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HRRS-Nummer: HRRS 2004 Nr. 733

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 82/04, Urteil v. 30.06.2004, HRRS 2004 Nr. 733


BGH 2 StR 82/04 - Urteil vom 30. Juni 2004 (LG Mühlhausen)

Notwehr; Erforderlichkeit der Notwehrhandlung (Schusswaffengebrauch); sozialethische Einschränkung des Notwehrrechts (Zurückweichen).

§ 32 StGB; § 212 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Nach notwehrrechtlichen Grundsätzen ist der Angegriffene berechtigt, dasjenige Abwehrmittel zu wählen, das eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet. Unter mehreren Abwehrmöglichkeiten ist er auf die für den Angreifer minder einschneidende nur dann verwiesen, wenn ihm Zeit zur Auswahl sowie zur Abschätzung der Gefährlichkeit zur Verfügung steht und die für den Angreifer weniger gefährliche Abwehr geeignet ist, die Gefahr zweifelsfrei und sofort endgültig auszuräumen (st. Rspr.).

2. Das Gesetz verlangt von einem rechtswidrig Angegriffenen nur dann, dass er die Flucht ergreift oder auf andere Weise dem Angriff ausweicht, wenn besondere Umstände sein Notwehrrecht einschränken, beispielsweise wenn er selbst den Angriff leichtfertig oder vorsätzlich provoziert hat. Etwas anderes gilt auch nicht für Polizeibeamte (vgl. BayObLG MDR 1991, 367).

Entscheidungstenor

Die Revisionen der Nebenkläger und der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Mühlhausen vom 9. Oktober 2003 werden verworfen.

Die Nebenkläger haben die Kosten ihrer Rechtsmittel und die dem Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen. Die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft und die dem Angeklagten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt.

Gründe

I.

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen. Dagegen richten sich die auf Verfahrensrügen und auf die Sachrüge gestützten Revisionen der Nebenkläger und die mit der Sachrüge begründete Revision der Staatsanwaltschaft.

Nach den Feststellungen hielt sich der später getötete B. am Abend des 27. Juli 2002 im Klubhaus in N. auf. Im Verlauf des Abends nahm er Alkohol und Kokain zu sich, wobei ihm der Alkoholkonsum äußerlich so gut wie nicht anzumerken war. B. verließ das Klubhaus am frühen Morgen des 28. Juli 2002 gemeinsam mit M. An der Ecke "T.straße/A." warfen sie Geld in einen Zigarettenautomaten, der jedoch keine Zigaretten ausgab. Verärgert schlugen beide jeweils mit einer lose herumliegenden Gehwegplatte auf den Automaten ein. Wegen des dadurch entstandenen Lärms riefen unabhängig voneinander zwei Zeugen um 4.27 Uhr bei der Polizei an und meldeten, daß Personen dabei seien, einen Automaten aufzubrechen.

Der Angeklagte, Polizeiobermeister bei der Polizeiinspektion N., und die Polizeiobermeisterin L. wurden daraufhin mit ihrem Streifenwagen zum Tatort geschickt. B. und M. versuchten, sich hinter einem Bierwagen zu verstecken. Der Angeklagte und POM L. näherten sich dem Bierwagen von der anderen Seite, wobei POM L. laut rief "Halt, stehenbleiben, Polizei!". Während M. hinter dem Bierwagen von POM L. festgenommen wurde, entwand sich B. dem Griff des Angeklagten und schlug in Kopfhöhe auf ihn ein. Der Angeklagte wich wegen der Schläge etwas zurück und forderte B. auf, sich hinzulegen. B. lief indes über eine Terrasse zwischen Tischen und Stühlen in Richtung T.straße davon, wobei er an einem der angeketteten Stühle zerrte. Der Angeklagte glaubte, B. wolle mit dem Stuhl gegen ihn vorgehen und zog sein Pfefferspray aus dem Koppel. B. fragte, "Willst Du mich erschießen?" Wegen des Abstandes und der Bewegung, in der sich beide befanden, hatte das eingesetzte Pfefferspray keine nennenswerte Wirkung.

Am Ende der Terrasse lagerte eine Palette Pflastersteine, links daneben lag ein ungeordneter Haufen dieser Pflastersteine mit einem Gewicht von jeweils etwa 3 Kilogramm. B. nahm mindestens einen dieser Steine auf und warf ihn in Richtung des Kopfes des Angeklagten, der ihm in einer Entfernung von drei bis vier Metern gegenüberstand. Aufgrund dieses Wurfes zog der Angeklagte seine Dienstwaffe und führte sie nach oben, um einen Warnschuß abzugeben. B. warf in diesem Augenblick mit großer Wucht einen zweiten Stein nach dem Angeklagten, der seinen Kopf nur knapp verfehlte, und drehte sich erneut nach hinten, um einen dritten Stein aufzuheben. Der Angeklagte erkannte, daß ihm durch die Würfe eine erhebliche Gefahr drohte, zog die Waffe nach unten, um B. in die Beine zu schießen und betätigte den Abzug der nicht vorgespannten Waffe. Der Schuß traf den sich gerade bückenden B. 81 cm über dem Boden in den Rücken und eröffnete die Aorta vollständig, so daß B. innerhalb kurzer Zeit verblutete.

Das Landgericht hat den Angeklagten freigesprochen, weil es die Tat durch Notwehr als gerechtfertigt angesehen hat (§ 32 StGB).

II.

1. Die von den Nebenklägern erhobenen Verfahrensrügen sind, soweit sie zulässig erhoben sind, aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet.

2. Die Nachprüfung des angefochtenen Urteils auf die von allen Revisionsführern erhobene Sachrüge hat keinen Rechtsfehler zu Gunsten des Angeklagten ergeben.

a) Die Beweiswürdigung des Landgerichts hält rechtlicher Nachprüfung stand. Die Würdigung der erhobenen Beweise ist Sache des Tatrichters. Sie ist vom Revisionsgericht grundsätzlich hinzunehmen, auch wenn auf der Grundlage des Beweisergebnisses eine abweichende Überzeugungsbildung möglich gewesen wäre oder sogar näher gelegen hätte. Das Revisionsgericht kann nur dann eingreifen, wenn die Beweiswürdigung rechtsfehlerhaft ist, etwa weil sie gegen Denkgesetze oder gesichertes Erfahrungswissen verstößt oder in sich widersprüchlich oder lückenhaft ist. Ein derartiger Rechtsfehler wird von den Beschwerdeführern nicht aufgezeigt und ist auch sonst nicht ersichtlich. Der von der Nebenklägerin behauptete Widerspruch zwischen den Zeugenaussagen und der Einlassung des Angeklagten besteht nicht. Die Zeugen E. und K. haben ein schnelles Ziehen, Zielen und Schießen bekundet, wobei sie ein Zielen mit ausgestrecktem Arm als Gegensatz zu einem Schießen aus der Hüfte bejaht haben. Diese Bekundung läßt sich mit der Einlassung des Angeklagten, er habe die Waffe zunächst nach oben geführt, um einen Warnschuß abzugeben, durchaus vereinbaren. Auch hinsichtlich der Würdigung des Landgerichts, B. habe sich im Moment der Schußabgabe nach einem weiteren Stein gebückt, zeigt die Revision keinen Fehler der Beweiswürdigung auf. Die im Urteil in Bezug genommenen Lichtbilder Nummer 7 und 8 weisen im Gegensatz zum Revisionsvorbringen aus, daß die Leiche des B. mit den Füßen unmittelbar neben losen Pflastersteinen lag.

b) Nicht zu beanstanden ist auch die Wertung des Tatrichters, dem Angeklagten habe im Moment des rechtswidrigen Angriffs kein erfolgversprechendes milderes Mittel zur Abwehr der Gefahr zur Verfügung gestanden. Angesichts der lebensgefährlichen Steinwürfe brauchte sich der Angeklagte auf das Risiko eines Warnschusses oder einfachen körperlichen Zwangs nicht einzulassen.

Er durfte sich vielmehr so wehren, daß die Gefahr sofort und endgültig gebannt war und zu diesem Zweck auch die Schußwaffe einsetzen, wenn auch nur in einer Art und Weise, die Intensität und Gefährlichkeit des Angriffs nicht unnötig überbot (vgl. BGHSt 27, 336, 337; BGH NJW 1980, 2263; NStZ 1981, 138; StV 1999, 143). Nach allgemeinen notwehrrechtlichen Grundsätzen ist der Angegriffene berechtigt, dasjenige Abwehrmittel zu wählen, das eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet; unter mehreren Abwehrmöglichkeiten ist er auf die für den Angreifer minder einschneidende nur dann verwiesen, wenn ihm Zeit zur Auswahl sowie zur Abschätzung der Gefährlichkeit zur Verfügung steht und die für den Angreifer weniger gefährliche Abwehr geeignet ist, die Gefahr zweifelsfrei und sofort endgültig auszuräumen (st. Rspr., vgl. BGHR StGB § 32 Abs. 2 Erforderlichkeit 5; BGH NStZ 1982, 285; 1983, 117; 1994, 581, 582; 2001, 591, 592; 2002, 140; StV 1999, 145, 146). Diese Voraussetzungen hat das Landgericht hier mit fehlerfreier Begründung verneint. Soweit die Staatsanwaltschaft in ihrer Revisionsbegründung bemängelt, der Tatrichter habe sich insoweit nur auf Vermutungen gestützt, zeigt auch sie keine Tatsachen auf, die belegen, daß ein Warnschuß und ein Zurückweichen des Angeklagten um einige Schritte den Angriff beendet hätten.

c) Dem Angeklagten konnte auch nicht angesonnen werden, vor dem Angriff des B. zurückzuweichen. Das Gesetz verlangt von einem rechtswidrig Angegriffenen nur dann, daß er die Flucht ergreift oder auf andere Weise dem Angriff ausweicht, wenn besondere Umstände sein Notwehrrecht einschränken (vgl. BGH NJW 1980, 2263), beispielsweise wenn er selbst den Angriff leichtfertig oder vorsätzlich provoziert hat. Etwas anderes gilt auch nicht für Polizeibeamte (vgl. BayObLG MDR 1991, 367). Die hier einschlägigen Bestimmungen des thüringischen Polizeiaufgabengesetzes schränken das individuelle Notwehrrecht nicht ein (§ 58 Abs. 2 PAG). Im Falle eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs auf Leib und Leben eines Polizeibeamten hängt die Frage, inwieweit dieser sich verteidigen darf, insbesondere nicht davon ab, welches Rechtsgut zuvor von dem Angreifer verletzt worden ist. Das zulässige Maß der erforderlichen Verteidigung im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB wird auch hier durch die konkreten Umstände des Angriffs bestimmt, insbesondere durch die Stärke und Gefährlichkeit des Angreifers und durch die dem Angegriffenen zur Verfügung stehenden Abwehrmittel. Das Notwehrrecht einschränkende besondere Umstände lagen hier nicht vor. Der Angeklagte durfte deshalb einen Schuß auf die Beine des sich nach einem weiteren Pflasterstein bückenden Angreifers richten, um diesen kampfunfähig zu machen. Die durch das Verreißen der Waffe bewirkte, an sich geringfügige Abweichung des Schusses vom gewollten Ziel, welche durch die Bewegung des Geschädigten zu einer tödlichen Verletzung geführt hat, verwirklicht das mit der Notwehrhandlung verbundene typische Risiko und ist daher von der Rechtfertigung umfaßt.

HRRS-Nummer: HRRS 2004 Nr. 733

Externe Fundstellen: NStZ 2005, 31

Bearbeiter: Ulf Buermeyer