, 249 Abs. 2 StPO).

Der Vorsitzende der Jugendschutzkammer hat am ersten Hauptverhandlungstag die Durchführung des Selbstleseverfahrens nach § 249 Abs. 2 StPO für eine Vielzahl von zwischen dem Angeklagten und der Geschädigten ausgetauschten SMS-Nachrichten angeordnet und den Schöffen diese Kurznachrichten in Kopie zur Verfügung gestellt. Am zweiten Hauptverhandlungstag hat der Vorsitzende lediglich festgestellt, dass die SMS-Nachrichten den Schöffen im Wege des Selbstleseverfahrens zur Kenntnis gelangt sind. Bis zum Abschluss der Hauptverhandlung findet sich dagegen kein Eintrag im Protokoll, dass auch die Berufsrichter vom Wortlaut der Nachrichten Kenntnis genommen haben und die übrigen Beteiligten hierzu Gelegenheit hatten.

Macht das Tatgericht von der Möglichkeit des Selbstleseverfahrens nach § 249 Abs. 2 StPO Gebrauch, müssen sowohl die Berufsrichter als auch die Schöffen vom Wortlaut der Urkunden Kenntnis nehmen, diese also tatsächlich gelesen haben. Eine Differenzierung hinsichtlich der Vorgehensweise zwischen Berufsrichtern und Schöffen ist unzulässig (BGH NStZ 2001, 161; 2005, 160; vgl. insoweit auch KK-Diemer, StPO 6. Aufl. § 249 Rdn. 36, 39). Die übrigen Beteiligten müssen Gelegenheit zur Kenntnisnahme vom Wortlaut gehabt haben.

Der Vorsitzende muss gemäß § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO die Feststellung über die Kenntnisnahme sowie die Gelegenheit hierzu in das Protokoll aufnehmen. Dabei handelt es sich um eine wesentliche Förmlichkeit im Sinne des § 273 StPO (vgl. BGH NStZ 2000, 47; 2001, 161; 2005, 160; StV 2000, 603, 604). Der Nachweis hierüber kann somit nur durch das Protokoll geführt werden (§ 274 StPO).

Wurde die Feststellung der Kenntnisnahme durch die Richter sowie der Gelegenheit hierzu für die übrigen Verfahrensbeteiligten nicht protokolliert, ist somit aufgrund der negativen Beweiskraft des Protokolls davon auszugehen, dass das Beweismittel nicht zur Kenntnis gelangt ist bzw. die Gelegenheit hierzu nicht eingeräumt worden ist (vgl. BGH NStZ 2005, 160; NJW 2009, 2836).

Dem Revisionsgericht ist damit verwehrt, hierzu freibeweisliche Ermittlungen anzustellen. Die Beweiskraft des - hier auch nach Erhebung der Verfahrensrüge nicht berichtigten (vgl. dazu auch BGH NJW 2009, 2836) - Protokolls kann nur bei offenkundiger Fehler- oder Lückenhaftigkeit entfallen; solches ist hier nicht ersichtlich. Eine Lückenhaftigkeit ergibt sich nicht etwa schon daraus, dass die Anordnung des Selbstleseverfahrens, nicht aber die nach § 249 Abs. 2 StPO notwendige Feststellung über dessen erfolgreiche Durchführung vermerkt ist.

Denn die Anordnung des Selbstleseverfahrens lässt keinen Schluss auf die weitere Beachtung des Verfahrens nach § 249 Abs. 2 StPO zu (vgl. BGH NStZ 2000, 47 m.w.N.).

Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Verurteilung des Angeklagten auf dem aufgezeigten Verfahrensverstoß beruht (§ 337 Abs. 1 StPO). Das Landgericht hat sich sowohl bei der Überführung des die Tat bestreitenden Angeklagten als auch bei der Frage, ob es sich um eine Jugendverfehlung handele, auf die den gewechselten Kurznachrichten entnommene Ankündigung des Angeklagten gestützt, mit dem Opfer auch gegen dessen Willen geschlechtlich zu verkehren. Der Inhalt der im Urteil auf 12 Seiten wiedergegebenen SMS-Nachrichten konnte nicht im Wege des Vorhalts in die Hauptverhandlung eingeführt werden (vgl. BGH NStZ 2001, 161; BGHR StPO § 249 Abs. 1 Verlesung, unterbliebene 1).

HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 953

Externe Fundstellen: StV 2010, 225

Bearbeiter: Karsten Gaede