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HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 774

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 135/07, Beschluss v. 27.06.2007, HRRS 2007 Nr. 774


BGH 2 StR 135/07 - Beschluss vom 27. Juni 2007 (LG Kassel)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Gefährlichkeitsprognose).

§ 63 StGB

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 4. Dezember 2006 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung und versuchter Vergewaltigung zu einer Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Seine auf Verfahrensrügen und die Sachrüge gestützte Revision führt mit der Sachrüge zur Aufhebung des Rechtsfolgenausspruchs; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

1. Der Schuldspruch begegnet im Ergebnis keinen durchgreifenden Bedenken. Die Verfahrensrügen sind, soweit sie zulässig erhoben sind, unbegründet. Die Revision wendet sich mit ihnen, ebenso wie mit der Sachrüge, letztlich gegen die Beweiswürdigung des Landgerichts. Diese lässt einen durchgreifenden Rechtsfehler aber nicht erkennen. Die Jugendkammer hat die Besonderheiten des Falles gesehen und ausführlich in den Urteilsgründen erörtert. Die für den Angeklagten sprechenden Indizien hat sie gesehen, jedoch die belastende Aussage der Nebenklägerin auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung, die Rechtsfehler nicht erkennen lässt, als glaubhaft angesehen. Diese Würdigung ist vom Revisionsgericht hinzunehmen; dass auch andere Schlüsse möglich gewesen wären, steht dem nicht entgegen.

2. Auch die Zumessung der Jugendstrafe weist für sich allein keinen Rechtsfehler auf. Jedoch war, entsprechend dem Antrag des Generalbundesanwalts, der Rechtsfolgenausspruch insgesamt aufzuheben, weil das Landgericht mit nicht tragfähiger Begründung von der Anordnung einer Maßregel nach § 63 StGB abgesehen hat. Die Nichtanordnung ist, auch nach Zustellung des Antrags der Bundesanwaltschaft, vom Revisionsangriff nicht ausgenommen worden.

a) Nach den Feststellungen der Jugendkammer leidet der inzwischen 21-jährige Angeklagte aufgrund einer perinatalen Hirnschädigung (UA S. 24) an einem hirnorganischen Psychosyndrom, das als krankhafte seelische Störung im Sinne von § 20 StGB einzuordnen ist und zur erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit bei den gegen die Lebensgefährtin des Vaters des Angeklagten gerichteten Taten geführt hat. Er zeigt ausgeprägte Symptome des sog. Asperger-Syndroms, einer Form des Autismus, sowie des sog. Tourette-Syndroms (UA S. 4, 24). Seit früher Kindheit zeigte er erhebliche Verhaltensauffälligkeiten, namentlich unkontrolliert aggressives Verhalten; er war vielfach zur stationären Behandlung in Heimen, Krankenhäusern und Jugendhilfe-Einrichtungen untergebracht. Zum Zeitpunkt des Urteils war keine therapeutische Einrichtung ersichtlich, die zur Aufnahme des Angeklagten bereit wäre (UA S. 6).

b) Zur Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus hat das Landgericht nach Vernehmung einer Sachverständigen ausgeführt, bei psychologischen Testverfahren ("kriminelle Persönlichkeit" und Neigung zu Gewalttaten) habe der Angeklagte mittlere Punktwerte erreicht, beim Test "Vorhersage sexueller Gewalttaten" nur einen geringen Punktwert. Die Sachverständige habe die Gefahr weiterer Gewalttaten als "mittelgradig bis hoch" eingeschätzt. Dies erfülle die Voraussetzungen des § 63 StGB nicht; denn hiernach sei eine "hochgradige Wahrscheinlichkeit weiterer Sexualstaftaten" Voraussetzung für die Maßregelanordnung (UA S. 30 f.).

Diese Ausführungen rechtfertigen die Ablehnung einer Anordnung nach § 63 StGB nicht. Soweit sich das Landgericht auf die Ergebnisse von Testverfahren stützt, fehlen schon Darlegungen zur Bewertung der angewandten Verfahren und zum Beweiswert der Ergebnisse. Soweit - was aus den Urteilsgründen nicht klar wird - der Tatrichter von der Beurteilung der Sachverständigen abgewichen ist, fehlen Hinweise darauf, aus welchen Gründen und aufgrund welcher eigenen Sachkunde dies geschehen ist. Schließlich legen die Ausführungen des Urteils die Annahme nahe, das Landgericht sei von einem unzutreffenden Maßstab ausgegangen und habe der Entscheidung überspannte Anforderungen zugrunde gelegt. § 63 StGB setzt weder die Gefahr weiterer gleichartiger Taten noch eine vom Landgericht für erforderlich gehaltene hochgradige Wahrscheinlichkeit voraus (vgl. Tröndle/Fischer StGB § 63 Rdn. 15 ff. mit Nachw. zur Rspr.).

c) Aus § 5 Abs. 3 JGG folgt, dass über die Verhängung von Jugendstrafe und die Anordnung der freiheitsentziehenden Maßregel nur aufgrund einheitlicher Betrachtung entschieden werden kann. Der Rechtsfolgenausspruch war daher insgesamt aufzuheben.

HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 774

Bearbeiter: Ulf Buermeyer