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HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 569

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 19/07, Beschluss v. 18.04.2007, HRRS 2007 Nr. 569


BGH 2 StR 19/07 - Beschluss vom 18. April 2007 (LG Kassel)

Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen (Schutzaltersgrenze; Missbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses; Täterschaft und Teilnahme [Beihilfe] beim eigenhändigen Delikt).

§ 174 Abs. 1 StGB; § 13 StGB; § 27 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Der sexuelle Missbrauch von Schutzbefohlenen ist ein eigenhändiges Delikt, das nur derjenige als Täter verwirklichen kann, der mit dem Tatopfer körperlich in Berührung kommt (BGHSt 41, 242); täterschaftliches Handeln durch Unterlassen ist deshalb nicht möglich.

2. Entscheidet der Tatrichter nicht über alle angeklagten Taten im prozessualen Sinne, etwa weil er irrtümlich über einen Antrag der Staatsanwaltschaft gem. § 154 Abs. 2 StPO nicht befindet, die betroffenen Taten aber auch nicht aburteilt, so bleiben diese Taten auch dann bei dem Tatgericht anhängig, wenn gegen das wegen der übrigen Taten ergangene Urteil Revision eingelegt wird. Die unterlassene Einstellung des Verfahrens kann daher nicht vom Revisionsgericht nachgeholt werden.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten P. S. wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 26. Juni 2006 - soweit es ihn betrifft - mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben

a) soweit der Angeklagte im Fall II 36 verurteilt wurde und

b) im Gesamtstrafenausspruch.

2. Auf die Revision der Angeklagten M. S. wird das genannte Urteil - soweit es sie betrifft - mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

4. Das weitergehende Rechtsmittel des Angeklagten P. S. wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten P. S. wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 36 Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit sexueller Nötigung, wobei es in einem Fall beim Versuch blieb, zu der Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen.

Die Angeklagte M. S. hat das Landgericht wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 14 Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt.

Die Angeklagten rügen mit ihren Rechtsmitteln die Verletzung materiellen Rechts, der Angeklagte P. S. auch die Verletzung des formellen Rechts. Die Rechtsmittel haben in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg. Das weitergehende Rechtsmittel des Angeklagten P. S. ist unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

1. Revision des Angeklagten P. S.

a) Im Fall II 35 hat das Landgericht den Angeklagten wegen sexueller Nötigung (§ 177 Abs. 1 StGB) in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen (§ 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB) zu der Einzelfreiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt.

Der Schuldspruch auch wegen des tateinheitlichen Vergehens nach § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB hält der sachlichrechtlichen Prüfung nicht stand. Die durch diese Tat geschädigte Stieftochter Si-Yen ist am 24. Dezember 1985 geboren, die Tat wurde im Sommer 2002 begangen (UA S. 12). Damit war die Geschädigte zur Tatzeit älter als 16 Jahre und hatte die Schutzaltersgrenze des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB bereits überschritten.

Der Angeklagte hat nach den Feststellungen des Landgerichts aber den mit einer höheren Schutzaltersgrenze von 18 Jahren versehenen Tatbestand des § 174 Abs. 1 Nr. 2 StGB erfüllt, weil zwischen ihm und der Stieftochter ein Erziehungsverhältnis bestand und er die Tat unter Missbrauch der mit diesem Erziehungsverhältnis verbundenen Abhängigkeit begangen hat. Der Angeklagte nahm nach den Feststellungen maßgeblichen Einfluss auf die Erziehung der Stieftochter. Diese hatte 2001 gegenüber ihrem leiblichen Vater erklärt, sie werde zu den Übergriffen des Angeklagten gegenüber ihrer jüngeren Schwester beim Jugendamt oder der Polizei nichts sagen, weil sie fürchtete, dann den Haushalt ihrer Mutter (und des Angeklagten) wieder verlassen zu müssen (UA S. 28). Die Geschädigte war mit den sexuellen Handlungen des Angeklagten - im Gegensatz zu ihrer Schwester (UA S. 36) - nicht einverstanden. Der Angeklagte nutzte die Situation innerhalb der Familienwohnung und die aufgrund seiner Erziehungsfunktion dominierende Stellung aus, um sexuelle Handlungen an seiner Stieftochter vorzunehmen. Darüber hinaus wollte er mit ihr den Geschlechtsverkehr vollziehen. Erst die Rückkehr der mitangeklagten Ehefrau hielt ihn von der Fortsetzung der Tat ab.

Dem Austausch der Tatbestandsvarianten steht § 265 StPO nicht entgegen, weil sich der Angeklagte insoweit auch nach einem rechtlichen Hinweis nicht erfolgreicher hätte verteidigen können. Der Schuldspruch auch wegen tateinheitlichen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen wird durch den Austausch der Tatbestands-Varianten nicht berührt. Eine ausdrückliche Schuldspruchänderung ist deshalb nicht veranlasst. Auch die vom Landgericht für die Tat II 35 verhängte Einzelfreiheitsstrafe kann bestehen bleiben. Ein minder schwerer Fall der sexuellen Nötigung im Sinne von § 177 Abs. 5 StGB lag fern und musste daher vom Landgericht nicht ausdrücklich erörtert werden.

b) Die Verurteilung wegen versuchter sexueller Nötigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen zum Nachteil der Stieftochter Si-Yen im Fall II 36 kann jedoch keinen Bestand haben.

Nach den Feststellungen hat der Angeklagte versucht, Si-Yen in der Küche an die Brust zu fassen. Um ihre Gegenwehr zu unterbinden, legte er ihr einen Koffergurt um den Oberkörper und zog den Gurt zu. Erst nach langer Zeit gelang es Si-Yen, sich aus der Fesselung zu befreien. Die mitangeklagte Mutter sah dem Treiben unbeteiligt zu und lachte. Ergänzend führt das Landgericht im Rahmen der Beweiswürdigung lediglich aus, dass sich für den Angeklagten infolge der Fesselung die Möglichkeit geboten habe sein Vorhaben, seine Stieftochter an der Brust zu berühren, in die Tat umzusetzen (UA S. 31).

Auf der Grundlage dieser Feststellungen lässt sich weder überprüfen, ob der Angeklagte vom Versuch der sexuellen Nötigung strafbefreiend zurückgetreten ist oder ob ein Rücktritt wegen Vollendung der Tat nicht mehr möglich war, noch, ob es über die Fesselung hinaus überhaupt zu einer sexuellen Handlung des Angeklagten an seiner Stieftochter gekommen ist. Aus welchen Gründen der Angeklagte von seinem Vorhaben, sexuelle Handlungen an Si-Yen vorzunehmen, abließ, ob freiwillig oder in Anbetracht des drohenden "Ausrastens" der Geschädigten (UA S. 31), ergibt sich aus den Urteilsgründen nicht.

Insoweit ist das Urteil daher im Schuld- und Einzelstrafenausspruch aufzuheben. Auch die Gesamtfreiheitsstrafe kann danach nicht bestehen bleiben.

c) Im Umfang der Aufhebung ist die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen, weil nicht ausgeschlossen ist, dass in einer neuen Hauptverhandlung die bisher fehlenden Feststellungen zu der Tat II 36 getroffen werden können.

2. Revision der Angeklagten M. S.

Der Schuldspruch wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in den Fällen II 22 bis 34 und 36 hält der sachlichrechtlichen Prüfung nicht stand.

In den Fällen II 22 bis 34 hat das Landgericht festgestellt, dass es im Wohnzimmer der Familienwohnung an Wochenenden zwischen dem Angeklagten P. S. und der Stieftochter Angela zu sog. "Familienspielen" kam. Sie führten dazu, dass sich der Angeklagte P. S. und Angela gegen den gespielten Widerstand des anderen gegenseitig ganz oder teilweise auszogen. Dabei kam es auch dazu, dass sie sich an den Geschlechtsteilen anfassten. Die anwesende Angeklagte M. S. beteiligte sich mindestens zweimal aktiv an diesen "Familienspielen", blieb im Übrigen aber passiv, ohne gegen diese Handlungen einzuschreiten. Das Landgericht hat 13 derartige Vorfälle festgestellt, wobei sich die Angeklagte M. S. am ersten und letzten Vorfall aktiv beteiligt habe (UA S. 10 ff.).

Diese Feststellungen tragen den Schuldspruch wegen täterschaftlichen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 13 Fällen nicht. Der sexuelle Missbrauch von Schutzbefohlenen ist ein eigenhändiges Delikt, das nur derjenige als Täter verwirklichen kann, der mit dem Tatopfer körperlich in Berührung kommt (BGHSt 41, 242). Täterschaftliches Handeln durch Unterlassen ist deshalb bei diesem Tatbestand nicht möglich. Weder in den elf Fällen, in denen die Angeklagte M. S. passiv blieb (Fälle II 23 bis 33) noch in den beiden Fällen (II 22 und 34), in denen sich die Angeklagte aktiv an den Vorfällen beteiligt haben soll, ist aber ein körperlicher Kontakt der Angeklagten mit ihrer Tochter Angela festgestellt, sodass ein täterschaftlicher Missbrauch nicht hinreichend belegt ist. Sollten sich insoweit auch in der neuen Hauptverhandlung keine konkreten Feststellungen treffen lassen, kommt jedoch eine Strafbarkeit der Angeklagten wegen Beihilfe zu den Taten des Mitangeklagten P. S. in Betracht (vgl. BGHSt aaO S. 246).

Aus den gleichen Gründen hat auch die Verurteilung der Angeklagten als Täterin eines sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen zum Nachteil ihrer Tochter Si-Yen im Fall II 36 keinen Bestand. Auch insoweit ist ein Körperkontakt der Angeklagten mit ihrer Tochter im Zusammenhang mit dem Tatgeschehen nicht festgestellt, sodass hier ebenfalls nur eine Beihilfehandlung der Angeklagten zur Haupttat des Mitangeklagten P. S. in Betracht kommt, wenn der neue Tatrichter hierzu keine weiteren Feststellungen treffen kann.

Eine Änderung des Schuldspruchs durch den Senat wäre hier nicht sachgerecht, weil nicht auszuschließen ist, dass in einer neuen Hauptverhandlung weitere Feststellungen zu den Anklagevorwürfen getroffen werden können. Zudem steht § 265 StPO entgegen.

Mit der Aufhebung des Schuldspruchs ist der gesamte Strafausspruch gegenstandlos.

3. Das Landgericht hat zudem die erhobene Anklage bisher nicht erschöpfend behandelt. Die Staatsanwaltschaft hat in der Hauptverhandlung zwei Anträge nach § 154 Abs. 2 StPO gestellt. Diese Anträge betrafen beide Angeklagte. Den Akten lässt sich jedoch nicht entnehmen, dass das Landgericht über diese Anträge entschieden hat. Dies hat bei dem Angeklagten P. S. zur Folge, dass unter Berücksichtigung des Schuldspruchs wegen 36 Taten und des Teilfreispruchs wegen fünf Taten (UA S. 34 bis 36) von den 103 angeklagten Taten noch 62 bei der bisher zuständigen Jugendschutzkammer des Landgerichts anhängig sind. Die Angeklagte M. S. ist wegen 41 Taten angeklagt worden. Auch insoweit sind nach der Verurteilung wegen 14 Taten noch 27 Fälle bei der Jugendschutzkammer des Landgerichts anhängig. Die noch nicht erledigten Anklagevorwürfe können nicht im Revisionsverfahren erledigt werden, zuständig hierfür ist die bisherige Jugendschutzkammer (vgl. BGHR StPO § 352 Abs. 1 Prüfungsumfang 4).

HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 569

Externe Fundstellen: NStZ 2007, 699

Bearbeiter: Ulf Buermeyer