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Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 238/99, Beschluss v. 22.06.1999, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 1 StR 238/99 - Beschluß v. 22. Juni 1999 (LG Nürnberg-Fürth)

Strafschärfung infolge Verteidigungsverhaltens; Untersuchungshaft; Nachtatverhalten;

§ 46 Abs. 2 StGB; § 112 StPO;

Leitsatz des Bearbeiters

Macht der Täter bei der Vernehmung oder bei der sonstigen Feststellung des Sachverhaltes falsche Angaben über die Tatverantwortung Unschuldiger, die zu deren Untersuchungshaft führen, so liegt darin grundsätzlich ein Verteidigungsverhalten, das nur im Ausnahmefall (insb. bei rechtsfeindlicher Gesinnung) zur Strafschärfung wegen des Verhaltens nach der Tat berechtigt.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 23. Dezember 1998 im Strafausspruch aufgehoben (§ 349 Abs. 4 StPO).

In diesem Umfang wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen (§ 349 Abs. 2 StPO).

Gründe

Am 8. September 1998 schnitt der Angeklagte in einem politisch motivierten Streit unter Kurden zunächst mit einem Messer dem Geschädigten W. A. quer über den Bauch und anschließend über den Hals des Geschädigten Ar. S. , wobei er dessen Tod billigend in Kauf nahm. Anschließend flüchtete der Angeklagte.

Auf der Grundlage dieser Feststellungen verurteilte das Landgericht den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit versuchtem Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe.

1. Seine auf die Sachrüge gestützte Revision bleibt aus den vom Generalbundesanwalt zutreffend dargelegten Gründen zum Schuldspruch erfolglos.

2. Der Strafausspruch kann wegen der strafschärfenden Berücksichtigung des Nachtatgeschehens dagegen keinen Bestand haben.

a) Insoweit ist folgendes festgestellt:

(1) Der Angeklagte wurde auf seiner Flucht von den Geschädigten verfolgt. Ar. S. stach ihn von hinten mit einem kleineren Messer in den Rücken. Darüber hinaus kam es auf ungeklärte Weise zu einer Messerverletzung am Oberschenkel des Angeklagten.

In diesem verletzten Zustand liefen sowohl der Angeklagte als auch Ar. S. auf den Hof des Polizeipräsidiums. Der Angeklagte rief "Hilfe", Ar. S. rief "Polizei"; beide wurden alsbald in Gewahrsam genommen, ebenso W. A. , der kurze Zeit nach den beiden anderen den Hof erreicht hatte.

Der Angeklagte gab bei seiner Vernehmung an, Ar. S. habe ihn plötzlich von hinten in die Schulter gestochen; auch W. A. habe ein Messer in der Hand gehabt. Bei dem Versuch, dieses Messer wegzunehmen, sei er selbst an Oberschenkel und Daumen verletzt (zu einer Daumenverletzung verhalten sich die Urteilsgründe im übrigen nicht) worden. Ar. S. sei "irgendwie dazwischengekommen", habe versucht auf ihn einzustechen und müsse sich dabei die Halsverletzung zugezogen haben. Die Bauchverletzung von W. A. könne er sich nicht erklären.

Gegenüber dem Ermittlungsrichter hat der Angeklagte am nächsten Tag dieses Vorbringen im wesentlichen wiederholt.

(2) Auf der Grundlage dieses Vorbringens ergingen am gleichen Tag Haftbefehle gegen W. A. und Ar. S. wegen versuchten Totschlags zum Nachteil des Angeklagten, die bis 21. Oktober 1998 vollzogen wurden. Dann wurden sie mangels Tatverdachts aufgehoben, die Verfahren wurden gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Das Verfahren gegen Ar. S. wegen des Stiches in den Rücken des Angeklagten wurde gemäß § 153a Abs. 1 Nr. 1 StPO eingestellt.

b) Die Strafkammer hat ausdrücklich strafschärfend berücksichtigt, "daß der Angeklagte durch seine falschen Angaben veranlaßt hat, daß beide Tatopfer ... in Untersuchungshaft gewesen sind". Diese Erwägung hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.

(1) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs können Zeugen und Mittäter betreffende Angaben nur dann strafschärfend berücksichtigt werden, wenn sie eindeutig die Grenzen angemessener Verteidigung überschreiten und Rückschlüsse auf eine rechtsfeindliche Einstellung. des Angeklagten zulassen (vgl. nur BGH StV 1995, 633; BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verteidigungsverhalten 4, 5, 8). Dies kann regelmäßig nicht allein daraus geschlossen werden, daß ein Angeklagter versucht, im Rahmen seines Verteidigungsvorbringens alle Schuld auf Mitangeklagte abzuschieben (BGH StV aaO).

(2) Diese Grundsätze gelten in gleicher Weise, wenn es um die Würdigung von Angaben geht, die erhoben werden, um überhaupt erst festzustellen, wer Beschuldigter und wer Geschädigter ist. Die bei der späteren Würdigung mitzuberücksichtigende konkrete Situation, in der die Aussagen gemacht wurden (vgl. BGH StV 1994, 205), war hier so, daß drei Personen jeweils Messerverletzungen hatten; weiter war klar, daß zwischen ihnen eine Auseinandersetzung stattgefunden hatte und wer dabei auf welcher Seite stand. Der Schwerpunkt der Einlassung des Angeklagten lag darauf, er sei von den anderen mit dem Messer angegriffen worden und deren Verletzungen müßten im Zusammenhang mit seinen Abwehrbemühungen stehen.

Eine über das Leugnen eigener Schuld hinausgehende herabwürdigende Ehrverletzung der Geschädigten, die strafschärfend berücksichtigt werden könnte (vgl. BGH NStZ 1995, 78 BGHR aaO Verteidigungsverhalten 1 jew. m.w.Nachw.) oder eine über zulässiges Verteidigungsverhalten hinausgehende rechtsfeindliche Gesinnung ist darin unter den gegebenen Umständen nicht zu erkennen.

(3) Der Umstand, daß die zuständigen Stellen das unrichtige Vorbringen des Angeklagten zunächst glaubten und daraus schwerwiegende Konsequenzen zum Nachteil der Geschädigten zogen, ändert hier am Ergebnis nichts. An sich zulässiges Verteidigungsverhalten kann auch dann nicht strafschärfend berücksichtigt werden, wenn sich hieraus für andere erheblich nachteilige Folgen ergeben (für eine allerdings anders gelagerte Fallgestaltung im Ergebnis ebenso BGH StV 1995, 297).

Ob bei einer besonders ungewöhnlich gelagerten Fallgestaltung eine Ausnahme von diesem Grundsatz in Betracht kommen kann, braucht der Senat hier nicht zu entscheiden.

3. Der Strafausspruch ist daher aufzuheben. Die ihm zugrundeliegenden tatsächlichen Feststellungen können jedoch bestehen bleiben, da sie von dem aufgezeigten Wertungsfehler unberührt und auch sonst rechtsfehlerfrei getroffen sind.

Externe Fundstellen: NStZ-RR 1999, 328; StV 1999, 536

Bearbeiter: Karsten Gaede