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Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 315/99, Urteil v. 14.09.1999, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 1 StR 315/99 - Urteil v. 14. September 1999 (LG Memmingen)

Darlegungsvoraussetzungen; Tötungsvorsatz; Tatentschluß; Versuch; Schluß vom objektiven Tatgeschehen auf den Vorsatz;

§ 212 StGB; § 16 Abs. 1 StGB; § 22 StGB;

Leitsatz des Bearbeiters

Damit das Revisionsgericht überprüfen kann, ob der Schluß vom objektiven Tatgeschehen und den Äußerungen des Angeklagten auf den unbedingten Vorsatz der Tötung rechtsfehlerfrei ist, bedarf es im Urteil einer geschlossenen Darstellung der Umstände, aus denen sich die objektive Gefährlichkeit der Tathandlung des Angeklagten ergibt.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Memmingen vom 25. Februar 1999 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und mit tateinheitlich begangener Körperverletzung in drei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Dagegen wendet sich der Angeklagte mit der Sachrüge. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

Die Urteilsfeststellungen tragen die Annahme des direkten Tötungsvorsatzes nicht. Das Landgericht hat aus der Tathandlung und dem mehrfachen Schreien des Angeklagten "Ich bringe Dich um" und "Ich schmeiß Dich aus dem Fenster" geschlossen, diesem sei es unbedingt auf die Tötung des Polizeibeamten angekommen. Zwar liegt es grundsätzlich nahe, daß sich in der objektiven Gefährlichkeit die subjektive Seite des Geschehens widerspiegelt. Das muß aber nicht immer so sein, denn vor dem direkten Tötungsvorsatz steht eine hohe Hemmschwelle. Der Schluß auf den direkten Vorsatz ist - wie beim bedingten Vorsatz - nur dann rechtsfehlerfrei, wenn der Tatrichter in seine Erwägungen alle Umstände einbezogen hat, die diese Folgerung in Frage stellen (BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 7; Beschl. vom 19. Mai 1999 2 StR 176/99). Das gilt insbesondere in Fällen, in denen ein einsichtiger Beweggrund für eine so schwere Tat wie die Tötung eines Menschen fehlt sowie bei Einzelhandlungen, die spontan in affektiver Erregung ausgeführt werden (BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 27).

1. Damit der Senat überprüfen kann, ob der Schluß des Landgerichts vom objektiven Tatgeschehen und den - angesichts der Begleitumstände möglicherweise nicht wörtlich gemeinten - Äußerungen des Angeklagten auf den unbedingten Vorsatz rechtsfehlerfrei ist, bedarf es im Urteil einer geschlossenen Darstellung der Umstände, aus denen sich die objektive Gefährlichkeit der Tathandlung des Angeklagten ergibt. Dazu gehören Ausführungen zur Lage der Wohnung, zur Höhe des Fensters und zum Zustand des Bodens unterhalb des Fensters. Es bedarf der Darlegung, wieviel Polizeibeamte in der Wohnung waren, insbesondere aber der Einzelheiten, durch die der Angeklagte den Polizeibeamten R. in eine lebensbedrohliche Lage gebracht hatte. Das Urteil teilt mit, der Angeklagte habe den Polizeibeamten R. angesprungen, ihn mit der Faust mehrfach in den Bauch geschlagen, so daß "dieser gegen das geöffnete Fenster torkelte, und er (der Angeklagte) drückte ihn mit massiver Gewalt gegen dessen Oberkörper soweit aus dem Fenster, daß dieser sich nur noch mit letzter Kraft vor einem Hinausstürzen bewahren konnte". Ein mit unbedingtem Tötungswillen geführter Angriff liegt dann nahe, wenn der kräftige, 170 cm große und 110 kg schwere Angeklagte allein dem körperlich unterlegenen Polizeibeamten gegenüber stand und diesen in einem Einzelkampf aus dem Fenster werfen wollte. Ein Schluß auf einen direkten Tötungsvorsatz liegt im Blick auf die hier gegebenen besonderen Rahmenbedingungen hingegen dann weniger nahe, wenn es Tätlichkeiten zwischen dem Angeklagten und mehreren Polizeibeamten gegeben hat - etwa, daß mehrere Beamte den Angeklagten festhielten und dieser um sich schlug - und der Angriff aus der Eskalation der Auseinandersetzungen hervorging. Hierzu verhält sich das Urteil nicht.

2. Es fehlen aber auch genaue Feststellungen über den körperlichen und psychischen Zustand des Angeklagten beim engeren Tatgeschehen. Dem Urteil ist nicht zu entnehmen, wie lange der Angeklagte - der zu der Auseinandersetzung der Polizei mit seinem Sohn hinzu kam - geschlafen hatte und welches Leistungsverhalten er bei einer festgestellten Blutalkoholkonzentration von 2,21 0/00 während der Tathandlung aufwies. Dazu wird nur festgestellt, der Angeklagte habe die Polizeibeamten "mit großer Gewalttätigkeit" angegriffen und dabei geschrien, "daß es sich bei seinem Sohn um sein eigenes Blut handeln würde und die Beamten erst mit ihm fertig werden müßten". Diese Umstände sind für die Beurteilung der affektiven Erregung des Angeklagten bedeutsam, zumal die Strafkammer - insoweit dem Sachverständigen folgend eine erhebliche Einschränkung der Steuerungsfähigkeit bei dem Angeklagten angenommen hat.

3. Die Sache bedarf somit neuer Verhandlung und Entscheidung. Der Schuldspruch muß insgesamt aufgehoben werden, weil der vom Landgericht angenommene Totschlagsversuch, der Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und die Körperverletzung tateinheitlich verwirklicht worden sind.

Zum Rechtsfolgenausspruch weist der Senat für die neue Verhandlung auf folgendes hin:

Sieht sich der Tatrichter daran gehindert, eine Strafrahmenverschiebung nach den Vorschriften der §§ 21, 49 Abs. 1 StGB vorzunehmen, hat er aufgrund einer Gesamtabwägung aller wesentlichen Tatumstände und der Täterpersönlichkeit über den maßgeblichen Strafrahmen zu entscheiden (BGHSt 43, 66, 78). Wie der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt hat, kann die Strafrahmenverschiebung versagt werden, wenn der Täter bereits früher unter Alkoholeinwirkung Straftaten oder sonstige Rechtsbrüche begangen hatte und daher wußte oder hätte wissen können, daß er nach Genuß von Alkohol zu Ausschreitungen neigt (st. Rspr.; BGHSt 43, 66, 78; BGH NStZ 1994, 183, 184). Daß der Täter zuvor bereits eine gleiche oder ähnliche Tat begangen hat, ist nicht erforderlich (BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 3, 6). Aus einer früheren Verurteilung kann eine Neigung des Angeklagten, nach Alkoholgenuß Straftaten zu begehen, nicht hergeleitet werden, da der Angeklagte nicht vorbestraft ist. Die Strafkammer hat ausgeführt, der Angeklagte sei seit vielen Jahren trinkgewohnt und sei dabei immer wieder, insbesondere gegen seine Familie aggressiv geworden. Das Urteil belegt dies jedoch nicht. Selbst wenn der Angeklagte gegen seine Ehefrau mehrfach gewalttätig gewesen ist, läßt sich ohne nähere Darlegungen allein daraus nicht der Schluß ziehen, der Angeklagte habe auch in der für ihn außergewöhnlichen Situation eines in seiner Wohnung stattfindenden, gegen seinen Sohn gerichteten Polizeieinsatzes damit rechnen müssen, daß er mit direktem Tötungsvorsatz gegen einen Polizeibeamten vorgeht.

Die nunmehr mit der Entscheidung befaßte Schwurgerichtskammer wird auch unter Hinzuziehung des medizinischen Sachverständigen über die Anordnung einer Maßregel der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB neu zu entscheiden haben. Will das Landgericht erneut von einer Anordnung absehen, muß es die Gründe darlegen, wenn es einem medizinischen Sachverständigen nicht folgt, der beim Angeklagten einen Hang zur Einnahme alkoholischer Getränke festgestellt und eine Entwöhnungsbehandlung nicht als aussichtslos angesehen hat.

Externe Fundstellen: StV 2000, 68

Bearbeiter: Karsten Gaede