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Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 577/98, Beschluss v. 05.11.1998, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 1 StR 577/98 - Beschluss vom 5. November 1998 (LG Mannheim)

Beweiswürdigung; Eigene Sachkunde; Glaubwürdigkeit; Widersprüchlichkeit tatrichterlicher Erwägungen; Umfang der Aufklärungspflicht

§ 244 Abs. 4 StPO; § 261 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. In aller Regel darf sich das Gericht, zumal eine erfahrene Jugendschutzkammer, die Bewertung der Aussagen eines kindlichen oder jugendlichen Zeugen auch dann zutrauen, wenn dieser angibt, in frühem Alter Opfer eines Sexualdelikts geworden zu sein.

2. Das Gericht hat im Rahmen der Beweiswürdigung in sich widerspruchsfrei darzulegen, warum eine Aussage glaubhaft erscheint oder nicht. Dazu ist weitere Sachverhaltsaufklärung geboten, wenn das Beweisergebnis eine solche Entscheidung und Begründung noch nicht ermöglicht.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Mannheim vom 29. Juni 1998 mit den Feststellungen aufgehoben (§ 349 Abs. 4 StPO).

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Der bisher strafrechtlich nicht in Erscheinung getretene Angeklagte wurde wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in drei Fällen - davon in zwei Fällen gleichzeitig zum Nachteil von zwei Kindern begangen - zu einer zur Bewährung ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt.

1. Die Jugendschutzkammer hat folgendes festgestellt: Tatopfer waren seine Enkelin A. E. und deren 1984 geborene Freundin, die Nebenklägerin M. M. Zweimal hat sich der Angeklagte bei gemeinsamen Hallenbadbesuchen mit den Mädchen in eine Duschkabine begeben, wo er sie aufforderte, sich zum Waschen - ebenso wie er selbst - ganz auszuziehen. Dann führte er zunächst die Hand von M. M. an seinem Geschlechtsteil auf und ab, bis dieses erigiert war. Anschließend hat A. E., der der Angeklagte schon früher unter dem Vorwand, es handle sich um einen normalen Waschvorgang, gestattet gehabt hatte, an seinem Geschlechtsteil die Vorhaut zurück- und vorzuschieben, an das Geschlechtsteil des Angeklagten gefaßt und dieses bewegt, wobei sie der Angeklagte zum Zwecke eigener Befriedigung gewähren ließ.

Darüber hinaus hat der Angeklagte einmal, als M. M. bei ihrer Freundin in seiner Wohnung übernachten durfte, die Mädchen veranlaßt, gemeinsam mit ihm zu baden. Als man zu dritt in der Badewanne saß, legte er die Hand von M. M. an sein Geschlechtsteil und führte sie dort auf und ab, um sich sexuell zu erregen.

2. Der Angeklagte hat sämtliche Vorwürfe bestritten. Die Jugendschutzkammer sieht ihn demgegenüber im wesentlichen auf Grund der den Urteilsfeststellungen entsprechenden Aussagen von M. M. als überführt an, die sie nach sachverständiger Beratung für glaubhaft hält.

Demgegenüber hat A. E. - wenn auch nicht in allen Punkten völlig deckungsgleich mit den Angaben des Angeklagten - im Ergebnis ebenso wie dieser sowohl die Vorgänge im Hallenbad als auch den Vorgang in der Badewanne bestritten. Einen Antrag der Verteidigung, ebenso wie über M. M. auch über A. E. ein Glaubwürdigkeitsgutachten einzuholen, hat die Jugendschutzkammer unter Berufung auf eigene Sachkunde (§ 244 Abs. 4 Satz 1 StPO) abgelehnt; Besonderheiten, die Zweifel daran wecken könnten, daß ihre eigene Sachkunde ausreicht, lägen nicht vor.

Die Aussagen von A. E. hat die Jugendschutzkammer dahin gewürdigt, daß an deren genereller Zeugeneignung kein Zweifel bestünde. Sie habe sich um genaue und erinnerungskritische Angaben bemüht. Soweit sie selbst nach wiederholtem Vorhalt ("Konfrontation") der Aussagen von M. M. bei ihren Aussagen geblieben sei, beruhe dies darauf, daß sie sich an die abgeurteilten Vorgänge nicht zu erinnern vermöge; dies gehe auf ihre starke emotionale Bindung an den Angeklagten zurück. Es sei "in hohem Maße" wahrscheinlich, daß sich für sie die Vorgänge als "ganz normale Waschvorgänge" darstellten, was ihre Erinnerungslosigkeit erkläre.

3. Gegen diese Beweiswürdigung wendet sich die Revision mit Recht.

a) In aller Regel darf sich allerdings das Gericht, zumal eine erfahrene Jugendschutzkammer, die Bewertung der Aussagen eines kindlichen oder jugendlichen Zeugen auch dann zutrauen, wenn dieser angibt, in frühem Alter Opfer eines Sexualdelikts geworden zu sein (BGHSt 3, 27, 28, 52; BGH NStZ 1985, 420, 421; Senatsurteil vom 11. August 1998 - 1 StR 338/98; w. Nachw. bei Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 13. Aufl. § 244 Rdn. 74). Geht es, wie hier, darum, daß ein solcher Zeuge angibt, derartige Vorgänge, an denen er nach anderen Aussagen teils selbst beteiligt gewesen sein soll (Hallenbad) oder die sich zumindest in seiner unmittelbaren Nähe abgespielt haben sollen (Badewanne), hätten in Wahrheit nicht stattgefunden, kann nichts anderes gelten.

Aus dem Umstand, daß die Jugendschutzkammer glaubte, hinsichtlich der Glaubwürdigkeit von M. M. sachverständiger Beratung zu bedürfen, ergeben sich keine durchgreifenden Bedenken gegen ihre Annahme, zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit von A. E. über genügend eigene Sachkunde zu verfügen. Wie sich aus den Urteilsgründen ergibt, ist M. M. intelligenzschwach und emotional unausgeglichen. A. E. ist dagegen, wie sich aus dem den Beweisantrag ablehnenden Beschluß ergibt, bereits im Rahmen einer familienrechtlichen Auseinandersetzung begutachtet und - ersichtlich auch der Auffassung entsprechend, die die Jugendschutzkammer in der Hauptverhandlung gewonnen hat - als "ein aufgewecktes, in einer geistigen Entwicklung bereits weit fortgeschrittenes Mädchen" beurteilt worden. Angesichts dieser Unterschiede in Intelligenz und Entwicklungsstand beider Mädchen ist die Annahme der Jugendschutzkammer, nur zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit von M. M. sachverständiger Beratung zu bedürfen, im Grundsatz nicht zu beanstanden.

b) Auf der Grundlage der - den Senat bindenden - Annahme grundsätzlicher Glaubwürdigkeit von A. E. ist es allerdings ungewöhnlich, daß die aufgeweckte, geistig gut entwickelte Zeugin die in Rede stehenden Vorgänge derart nachhaltig verdrängt hat, daß sie ihr selbst durch intensive Vorhalte nicht wieder in das Gedächtnis zurückgerufen werden konnten.

Es kann aber offen bleiben, ob die Feststellung und Bewertung derartiger tiefenpsychologischer Vorgänge noch von der Sachkunde der Jugendschutzkammer hinsichtlich der Glaubwürdigkeitsbeurteilung (vgl. oben 3 a) umfaßt sind, oder ob allein deshalb die Inanspruchnahme sachverständiger Beratung nahegelegen hätte.

c) Unabhängig davon ist nämlich zu besorgen, daß die zur Erinnerungslosigkeit der Zeugin angestellten Erwägungen der Jugendschutzkammer widersprüchlich sind; jedenfalls lassen sie aber einen naheliegenden Gesichtspunkt außer Acht:

aa) Der nicht näher ausgeführte Hinweis auf die enge emotionale Bindung von A. E. an den Angeklagten zur Erklärung ihrer Erinnerungslosigkeit deutet darauf hin, daß sie nach Auffassung der Jugendschutzkammer diese Vorgänge - unbewußt - als ein negatives Verhalten durch den Angeklagten bewertet, das für ihn nachteilige Folgen haben kann, und sie sie deshalb verdrängt hat, um dem Angeklagten nicht durch wahrheitsgemäße Angaben schaden zu müssen. Damit erscheint ohne nähere Ausführungen aber kaum vereinbar, daß sie sich deshalb nicht erinnern kann, weil die Vorgänge - aus ihrer Sicht - unbedeutend ("normale Waschvorgänge") waren. Im Ergebnis erklärt die Jugendschutzkammer die Erinnerungslosigkeit der Zeugin also damit, daß die in Rede stehenden Vorgänge für die Zeugin sowohl in hohem Maße emotional befrachtet als auch völlig bedeutungslos sind. Dies erscheint widersprüchlich und hätte der Aufklärung bedurft.

bb) Soweit die Jugendschutzkammer ihre Bewertung der Erinnerungslosigkeit der Zeugin darauf stützt, daß es sich aus deren Sicht um "normale Waschvorgänge" gehandelt hat, hätte sie sich auch mit den übrigen von ihr festgestellten Tatumständen auseinandersetzen müssen. Insbesondere hätte es der Erörterung bedurft, daß sich die Zeugin gemeinsam mit dem Angeklagten und M. M. in einer Duschkabine und vor allem in der Badewanne aufhielt. Die Annahme, daß es sich gleichwohl aus der Sicht der Zeugin um unbedeutende, alltägliche und (auch) daher nicht erinnerbare Vorgänge handelt, erscheint fernliegend und hätte jedenfalls eingehender Begründung bedurft.

4. Die Jugendschutzkammer geht davon aus, daß die Angaben von A. E. von deren Bemühung um wahrheitsgemäße Angaben gekennzeichnet sind. Wenn daher ihre Angaben zum Kern der Angeklagevorwürfe nicht auf Erinnerungslosigkeit beruhen würden, könnte die Verurteilung nicht darauf gestützt werden, daß die sie tragenden Aussagen von M. M., die in Widerspruch zu den Angaben von A.E. stehen, ebenfalls als wahrheitsgemäß zu beurteilen sind.

Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung.

Externe Fundstellen: NStZ 1999, 257

Bearbeiter: Ulf Buermeyer