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HRRS-Nummer: HRRS 2004 Nr. 254

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 371/03, Beschluss v. 07.01.2004, HRRS 2004 Nr. 254


BGH 2 StR 371/03 - Beschluss vom 7. Januar 2004 (LG Erfurt)

Überzeugungsbildung; Beweiswürdigung (Glaubwürdigkeit einer Zeugenaussage: sexueller Missbrauch, Kind, fehlende Aussagekonstanz, Sachverständigengutachten); Widerspruchsfreiheit der Urteilsgründe.

§ 261 StPO; § 244 Abs. 2 StPO; § 176 StGB

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 16. Juni 2003 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in vier Fällen, jeweils tateinheitlich mit sexuellem Mißbrauch von Schutzbefohlenen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Seine auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision hat Erfolg.

1. Nach den Urteilsfeststellungen hielt sich die damals 9-jährige Geschädigte von März 1997 bis 28. Februar 1998 in der Familie des Angeklagten auf. An einem nicht näher feststellbaren Tag im Sommer 1997 vollzog der Angeklagte in dem Gartenhaus auf dem Gartengrundstück der Familie den ungeschützten Beischlaf mit dem Kind. An weiteren drei nicht näher feststellbaren Tagen zwischen März 1997 und Februar 1998 kam es jeweils im Kinderzimmer der Familienwohnung zum ungeschützten Beischlaf. Die Geschädigte offenbarte die Taten im Januar 2001 ihrer Mutter und ihrer Schwester.

2. Die Beweiswürdigung, auf welche das Landgericht die Annahme von vier Taten gestützt hat, hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Erwägungen, die das Landgericht zur Glaubwürdigkeit der Geschädigten angestellt hat, lassen im Ergebnis nicht hinreichend erkennen, aufgrund welcher Beweisergebnisse der Tatrichter zur Feststellung der Einzeltaten gelangt ist.

a) Bei ihrer polizeilichen Vernehmung im März 2001 berichtete die Geschädigte, der Angeklagte habe in dem genannten Zeitraum "praktisch jeden Tag" mit ihr im Kinderzimmer der Wohnung den Geschlechtsverkehr vollzogen.

Einmal sei es in der Badewanne zum (vollendeten) Geschlechtsverkehr gekommen, einmal im Gartenhaus der Familie. Der erste Geschlechtsverkehr habe "Ende April 1997" im Kinderzimmer stattgefunden; sie habe hierbei nicht geblutet. Außerdem berichtete die Zeugin von einem (versuchten) Oralverkehr im Wohnzimmer der Wohnung.

Bei ihrer ermittlungsrichterlichen Vernehmung im Mai 2002 gab die Zeugin an, der erste Geschlechtsverkehr habe "im Winter 1997" stattgefunden; sie habe dabei geblutet. Der Angeklagte habe "fast jeden Tag" im Kinderzimmer den Geschlechtsverkehr mit ihr vollzogen; außerdem einmal in der Badewanne, einmal im Gartenhaus. Die Anklage legte dem Angeklagten sechs Taten vollendeten Geschlechtsverkehrs zur Last, nämlich drei Taten im Kinderzimmer (Taten 1 bis 3), eine im Wohnzimmer (Tat 4), eine im Badezimmer der Wohnung (Tat 5), eine im Gartenhaus (Tat 6). In der Hauptverhandlung hat die Geschädigte ausgesagt, der erste Geschlechtsverkehr habe "im August 1997" im Gartenhaus stattgefunden. Ein zweiter Geschlechtsverkehr habe im Schlafzimmer der Wohnung im Ehebett neben der schlafenden Ehefrau des Angeklagten stattgefunden. Außerdem sei es "zwei- bis dreimal" im Kinderzimmer zum Geschlechtsverkehr gekommen. In der Badewanne (wie in der ermittlungsrichterlichen Vernehmung berichtet) und im Wohnzimmer (wie bei der polizeilichen Vernehmung berichtet) sei es nicht zum Geschlechtsverkehr gekommen.

b) Das Landgericht hat die Aussage in der Hauptverhandlung als glaubhaft angesehen. Die Fälle 4 (Wohnzimmer) und 5 (Badezimmer) der Anklage hat es gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt. Im Rahmen der Beweiswürdigung hat es ausgeführt, es könne "das Schlafzimmer und das Wohnzimmer ... als Tatort nicht ausgeschlossen werden" (UA S. 24); es sei "nicht mehr genau im Einzelnen festzustellen, ob der Geschlechtsverkehr ausschließlich im Kinderzimmer oder auch im Schlafzimmer oder Badezimmer stattfand" (UA S. 25).

Dies sei aber unerheblich, denn die Geschädigte habe "die Wohnung als Tatort exakt angegeben". Die Widersprüche in den Zeitangaben und den Angaben zur Reihenfolge der Taten seien unschädlich, da sie den Kernbereich der Aussage unberührt ließen und es psychologischen Erkenntnissen entspreche, daß Personen sich Kalenderdaten schlecht merken können, wenn sie nicht mit wichtigen Ereignissen verknüpft sind (UA S. 24 f.).

c) Auf dieser Grundlage begegnet die Feststellung der Einzeltaten durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Das Landgericht teilt nicht mit, aufgrund welcher Erwägungen es zur Feststellung von drei Taten im Kinderzimmer gelangt ist. Nach den vom Landgericht als glaubhaft angesehenen Angaben der Geschädigten in der Hauptverhandlung wären jedenfalls nur zwei Taten belegt. Unerörtert bleibt, von dieser nicht begründeten Abweichung abgesehen, der eklatante Widerspruch zwischen den früheren Angaben der Zeugin ("praktisch täglich") und ihrer Aussage in der Hauptverhandlung.

Auch im übrigen sind die Erwägungen des Landgerichts zu den nicht festgestellten, teilweise angeklagten, von der Geschädigten teilweise in früheren Vernehmungen, teilweise erst in der Hauptverhandlung berichteten Taten unklar. So ergibt sich aus den Urteilsgründen, daß in allen Vernehmungen der genaue Ort einzelner Taten in verschiedenen Räumen der Wohnung (Badezimmer, Wohnzimmer, Eheschlafzimmer, Kinderzimmer) Gegenstand der Befragung war und daß die Zeugin insoweit Einzelheiten von ihr geschilderter Taten berichtete, die in charakteristischer Weise mit diesen Örtlichkeiten verbunden waren. Daher konnten die aufgetretenen Widersprüche nicht mit der Begründung ausgeräumt werden, "die Wohnung (sei) als Tatort exakt angegeben" worden (UA S. 25).

Das gilt entsprechend auch für die zeitliche Reihenfolge der Taten. Ob der erste Geschlechtsverkehr im Gartenhaus oder im Kinderzimmer (in Anwesenheit des schlafenden Sohnes des Angeklagten) stattgefunden hat, war Gegenstand mehrfacher Befragungen der Zeugin. Ihre widersprüchlichen Aussagen hierzu, die jeweils auch Einzelheiten darstellten (z. B. Bluten beim ersten Geschlechtsverkehr), betrafen entgegen der Ansicht des Landgerichts den Kernbereich der Tatvorwürfe und bewegten sich nicht ausschließlich im Randbereich.

Die Erwägung des Landgerichts zu den abweichenden Zeitangaben trifft das Problem überdies nur unzureichend. Die Datierung des ersten Geschlechtsverkehrs einmal auf "Winter", einmal auf "August" ist mit dem Hinweis, daß man sich ein Datum nur schlecht merken könne, nicht zutreffend erfaßt; selbst nach dem vom Landgericht angenommenen Erfahrungssatz, wonach dies nur bei Verknüpfung mit wichtigen Ereignissen gelinge, hätte erörtert werden müssen, warum diese Voraussetzung hier nicht vorlag.

Nicht bedenkenfrei erscheint schließlich auch die Würdigung der von der Zeugin erstmals in der Hauptverhandlung berichteten, von der Anklage nicht umfaßten Tat im Schlafzimmer der Wohnung, die in Anwesenheit der (schlafenden) Ehefrau des Angeklagten stattgefunden haben soll. Das Landgericht hat seine Überzeugung von der Glaubwürdigkeit der Zeugin unter anderem mit der Darlegung des Sachverständigen begründet, diese Schilderung enthalte ein "nachprüfbares Rahmengeschehen" und biete eine Überprüfungsmöglichkeit; die Aussagesubstanz spreche daher für die Glaubhaftigkeit der Aussage (UA S. 27). Da das Landgericht aber an anderer Stelle darlegt, es sei nicht mehr festzustellen, ob eine Tat im Schlafzimmer stattgefunden habe (UA S. 25), bleibt diese Würdigung zumindest unklar.

d) Zwar ist es nicht schon grundsätzlich rechtsfehlerhaft, daß die Urteilsgründe das Gutachten des Sachverständigen zur Glaubwürdigkeit der Zeugin, das sich nicht auf eine Exploration, sondern nur auf die Teilnahme an der ermittlungsrichterlichen Vernehmung und an der Hauptverhandlung stützte, nicht zusammenhängend darstellen, sondern, vermischt mit der Wiedergabe von sonstigen Zeugenaussagen und Beweiswürdigung des Tatrichters, jeweils nur punktuell wiedergeben. Da, wie sich aus der Anklageschrift ergibt, der Sachverständige in einer "kurzen Stellungnahme" nach Teilnahme an der ermittlungsrichterlichen Vernehmung zu der Ansicht gelangte, die dort von der Geschädigten gemachten Angaben seien "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zutreffend", wäre aber zu erörtern gewesen, wie er im Hinblick auf die abweichenden Angaben der Geschädigten in der Hauptverhandlung zum selben Ergebnis gelangte. Soweit die Urteilsgründe mitteilen, der Sachverständige habe überzeugend dargelegt, daß die Widersprüche in den Aussagen der Zeugin ein Hinweis für ihre Glaubhaftigkeit seien, "da ein Lügner es grundsätzlich vermeide, zu vage oder widersprüchliche Angaben zu machen" (UA S. 26), wird ein solcher Erfahrungssatz weder von aussagepsychologischen noch von forensischen Erfahrungen getragen.

3. Eine hinreichende Beweisgrundlage ergäbe sich aus den Urteilsgründen daher, isoliert betrachtet, wohl nur für die Tat im Gartenhaus und für jedenfalls eine Tat im Kinderzimmer. Da die Beweiswürdigung des Landgerichts jedoch die möglichen Wechselwirkungen zwischen den Aussagen zu einzelnen Taten nicht hinreichend erörtert und bestehende Widersprüche mit im Ergebnis nicht tragfähigen Begründungen beiseite läßt, stellt sich die Annahme von vier Einzeltaten letztlich als Vermutung dar, die von den Beweisergebnissen auch dann nicht getragen wird, wenn gegen die allgemeine Glaubwürdigkeit der Zeugin keine Bedenken bestehen. Das betrifft namentlich die Feststellung von drei Taten im Kinderzimmer im Zeitraum März 1997 bis Februar 1998; dies ist mit den als glaubhaft angesehenen Angaben der Zeugin nicht vereinbar, die erste Tat habe im August 1997 im Gartenhaus stattgefunden, danach sei es zu "zwei bis drei" Taten im Kinderzimmer gekommen.

Das Urteil war daher insgesamt aufzuheben, um dem neuen Tatrichter Gelegenheit zu umfassender eigener Beweiserhebung und Würdigung zu geben. Er wird auch zu prüfen haben, ob die Hinzuziehung eines anderen Sachverständigen und eine wissenschaftlichen Anforderungen genügende Begutachtung der Zeugin geboten ist.

HRRS-Nummer: HRRS 2004 Nr. 254

Bearbeiter: Ulf Buermeyer