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HRRS-Nummer: HRRS 2004 Nr. 6

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 325/03, Urteil v. 12.11.2003, HRRS 2004 Nr. 6


BGH 2 StR 325/03 - Urteil vom 12. November 2003 (LG Köln)

Beweiswürdigung (in dubio pro reo; Zweifelssatz; Überzeugungsbildung; erforderliche Gewissheit; Indizien; umfassende Gesamtwürdigung; Tatsachenalternativität).

§ 261 StPO; § 212 StGB; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6 Abs. 2 EMRK

Leitsätze des Bearbeiters

1. Spricht der Tatrichter einen Angeklagten frei, weil er Zweifel an dessen Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen, denn es hat nur zu beurteilen, ob dem Tatrichter bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder erkennen lässt, dass das Gericht überspannte Anforderungen an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt hat.

2. Eine absolute, das Gegenteil denknotwendig ausschließende und von niemandem anzweifelbare Gewissheit ist zur Verurteilung des Angeklagten nicht erforderlich. Vielmehr genügt ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, das vernünftige und nicht bloß auf denktheoretische Möglichkeiten gegründete Zweifel nicht zulässt.

3. Der Tatrichter muss sich in der Beweiswürdigung mit allen festgestellten Indizien auseinandersetzen, die geeignet sind, das Beweisergebnis zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen. Dabei darf er die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert werten, sondern muss sie in eine umfassende Gesamtwürdigung einbeziehen. Denn die Indizien können in ihrer Gesamtheit die entsprechende Überzeugung vermitteln, auch wenn die Beweisanzeichen jeweils für sich allein nicht zum Nachweis der Täterschaft eines Angeklagten ausreichen (vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 2, 11; Beweiswürdigung, unzureichende 1).

Entscheidungstenor

1. Die Revision der Nebenklägerin gegen das Urteil des Landgerichts Köln vom 9. April 2003 wird verworfen.

2. Die Nebenklägerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels und die dem Angeklagten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil des I. zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, eine Verurteilung wegen einer Beteiligung an der späteren Tötung des I. hat das Landgericht aus Mangel an Beweisen verneint. Dagegen richtet sich die auf die Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision der Nebenklägerin E., der Schwester des Getöteten.

Die Schwurgerichtskammer hat folgendes festgestellt: Der Angeklagte und A. sind Sympathisanten der sogenannten "Grauen Wölfe" und der "MHP", beides türkisch-nationalistische Vereinigungen. Das spätere Tatopfer I. war Kurde und Mitglied im Verein "AGIF", einem Dachverband linksgerichteter türkischer und kurdischer Organisationen mit Sitz in Köln-Humboldt-Gremberg. Dort wurde ein Café betrieben, um das sich I., ein ruhiger, schüchterner und zurückhaltender Mensch, kümmerte, er war im Café auch Ansprechpartner des Vereins.

Am Tattag, dem 1. Juli 1999, kamen der Angeklagte und A. zwischen 21.45 und 22.00 Uhr an dem Café vorbei, während das Tatopfer das Lokal aufräumte. Aus ungeklärten Gründen betraten beide das Café, in dessen vorderem Bereich es zu einem lauten Streit und zu einer tätlichen Auseinandersetzung mit I. kam, in deren Verlauf beide auf diesen einschlugen und eintraten. Der Grund der Auseinandersetzung waren möglicherweise politische Differenzen.

Im hinteren Bereich des Lokals im Thekenbereich griff A. dann das Tatopfer mit einem ca. 32,5 cm langen Küchenmesser an und stach damit dreimal in dessen Brustkorb. Diesem wurde auch noch mit einem weiteren Messer mit einer Klingenlänge von ca. 19 cm und einer maximalen Klingenbreite von bis zu ca. 2,5 cm eine zweite Stichverletzung zugefügt. I. verstarb noch am Tatort infolge Verblutens. Die Herkunft der Tatmesser konnte nicht aufgeklärt werden. Insbesondere war nicht sicher festzustellen, daß A. und/oder der Angeklagte beide Messer oder eines von ihnen mitgeführt hätten.

Der Angeklagte und A. kamen kurzfristig während des Tatgeschehens aus den Räumen des Cafés ins Freie und zerstörten die Fensterscheibe rechts neben der Eingangstür, anschließend begaben sich beide wieder in das Café hinein, wo die Auseinandersetzung ihren Fortgang nahm. Zu welchem Zeitpunkt des Tatgeschehens und weshalb die Fensterscheibe zerstört wurde, konnte das Landgericht nicht klären. Einige Minuten nach der Zerstörung der Fensterscheibe und der Rückkehr in das Lokal kamen der Angeklagte und A. gemeinsam wieder heraus und verließen den Tatort. Der Angeklagte flüchtete anschließend über die Niederlande in die Türkei.

Der Angeklagte, der die Körperverletzung zum Nachteil des Tatopfers einräumt, hat eine Beteiligung an der Tötung bestritten. Er hat außerhalb der jetzigen Hauptverhandlung drei Darstellungen des Tatgeschehens abgegeben, die nach Ansicht des Landgerichts zum Teil in sich widersprüchlich und ungereimt, miteinander in wesentlichen Details nicht in Einklang zu bringen und in zahlreichen wesentlichen Details durch andere Beweismittel widerlegt sind. Die Schwurgerichtskammer hält trotzdem eine direkte Beteiligung des Angeklagten an den Stichen nicht für erwiesen und ist zu seinen Gunsten von einer alleinigen Täterschaft des gesondert verfolgten A. ausgegangen. Dem Angeklagten sei insbesondere auch nicht nachzuweisen, daß er die Zufügung der Stiche durch A. vorhergesehen und/oder zustimmend gebilligt habe. Es sei ihm nicht zu widerlegen, daß er von dem Einsatz des Messers überrascht war und selbst von jeder weiteren Einwirkung auf das Opfer abgelassen hat, als er den Messereinsatz durch A. bemerkte. Nicht feststellen konnte die Schwurgerichtskammer auch, daß der Angeklagte die Angriffe mit den Messern durch A. hätte verhindern können.

Die Revision meint demgegenüber, die Beweiswürdigung sei rechtsfehlerhaft.

Gerügt wird insbesondere, daß das Landgericht über die Würdigung einzelner Indizien hinaus es unterlassen habe, die erforderliche Gesamtwürdigung der sicher festgestellten Tatsachen in verschiedenen möglichen Alternativen durchzuführen. Die Schwurgerichtskammer hätte zumindest prüfen müssen, ob eine strafbare Beteiligung auch unter Zugrundelegung der drei in Betracht kommenden Sachverhaltsvarianten ausscheide.

Das Rechtsmittel ist unbegründet.

Spricht der Tatrichter einen Angeklagten frei oder sieht er von einer weiterreichenden Verurteilung ab, weil er Zweifel an dessen Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Dieses hat insoweit nur zu beurteilen, ob dem Tatrichter bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Rechtlich zu beanstanden sind die Beweiserwägungen auch dann, wenn sie erkennen lassen, daß das Gericht überspannte Anforderungen an die zur Verurteilung erforderliche Überzeugungsbildung gestellt und dabei nicht beachtet hat, daß eine absolute, das Gegenteil denknotwendig ausschließende und von niemandem anzweifelbare, Gewißheit nicht erforderlich ist, vielmehr ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit genügt, das vernünftige und nicht bloß auf denktheoretische Möglichkeiten gegründete Zweifel nicht zuläßt (st. Rspr.).

Einen solchen Rechtsfehler enthält das Urteil nicht.

1. Das Landgericht hat die für und gegen eine Beteiligung des Angeklagten an der Tötung des I. sprechenden Tatsachen abgewogen und hielt diese für eine Verurteilung nicht für ausreichend. Es hat dabei berücksichtigt, daß der Angeklagte bei seiner Einlassung mehrfach die Unwahrheit gesagt hat. Erkannt hat die Schwurgerichtskammer, daß für eine Beteiligung des Angeklagten seine Anwesenheit zur Tatzeit am Tatort spricht, die Freundschaft mit A., dessen politischen Ansichten er teilt. Dazu kommt, daß sie gemeinsam einen politischen Gegner tätlich angegriffen haben, wobei beide den Tatort gemeinsam aufgesucht und dann später in bestem Einvernehmen verlassen haben. Dazu kommt, daß sie eine Fensterscheibe des Lokals gemeinsam zertreten haben. Die zwei tödlichen Stichverletzungen in Herz und Milz sind durch zwei verschiedene Tatwerkzeuge verursacht worden, was auf zwei Täter hindeuten kann, bei einem der Messer ist der Angeklagte als Verursacher von DNA-Spuren nicht auszuschließen. Letztendlich ist der Angeklagte durch seine Ehefrau in einem Telefonat mit dem ermittelnden Kriminalbeamten und durch einen anonymen Anruf einer Zeugin bei der Polizei als Tatbeteiligter belastet worden.

Wenn das Landgericht trotzdem auf Grund anderer Feststellungen nicht die Überzeugung von der Beteiligung des Angeklagten gewinnen konnte, spricht dies allein nicht für überspannte Anforderungen an die zur Verurteilung erforderliche Überzeugungsbildung und kann deshalb aus Rechtsgründen nicht beanstandet werden. Denn die Schwurgerichtskammer weist zu Recht auch darauf hin, daß es eine Reihe entlastender Umstände gibt, die den Kern der Einlassung des Angeklagten stützen, so die Äußerungen [des] A. in einem aufgezeichneten Telefonat mit dem Zeugen S. am 14. Juli 1999, in dem er meinte, der Angeklagte habe mit der Sache so oder so nichts zu tun, und dessen gleichlautenden Äußerungen gegenüber Dritten.

2. Es ist auch nicht zu besorgen, daß die Schwurgerichtskammer die erforderliche Gesamtwürdigung der für eine Beteiligung des Angeklagten sprechenden Indizien, und zwar insgesamt wie auch innerhalb der drei für möglich gehaltenen Tatvarianten, unterlassen hat. Der Tatrichter muß sich in der Beweiswürdigung mit allen festgestellten Indizien auseinandersetzen, die geeignet sind, das Beweisergebnis zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen. Dabei darf er die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert werten, sondern muß diese in eine umfassende Gesamtwürdigung einbeziehen. Denn die Indizien können in ihrer Gesamtheit dem Gericht die entsprechende Überzeugung vermitteln, auch wenn eine Mehrzahl von Beweisanzeichen jeweils für sich allein nicht zum Nachweis der Täterschaft eines Angeklagten ausreicht (vgl. u.a. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 2, 11; Beweiswürdigung, unzureichende 1; BGH NStZ 2001, 491, 492; 2002, 48).

Auch diesen Anforderungen wird das Urteil, soweit es eine Verurteilung des Angeklagten wegen einer Beteiligung an der Tötung des I. verneint, gerecht. Das Landgericht hat ausdrücklich - wenn auch knapp - eine solche Gesamtwürdigung der für und gegen den Angeklagten sprechenden Indizien vorgenommen (UA S. 41). Es hat dabei zu Recht auf die fehlenden direkten Tatzeugen und die widersprüchlichen Angaben des Angeklagten und des anderen Tatbeteiligten abgestellt. Dem kommt insbesondere deshalb Bedeutung zu, da für eine strafbare Beteiligung des Angeklagten seine subjektive Einstellung zu den Vorgängen mit ausschlaggebend sein mußte. Darauf zu schließen, bedurfte es aber tatsächlicher Anhaltspunkte. Solche hat das Landgericht aber rechtsfehlerfrei nicht gesehen.

3. Nicht ausdrücklich erörtert hat das Landgericht, ob eine strafbare Beteiligung des Angeklagten an der Tötung des I. auch bei Zugrundelegung der drei für möglich gehaltenen Tatvarianten ausscheidet. Auf der Grundlage der Feststellungen mußte das Landgericht zwar in Tatsachenalternativität die drei verschiedenen Möglichkeiten des Tathergangs, wie sie der Angeklagte geschildert hat, nach einem strafbaren Gehalt überprüfen. Das Landgericht war gehalten, die von ihm für möglich erachtete, nach dem Zweifelsgrundsatz denkbar mildeste Variante schuldhafter Beteiligung des Angeklagten im Zusammenhang mit der Tötung des I. konkret festzustellen und hiernach die strafrechtliche Verantwortung des Angeklagten zu bestimmen (vgl. dazu BGHSt 22, 12; BGHR StGB vor § 1/Wahlfeststellung Tatsachenalternativität 3; StGB § 211 Abs. 2 niedrige Beweggründe 6, 17; BGH NStZ-RR 2000, 171-172; NStZ 2002, 309). Die Urteilsgründe belegen aber nicht, die Schwurgerichtskammer könne übersehen haben, daß ein Freispruch ausscheidet, wenn im Ergebnis keine Geschehensvariante verbleibt, wonach der Angeklagte sich nicht wegen einer gewaltsamen Einwirkung auf das Tatopfer strafbar gemacht hätte. Nach dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe scheidet nämlich zumindest in einer der Varianten ein strafbares Verhalten des Angeklagten aus. Es besteht die Möglichkeit, daß sämtliche Stiche vor dem Zerstören der Fensterscheibe gesetzt wurden. Dem steht nicht entgegen, daß der Stich mit dem zweiten Messer in die Milz (UA S. 9) zu einem Zeitpunkt erfolgt ist, als der Kreislauf des Getöteten infolge der durch die vorangegangenen Stiche verursachten Blutungen bereits "erheblich heruntergefahren" war (UA S. 27), also ein gewisser Zeitraum zwischen beiden Stichen vergangen sein mußte. Das vom Landgericht festgestellte "Gepolter und Schreien" (UA S. 11) nach der Rückkehr des Angeklagten und des A. in das Café selbst beweist nicht, daß das Tatopfer daran im Sinne eines Kampfgeschehens beteiligt war. Es besteht deshalb die Möglichkeit, daß die tödlichen Stiche bereits kurz nach dem Eintreten in die Räumlichkeiten des Cafés geführt wurden. Wenn aber ein solches Tatgeschehen nicht auszuschließen ist, kann - wie die Schwurgerichtskammer rechtsfehlerfrei ausgeführt hat - die Einlassung des Angeklagten, der sich in seinen Vernehmungen im Ermittlungsverfahren auf einen Exzeß A.s berufen hat, durch beweiskräftige Tatsachen nicht widerlegt werden. Denn dann besteht die Möglichkeit, daß der erste Stich in den Brustkorb durch A. überraschend für den Angeklagten gesetzt wurde (UA S. 8) und der zweite Stich - unbemerkt vom Angeklagten - dem Tatopfer in der Küche beigebracht wurde (UA S. 9, 26).

4. Nicht erörtert hat das Landgericht die Möglichkeit, daß der Angeklagte möglicherweise ein Verbrechen des (versuchten) Totschlags durch Unterlassen begangen haben kann. Denn er hat sich vom Tatort entfernt, ohne selbst Hilfe für den am Boden liegenden I. zu leisten oder entsprechende Hilfe durch Dritte zu veranlassen. Nach dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe schließt der Senat aber aus, daß in einer neuen Hauptverhandlung insoweit eine Verurteilung zu erwarten ist. Denn es wird nicht auszuschließen sein, daß der Angeklagte das Tatopfer bereits für tot hielt.

HRRS-Nummer: HRRS 2004 Nr. 6

Bearbeiter: Ulf Buermeyer