hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 240

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 348/05, Urteil v. 25.01.2006, HRRS 2006 Nr. 240


BGH 2 StR 348/05 - Urteil vom 25. Januar 2006 (LG Darmstadt)

Mord (niedrige Beweggründe; Einsichtsfähigkeit); Totschlag; Schuldfähigkeit (Persönlichkeitsstörung); Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Beziehungstat, Einzelfall); Urteilsgründe.

§ 211 StGB; § 212 StGB; § 20 StGB; § 21 StGB; § 16 Abs. 1 StGB; § 267 Abs. 3 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung sagt allein nichts darüber aus, ob diese im Sinne der §§ 20, 21 StGB "schwer" ist. Hierfür ist maßgebend, ob es im Alltag außerhalb des angeklagten Delikts zu Einschränkungen des beruflichen und sozialen Handlungsvermögens gekommen ist. Die Ausführungen im Urteil dürfen insoweit nicht allgemein gehalten sein und etwa nur Persönlichkeitsmerkmale anführen, die ohnehin innerhalb der Bandbreite menschlichen Verhaltens liegen.

Entscheidungstenor

1. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin gegen das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 22. April 2005 werden verworfen.

2. Die Kosten der Revision der Staatsanwaltschaft sowie die dem Angeklagten hierdurch und seine durch die Revision der Nebenklägerin entstandenen notwendigen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt.

Die Nebenklägerin trägt die Kosten ihres Rechtsmittels. Die im Revisionsverfahren entstandenen gerichtlichen Auslagen tragen die Staatskasse und die Nebenklägerin je zur Hälfte.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt und die Einziehung des sichergestellten Tatmessers angeordnet.

Gegen dieses Urteil richten sich die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin. Sie rügen die Verletzung materiellen Rechts. Sie erstreben eine Verurteilung des Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie die Anordnung einer Maßregel nach § 63 StGB oder § 66 StGB. Die Staatsanwaltschaft hält zudem die Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 StGB für rechtsfehlerhaft.

Die Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin haben keinen Erfolg.

I.

1. Das Landgericht hat im Wesentlichen folgenden Sachverhalt festgestellt:

Der Angeklagte und die später geschädigte Nebenklägerin waren bis Februar 2004 miteinander verheiratet. Der Angeklagte neigt zu impulsiven Ausbrüchen und überschießenden Reaktionen, die auf eine Persönlichkeitsstörung impulsiven Typus zurückgehen. In der Ehe führte das dazu, dass er sehr leicht zornig und aggressiv wurde und seine Ehefrau und die aus der Ehe hervorgegangene Tochter schlug.

Seit geraumer Zeit vor der Tat versuchte der Angeklagte einen Geldbetrag von 7.500 € von der Nebenklägerin, mit der er schon längere Zeit nicht mehr zusammenlebte, zu erlangen. Unter anderem drohte er ihr, dass er sie umbringen bzw. sie "fertig machen" werde, wenn sie nicht bald zahle. Am frühen Morgen des 15. Juni 2004 suchte der Angeklagte die Wohnung der Geschädigten auf, um das Geld persönlich einzutreiben. Er war als Postzusteller verkleidet, hatte sich den Schädel rasiert, um so durch Täuschung den Zutritt zur Wohnung zu erlangen, und hatte sich zwei Rollen Klebeband und ein scharfes Küchenmesser mit einer Klingenlänge von 12,5 cm in eine Scannertasche eingesteckt. Das Messer sollte als Drohmittel eingesetzt werden. Die Tochter, die ihn wegen der Verkleidung nicht erkannte, öffnete die Tür, worauf der Angeklagte diese mit aller Kraft aufstieß, das Messer aus seiner Tasche zog und sodann die Tür abschloss und den Schlüssel einsteckte. Die Geschädigte schloss sich beim Anblick des Messers sofort in ihr Schlafzimmer ein. Dem Angeklagten gelang es nicht, die Tür mit dem Messer aufzuhebeln. Die Nebenklägerin öffnete sie aber, als der Angeklagte ihr drohte, dass er ansonsten die Tochter umbringen werde. Die Tochter floh in ihr Zimmer. Die Nebenklägerin versuchte den Angeklagten zu beruhigen. Dieser drehte sich während des nachfolgenden Gesprächs mit der Nebenklägerin, welches die private Situation und die Geldforderung zum Gegenstand hatte, eine Zigarette und rauchte diese. Die von einem Nachbarskind auf Veranlassung der Tochter herbeigerufene Polizei traf kurz darauf ein. Der Angeklagte bemerkte dies. Er war über das Verhalten seiner Familie enttäuscht und hatte Furcht vor der unmittelbar drohenden Verhaftung. Er entschloss sich deswegen spontan die Nebenklägerin zu töten und stach vielfach mit dem Messer auf sie ein. Diese erlitt lebensgefährliche Verletzungen, die ohne notärztliche Hilfe binnen weniger Minuten zum Tode geführt hätten. Sie stellte sich zunächst tot, so dass der Angeklagte davon ausging, das Opfer getötet zu haben. Er wusch sich das Blut von den Händen und vom Messer und versteckte dieses im Bad. Zu der in ihrem Zimmer weinenden und nach der Mutter rufenden Tochter sagte er: "Deine Mutter ist tot. Wein' nicht mehr. Basta!". Sodann bemerkte er, dass die Nebenklägerin doch noch nicht gestorben war. Er trat ihr zweimal mit voller Wucht gegen den Körper und sagte zu ihr: "Bist du noch nicht gestorben, du Hure. Stirb endlich! Stirb! Stirb!". Dabei ging der Angeklagte davon aus, dass die Geschädigte an ihren Verletzungen alsbald sterben werde. In diesem Moment drang die Polizei in die Wohnung ein und nahm den Angeklagten, der sich nicht wehrte, fest. Die Geschädigte überlebte auf Grund der sofortigen ärztlichen Hilfe.

2. Das Landgericht hat beim Angeklagten zum Zeitpunkt der Tat die Voraussetzungen des § 21 StGB bejaht. Es ist weiter davon ausgegangen, dass der Angeklagte "nur noch eingeschränkt in der Lage war, seine gefühlsmäßigen und triebhaften Regungen gedanklich zu beherrschen" und hat das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe beim Angeklagten ausgeschlossen, da ihm das entsprechende Bewusstsein gefehlt habe.

II.

Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin zeigen keine durchgreifenden Rechtsfehler auf. Der Schuldspruch wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung ist rechtlich nicht zu beanstanden; die Verneinung eines Mordmerkmals hält im Ergebnis rechtlicher Nachprüfung stand.

1. Die Ablehnung des Mordmerkmals "niedrige Beweggründe" wegen Fehlens eines entsprechenden Bewusstseins des Angeklagten weist keinen durchgreifenden Rechtsfehler auf. Das Landgericht durfte sich hier zur Verneinung des Mordmerkmals darauf stützen, dass dem Angeklagten wegen der bei ihm zur Tatzeit vorliegenden Voraussetzungen des § 21 StGB die subjektive Komponente des Mordmerkmals fehlte. Denn das Landgericht hat im Ergebnis zutreffend die Voraussetzungen des § 21 StGB beim Angeklagten zur Zeit der Tat bejaht. Die Formulierung der Strafkammer, "dass bei dem Angeklagten eine Persönlichkeitsstörung impulsiven Typus, also eine schwere andere seelische Abartigkeit im Sinne des § 20 StGB" vorliege (UA S. 19), deutet bei isolierter Betrachtung zwar darauf hin, dass die Kammer das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung und "schwere andere seelische Abartigkeit" gleichgesetzt hat. Das wäre rechtsfehlerhaft. Die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung sagt nichts darüber aus, ob sie im Sinne der §§ 20, 21 StGB "schwer" ist. Hierfür ist maßgebend, ob es im Alltag außerhalb des angeklagten Delikts zu Einschränkungen des beruflichen und sozialen Handlungsvermögens gekommen ist (vgl. BGH NStZ-RR 2004, 329; BGHSt 49, 45, 52 f.). Die Ausführungen im Urteil dürfen insoweit nicht allgemein gehalten sein und etwa nur Persönlichkeitsmerkmale anführen, die ohnehin innerhalb der Bandbreite menschlichen Verhaltens liegen (vgl. BGH NStZ-RR 2005, 75). Die Strafkammer führt hier jedoch aus, dass die diagnostizierte Persönlichkeitsstörung den Angeklagten erheblich beeinträchtigt, nämlich in Form eines unsteten persönlichen Lebensweges, Neigung zu übermäßigem und regelmäßigen Alkoholkonsum, leichte Verführbarkeit und ungehemmte Hingabe an seine Neigungen, sowie Bereitschaft zu beliebigen Gewaltausbrüchen (UA S. 20). Der Tatrichter gibt die Einschätzung des Sachverständigen hierzu wieder, dass die Störung den Lebensweg des Angeklagten schwer und mit ähnlichen Folgen wie eine krankhafte seelische Störung beeinträchtigte. Die konkrete Tat geschah in einer emotional zugespitzten Situation, bei der der Angeklagte plötzlich die Kontrolle über sich verloren und in "überschießender Weise" reagiert hat. Die Kammer hat sich auch mit den Tatvorbereitungshandlungen als Gegenargument auseinandergesetzt und dazu ausgeführt, dass der konkrete Tatauslöser die zugespitzte Situation war. Danach diente die Tatvorbereitung gerade nicht dem Tötungsdelikt. Angesichts der vorangegangenen Drohungen, die nur im Zusammenhang mit der Geldforderung standen, ist dieser Schluss möglich und nachvollziehbar. Wenn auch die Strafkammer im Rahmen der Feststellungen ausführt, dass der Angeklagte zum Tatzeitpunkt in seiner Steuerungsfähigkeit "nicht ausschließbar erheblich vermindert" gewesen sei (UA S. 8), es im Rahmen der Beweiswürdigung aber heißt, dass "der Angeklagte bei Begehung der Tat vermindert schuldfähig im Sinne des § 21 StGB war" und auch zunächst nicht klar gestellt wird, ob es sich um eine "erhebliche" Verminderung der Steuerungsfähigkeit handelt, so lässt sich doch dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe noch hinreichend entnehmen, dass die Strafkammer von einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit ausgegangen ist.

Vor diesem Hintergrund begegnet die Verneinung des Mordmerkmals der sonstigen niedrigen Beweggründe keinen durchgreifenden Bedenken. Nach den Feststellungen der Strafkammer fehlte dem Angeklagten im Augenblick der Tat auf Grund seiner Persönlichkeitsstörung und seiner aktuellen geistig-seelischen Verfassung die Fähigkeit, die Umstände, die die Niedrigkeit der Beweggründe ausmachen, in ihrer Bedeutung für die Tatausführung ins Bewusstsein aufzunehmen und zu erkennen und sie gedanklich zu beherrschen und gewollt zu steuern (vgl. Lackner StGB 25. Aufl. Rdn. 5 b zu § 211 StGB). Zwar kann die Frage, ob ein Täter sich der Umstände bewusst war, die den Tatantrieb als besonders verwerflich erscheinen lassen, grundsätzlich erst dann beantwortet werden, wenn die Motivation der Tat aufgeklärt ist (vgl. BGH NStZ 2001, 87; BGH NStZ 1996, 384, 385; Jähnke in LK 11. Aufl. § 211 Rdn. 34). Die Strafkammer hat hier keine niedrigen Beweggründe festgestellt. Der Angeklagte hat in der Hauptverhandlung geschwiegen. Ein nahe liegender niedriger Beweggrund, auf den der Tatrichter hätte schließen können, ist nicht ersichtlich.

2. Auch das Mordmerkmal der Heimtücke hat die Strafkammer im Ergebnis rechtsfehlerfrei verneint. Eine Arglosigkeit des Opfers ist - auch wenn sich die Situation zwischenzeitlich etwas beruhigt haben sollte - angesichts der Bewaffnung des Angeklagten, den Umständen seines Eindringens in die Wohnung, den früheren Gewalttätigkeiten und der Anweisung der Geschädigten an ihre Tochter, die Tür nicht zu öffnen, fernliegend.

3. Trotz der Vielzahl der Messerstiche drängte sich für den Tatrichter die Erörterung des Mordmerkmals Grausamkeit nicht auf, da der Angeklagte dem Opfer nicht in gefühlloser unbarmherziger Gesinnung Schmerzen oder Qualen zufügen, sondern ersichtlich nur das für die Tötung erforderliche Maß einhalten wollte.

4. Der Strafausspruch lässt keinen durchgreifenden Rechtsfehler erkennen. Dass der Tatrichter von der Milderungsmöglichkeit der §§ 21, 49 StGB Gebrauch gemacht hat, ist vom Revisionsgericht hinzunehmen, zumal dieser bei seiner nur beschränkt überprüfbaren Ermessensentscheidung durchaus berücksichtigt hat, dass der Angeklagte "durch sein vorangegangenes rechtswidriges Verhalten maßgeblich selbst zur Entstehung der Tatsituation beigetragen hat" (UA S. 26).

III.

Die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung ist rechtlich nicht zu beanstanden, da bereits die formellen Voraussetzungen hierfür nicht gegeben sind. Es fehlt für eine Anordnung der Maßregel nach § 66 Abs. 1 bzw. Abs. 3 Satz 1 StGB bereits an den notwendigen Vorverurteilungen oder Freiheitsentziehungen.

IV.

Die Verneinung der Voraussetzungen einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) begegnet keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Die Strafkammer folgt dem Sachverständigen, der die Tat als Ausdruck einer klassischen Beziehungsproblematik ansieht, die keine Rückschlüsse auf ein generell kriminelles Verhalten des Angeklagten und die Erwartung zukünftiger erheblicher Straftaten zulasse. Zwar kann auch die Gefährdung einer Person als Teil der Allgemeinheit für die Anwendung des § 63 StGB ausreichen, doch ist im vorliegenden konkreten Einzelfall die Beziehung endgültig beendet und es bestehen keine Anhaltspunkte für weitere Übergriffe.

V.

Die Kosten- und Auslagenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 und 2 StPO (vgl. hierzu im Einzelnen Senatsurteil vom 30. November 2005 - 2 StR 402/05 m.w.N.).

HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 240

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2006, 199

Bearbeiter: Ulf Buermeyer