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Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 183/97, Beschluss v. 03.06.1997, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 1 StR 183/97 - Beschluss vom 3. Juni 1997 (LG Augsburg)

BGHSt 43, 106; gebotene Beweiserhebung bei strafschärfender Einbeziehung einer früheren Verurteilung über die bloße Warnfunktion der früheren Verurteilung hinaus (fehlende Bindung an die Feststellungen rechtskräftiger Urteile; Beweisantrag zur Erschütterung der aufgrund des vorherigen Urteils gewonnenen Überzeugung); Strafzumessung (Ausreichen der Warnwirkung).

§ 46 Abs. 2 StGB; § 244 StPO; § 261 StPO

Leitsätze

1. Will der Tatrichter über die Warnfunktion einer früheren Verurteilung hinaus auch die Art der Tatbegehung strafschärfend heranziehen, muss er diese feststellen. Dies kann durch Verlesung der Gründe des früheren Urteils geschehen, soweit nicht die Aufklärungspflicht oder Beweisanträge andere Beweiserhebungen gebieten. (BGHSt)

2. Feststellungen rechtskräftiger Urteile zum früheren Tatgeschehen oder zur Strafzumessung einschließlich der Beweistatsachen, die in einem späteren Verfahren von Bedeutung sein können, binden den neu entscheidenden Tatrichter nicht. Solche Feststellungen können zwar im Wege des Urkundenbeweises gemäß § 249 Abs. 1 StPO in die neue Hauptverhandlung eingeführt und verwertet werden (BGHSt 6, 141, 142). Der nunmehr entscheidende Tatrichter darf sie aber nicht ungeprüft übernehmen. Er kann sich allerdings von der Richtigkeit der Schlüsse des früheren Tatrichters aufgrund der in dessen Urteil mitgeteilten Gründe überzeugen. (Bearbeiter)

3. Beanstandet jedoch ein Verfahrensbeteiligter die Richtigkeit der dort getroffenen Feststellungen, muss der neue Tatrichter prüfen, ob diese Beanstandungen nach seiner Auffassung geeignet sind, die dort gezogenen Schlüsse zu erschüttern. Ist dies nicht der Fall, so kann er einen Beweisantrag, der gestellt wird, um die Unrichtigkeit der früheren Feststellungen zu beweisen, als bedeutungslos ablehnen. Hält er den Beweisantrag dagegen für geeignet, das Beweisgebäude zu erschüttern, muss er ihm nachgehen, sofern die Feststellung der früheren Tatbegehung für seine eigene Entscheidung von Bedeutung ist. (Bearbeiter)

4. Bei der Strafzumessung wird es allerdings häufig genügen, auf die Warnwirkung der - als solche bereits durch die Urteilsurkunde bewiesenen (BGH MDR 1955, 121) - früheren Verurteilung abzustellen, deren Missachtung bei der Begehung weiterer Straftaten einen ähnlich gewichtigen Strafschärfungsgrund darstellen kann wie die Tatsache der früheren Begehung von Straftaten. (Bearbeiter)

5. Ob der Strafzumessungsgrund der Warnwirkung ausreicht, unterliegt einer wertenden Entscheidung des Tatrichters bei der Strafzumessung, die der revisionsrechtlichen Überprüfung grundsätzlich entzogen ist. Hält er ihn für ausreichend, so muss er sich nicht im Sinne des § 244 Abs. 2 StPO zur weiteren Aufklärung früherer Straftaten gedrängt sehen und kann Beweisanträge, durch die die frühere Tatbegehung widerlegt werden soll, als bedeutungslos im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO ablehnen. (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 27. September 1996 im Strafausspruch mit den Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im übrigen wegen Kreditbetruges und Urkundenfälschung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf eine Verfahrensrüge und die Sachbeschwerde gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel ist unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO, soweit es den Schuldspruch angreift; es hat dagegen mit der Verfahrensrüge Erfolg, soweit es sich auf den Strafausspruch bezieht.

Mit Recht rügt die Revision die Verletzung des Beweisantragsrechts (§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO).

1. Dem liegt folgendes zugrunde:

Das Landgericht hat frühere Straftaten des Angeklagten, die er in der ehemaligen DDR begangen haben soll, durch Verlesung der Feststellungen des Urteils des Kreisgerichts Schönebeck vom 8. Juli 1985 in die Hauptverhandlung eingeführt. Der Angeklagte hat die Richtigkeit dieser Feststellungen bestritten, einen im einzelnen geschilderten anderen Geschehensablauf vorgetragen und diesen durch Benennung von zwei Zeugen unter Beweis gestellt. Das Landgericht sah sich aus Rechtsgründen an der Beweiserhebung gehindert und hat die beantragte Beweiserhebung durch Beschluß abgelehnt: "Der Sachverhalt sei rechtskräftig festgestellt, und das Urteil wurde nach Überprüfung gemäß § 54 BZRG in das bundesdeutsche Strafregister übernommen". Seinem Urteil hat das Landgericht bei der Strafzumessung zugrunde gelegt, der Angeklagte habe schon zum damaligen Zeitpunkt "Vermögensdelikte begangen".

2. Die Ablehnung des Beweisantrags verstößt gegen § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO, und das Urteil kann hierauf beruhen.

a) Feststellungen rechtskräftiger Urteile zum früheren Tatgeschehen oder zur Strafzumessung einschließlich der Beweistatsachen, die in einem späteren Verfahren von Bedeutung sein können, binden den neu entscheidenden Tatrichter nicht (Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsrecht Teil I, 2. Aufl. Rdn. 322; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 43. Aufl. Einl. Rdn. 170; Mayr in KK 3. Aufl. § 249 Rdn. 17; Bruns in Festschrift für Eb. Schmidt, 1961 S. 602 ff.; vgl. auch BGHZ 13, 265, 279). Solche Feststellungen können zwar im Wege des Urkundenbeweises gemäß § 249 Abs. 1 StPO in die neue Hauptverhandlung eingeführt und verwertet werden (vgl. RGSt 60, 297 f.; BGHSt 6, 141, 142; Alsberg/Nüse/Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozeß 5. Aufl. S. 254 f.; Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 24. Aufl. § 249 Rdn. 19; Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 249 Rdn. 9; Paulus in KMR StPO § 249 Rdn. 11). Der nunmehr entscheidende Tatrichter darf sie aber nicht ungeprüft übernehmen. Er kann sich allerdings von der Richtigkeit der Schlüsse des früheren Tatrichters aufgrund der in dessen Urteil mitgeteilten Gründe überzeugen. Beanstandet jedoch ein Verfahrensbeteiligter die Richtigkeit der dort getroffenen Feststellungen, muß der neue Tatrichter prüfen, ob diese Beanstandungen nach seiner Auffassung geeignet sind, die dort gezogenen Schlüsse zu erschüttern. Ist dies nicht der Fall, so kann er einen Beweisantrag, der gestellt wird, um die Unrichtigkeit der früheren Feststellungen zu beweisen, als bedeutungslos ablehnen. Hält er den Beweisantrag dagegen für geeignet, das Beweisgebäude zu erschüttern, muß er ihm nachgehen, sofern die Feststellung der früheren Tatbegehung für seine eigene Entscheidung von Bedeutung ist.

Bei der Strafzumessung wird es allerdings häufig genügen, auf die Warnwirkung der - als solche bereits durch die Urteilsurkunde bewiesenen (RGSt 8, 153, 157; BGH MDR 1955, 121; Mayr aaO) - früheren Verurteilung abzustellen, deren Mißachtung bei der Begehung weiterer Straftaten einen ähnlich gewichtigen Strafschärfungsgrund darstellen kann wie die Tatsache der früheren Begehung von Straftaten (s. zur Warnwirkung von DDR-Vorstrafen aber BGHSt 38, 71, 73). Ob der Strafzumessungsgrund der Warnwirkung ausreicht, unterliegt einer wertenden Entscheidung des Tatrichters bei der Strafzumessung, die der revisionsrechtlichen Überprüfung grundsätzlich entzogen ist. Hält er ihn für ausreichend, so muß er sich nicht im Sinne des § 244 Abs. 2 StPO zur weiteren Aufklärung früherer Straftaten gedrängt sehen und kann Beweisanträge, durch die die frühere Tatbegehung widerlegt werden soll, als bedeutungslos im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO ablehnen.

Will der neue Tatrichter jedoch im Einzelfall nicht lediglich die Zäsurwirkung einer früheren Verurteilung, sondern die Tatsache der Begehung einer früheren Straftat oder die Art und Weise der Begehung seiner Strafzumessungsentscheidung strafschärfend zugrunde legen, muß er vorgebrachte Bedenken gegen die früher getroffenen Feststellungen ausräumen. Einen Beweisantrag, der auf die Widerlegung der früheren Feststellungen abzielt, kann er dann nicht bereits wegen der Rechtskraft der Vorverurteilung als bedeutungslos ablehnen. Dies aber ist im vorliegenden Fall geschehen.

Der Beschwerdeführer hatte einen Antrag gestellt, der zumindest teilweise den Anforderungen an einen förmlichen Beweisantrag (vgl. BGHSt 39, 251 ff.) genügt. Dessen Inhalt war für die Entscheidung des Tatgerichts sachlich schon deshalb nicht ohne Bedeutung, weil das Landgericht selbst Zweifel an der Richtigkeit der Tatsachenfeststellungen und an der Rechtsstaatlichkeit des zugrundeliegenden Verfahrens hatte. Die Ablehnung des Antrags wegen rechtlicher Bedeutungslosigkeit ging mangels Bindung an die Feststellungen des früheren Urteils fehl.

b) Der Senat kann nicht ausschließen, daß das Urteil auf dem Verstoß gegen § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO beruht (§§ 338 Nr. 8, 337 Abs. 1 StPO). Zwar hat das Landgericht der früheren Tatbegehung und der Vorverurteilung nur geringes Gewicht beigemessen. Andererseits stützt es sich darauf, daß der Angeklagte bereits früher Vermögensdelikte begangen habe. Da der Beweisantrag nicht nur die frühere Tatbegehung, sondern auch die Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens in der ehemaligen DDR in Frage gestellt hat, kann auch nicht ohne weiteres angenommen werden, das Landgericht hätte bereits unter Berücksichtigung der Warnwirkung des früheren Strafverfahrens dieselbe Strafe verhängt.

Externe Fundstellen: BGHSt 43, 106; NJW 1997, 2828; StV 1998, 16

Bearbeiter: Rocco Beck