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Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 730/96, Beschluss v. 09.09.1997, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 1 StR 730/96 - Beschluss vom 9. September 1997 (LG Heidelberg)

BGHSt 43, 237; Landfriedensbruch (keine einschränkende Auslegung der formellen Subsidiaritätsklausel); Bestimmtheitsgrundsatz; Vorlagepflicht (Überholung einer Rechtsprechung).

Art. 103 Abs. 2 GG; § 125 Abs. 1 StGB; § 132 GVG

Leitsätze

1. Der Wortlaut der Subsidiaritätsklausel in § 125 Abs. 1 letzter Halbsatz StGB gestattet keine einschränkende Auslegung. (BGHSt)

2. Der Richter ist an das Gesetz gebunden. Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze der Auslegung strafrechtlicher Bestimmungen zum Nachteil des Angeklagten. (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

1. Die Strafverfolgung wird auf die Vorwürfe des schweren Hausfriedensbruchs und der gefährlichen Körperverletzung beschränkt (§ 154a Abs. 2 StPO).

2. Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Heidelberg vom 6. Dezember 1995 werden als unbegründet verworfen (§ 349 Abs. 2 StPO), hinsichtlich des Angeklagten S. mit der Maßgabe, daß der Angeklagte unter Einbeziehung der Urteile des Amtsgerichts - Jugendschöffengerichts - Heidelberg vom 29. Januar 1993 (46 Ls 118/92) und des Amtsgerichts - Jugendgerichts - Freudenstadt vom 14. November 1994 (1 Ds 156/94 jug.) verurteilt ist. Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat folgendes festgestellt:

Die Angeklagten sowie frühere Mitangeklagte sind "Skinheads". Als sie erfuhren, daß ihr Gesinnungsgenosse M. in einem Lokal in eine von ihm provozierte körperliche Auseinandersetzung mit dem Wirt und den Gästen - sämtliche Türken - verwickelt war, beschlossen sie eine "Vergeltungsaktion". Die Angeklagten, die früheren Mitangeklagten und weitere tatbeteiligte Skinheads drangen in das Lokal ein und fingen eine Schlägerei mit den Türken an. Hierbei wurden auf beiden Seiten, wenn auch nicht von den Revisionsführern persönlich, auch Messer eingesetzt. Am Ende waren sowohl einige Eindringlinge als auch einige Türken - teilweise nicht unerheblich - verletzt, das Lokal war verwüstet. Der Sachschaden betrug 3.000 DM zuzüglich des zwar festgestellten, aber nicht zahlenmäßig bestimmten Schadens durch zerstörtes Mobiliar.

Auf der Grundlage dieser Feststellungen hat das Landgericht die Angeklagten wegen Landfriedensbruchs in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und schwerem Hausfriedensbruch verurteilt, den Angeklagten H. zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 30 DM, aus denen mit einer bereits rechtskräftig verhängten Geldstrafe über 50 Tagessätze eine nachträgliche Gesamtgeldstrafe von 90 Tagessätzen gebildet wurde, den Angeklagten S. zu einer zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe von einem Jahr und vier Monaten. Insoweit wurde in das Urteil ein Urteil des Amtsgerichts Freudenstadt einbezogen, durch das der Angeklagte wegen Diebstahls zu einer zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe von einem Jahr verurteilt worden war. In dieses Urteil war bereits ein Urteil des Jugendschöffengerichts Heidelberg einbezogen worden, durch das der Angeklagte wegen Verstoßes gegen das BtMG zu einer zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe von zehn Monaten verurteilt worden war.

Der Senat hat mit Zustimmung des Generalbundesanwalts die Strafverfolgung auf die Vorwürfe des schweren Hausfriedensbruchs und der gefährlichen Körperverletzung beschränkt. Im übrigen blieben die auf die Sachrüge gestützten Revisionen der Angeklagten erfolglos.

1. Eine Bestrafung wegen Landfriedensbruchs unterbleibt, wenn die Tat nach anderen Vorschriften mit höherer Strafe bedroht ist (§ 125 Abs. 1, letzter Halbsatz StGB; "Subsidiaritätsklausel"). § 223a StGB sieht eine höhere Strafe vor als § 125 StGB. Seine Annahme, gleichwohl seien die Angeklagten auch wegen Landfriedensbruchs zu verurteilen, stützt das Landgericht auf folgende Erwägungen:

a) Vorliegend sei auch Gewalt gegen Sachen verübt worden. Die darin liegende Sachbeschädigung, die mangels Strafantrag nicht verfolgbar sei, sei nicht mit schwererer Strafe bedroht als der Landfriedensbruch. Schon deswegen greife hier die Subsidiaritätsklausel nicht ein.

Dem kann nicht gefolgt werden.

Allenfalls könnte § 303 StGB, der ansonsten von § 125 StGB verdrängt wird (OLG Karlsruhe NJW 1979, 2415, 2416; Tröndle, StGB 48. Aufl. § 125 Rdn. 12) wieder eigenständige Bedeutung erlangen, wenn § 125 StGB keine Anwendung findet, weil § 223a StGB vorgeht.

b) Im übrigen ist das Landgericht der Auffassung, die Subsidiaritätsklausel des § 125 StGB sei eine "sehr unzweckmäßige" und "offenbar mißglückte, aber nun schon einmal bestehende" Regelung, die daher zumindest "restriktiv" auszulegen sei. In Übereinstimmung mit Teilen der Literatur (Lenckner in Schönke/Schröder StGB 24. Aufl. § 125 Rdn. 31 f.; Rudolphi in SK 5. Aufl. § 125 Rdn. 28; v. Bubnoff in LK 10. Aufl. § 125 Rdn. 40) sei es daher der Ansicht, daß § 125 StGB, "in dem deutlicher als in einer Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung das spezifische Gepräge der Tat zum Ausdruck kommt, jedenfalls dann nicht aus dem Schuldspruch gedrängt wird, wenn, wie hier, zu begangenen Gewalttätigkeiten gegenüber Menschen oder Sachen noch Bedrohungen von Menschen mit einer Gewalttätigkeit (Nr. 2) hinzukamen".

Der Senat kann dem nicht folgen, ohne daß es auf seine Auffassung zur Zweckmäßigkeit der Subsidiaritätsklausel des § 125 StGB ankäme. Der Wortlaut der Subsidiaritätsklausel in § 125 Abs. 1 letzter Halbsatz StGB gestattet keine einschränkende Auslegung.

Der Richter ist an das Gesetz gebunden. Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze der Auslegung strafrechtlicher Bestimmungen zum Nachteil des Angeklagten (vgl. nur BGHSt 39, 112, 114 f; 40, 272, 279; BGH StV 1996, 546, 547; StV 1997, 132, 133 - zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt -; ferner BVerfGE 71, 108, 115; 73, 206, 235). Damit ist die vom Landgericht vorgenommene Auslegung der Subsidiaritätsklausel des § 125 StGB unvereinbar (im Ergebnis ebenso Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht Besonderer Teil Bd. 2, 7. Aufl. § 60 Rdn. 39; Bertuleit/Herkströter in Ridder/Breitbach/Rühl/Steinmeier, Kommentar zum Versammlungsrecht 1992, § 125 StGB Rdn. 44; Kostaras, Zur strafrechtlichen Problematik der Demonstrationsdelikte, 1982 S. 109).

c) Allerdings hat der Bundesgerichtshof in älterer Rechtsprechung - nicht zur Subsidiaritätsklausel des § 125 StGB, aber zu gleichen Subsidiaritätsklauseln anderer Strafbestimmungen - ausgesprochen, daß eine derartige Subsidiaritätsklausel nicht stets zur Nichtanwendung der betreffenden Bestimmung beim Zusammentreffen mit einer härteren Strafbestimmung zwinge. Vielmehr sei stets nach Zweck und Schutzbereich der Vorschriften zu prüfen, ob nicht nach dem erkennbaren Willen des Gesetzes auch auf die nur hilfsweise geltende Bestimmung zurückzugreifen ist (BGH, Urteil vom 19. Oktober 1951 - 2 StR 151/51 = LM § 145d Nr. 1; ebenso in nicht tragenden Ausführungen BGHSt 6, 297, 298; BGHSt 8, 191, 192 f.; ebenso unter anderem Tröndle aaO vor § 52 Rdn. 19; Stree in Schönke/Schröder StGB 25. Aufl. vor §§ 52 ff. Rdn. 106; Vogler in LK 10. Aufl. vor § 52 Rdn. 119; v. Bubnoff in LK 11. Aufl. § 125 Rdn. 73).

Der Senat hält diese Rechtsprechung im Hinblick auf die oben (1 b) angeführte neuere Rechtsprechung zur Auslegung strafrechtlicher Normen für überholt (mit der Folge, daß ein Verfahren gemäß § 132 GVG nicht erforderlich wäre, vgl. Salger in KK 3. Aufl. § 132 GVG Rdn. 8 m.w.Nachw.; zu dem gleichzubehandelnden Fall einer Vorlagepflicht gemäß § 121 GVG vgl. OLG Hamm NJW 1976, 762; Kissel, GVG 2. Aufl. § 121 Rdn. 18). Im übrigen gibt es aber auch keine Anhaltspunkte dafür, daß der Gesetzgeber des Jahres 1970, der durch das 3. StrRG vom 20. Mai 1970 (BGBl. I, 505) die seither unverändert gebliebene Subsidiaritätsklausel des § 125 StGB geschaffen hat, den Willen gehabt hätte, daß § 125 StGB über seinen Wortlaut hinaus anzuwenden wäre.

2. Eine Entscheidung durch den Senat, wonach der Schuldspruch wegen Landfriedensbruchs aus Rechtsgründen entfiele, kommt gleichwohl nicht in Betracht.

Das Landgericht hat versäumt zu prüfen, ob die Angeklagten wegen schweren Landfriedensbruchs gemäß § 125a StGB zu bestrafen sind. Wäre dies zu bejahen, wäre der Schuldspruch zutreffend, da § 223a StGB keine höhere Strafe vorsieht als § 125a StGB, ohne daß es auf die unterschiedlich beurteilte Frage ankommt, ob die Subsidiaritätsklausel bei § 125a StGB überhaupt gilt (zum Meinungsstand hierzu vgl. v. Bubnoff aaO).

Zumindest ein Mittäter (I.) führte beim Eindringen in das Lokal ein Messer mit sich (§ 125a Nr. 2 StGB), der durch die Tat angerichtete Schaden - maßgeblich ist der Gesamtschaden (v. Bubnoff aaO § 125 a Rdn. 9 m.w.Nachw.) - betrug deutlich mehr als 3.000 DM. Ohne daß es hier darauf ankäme, wo genau die Grenze des "bedeutenden Werts" i.S.d. § 125a Nr. 4 StGB zu ziehen ist (vgl. hierzu v. Bubnoff aaO § 125a Rdn. 9; Tröndle aaO § 125a Rdn. 6 und § 315 Rdn. 16 m.w.Nachw.), ist diese Grenze hier überschritten.

Auch wenn die Urteilsgründe nicht (klar) ergeben, daß die Angeklagten die genannten Regelbeispiele eigenhändig erfüllt haben (vgl. zu diesem Erfordernis BGHSt 27, 56, 58 f; v. Bubnoff aaO Rdn. 11), liegt jedenfalls dann, wenn bei einer mittäterschaftlich begangenen Tat ein Teil der Mittäter ein Regelbeispiel erfüllt hat, die Annahme nicht fern, daß bei den anderen Mittätern jedenfalls ein unbenannter besonders schwerer Fall vorliegt (BGHSt aaO 59; v. Bubnoff aaO Rdn. 12 m.w.Nachw.).

3. Aus alledem ergibt sich, daß sich bei einer erneuten Verhandlung erweisen könnte, daß der Schuldspruch im Ergebnis doch richtig ist, ohne daß sich die Tatsache, daß ein besonders schwerer Fall des Landfriedensbruchs vorliegt, im Strafausspruch noch niederschlagen könnte (§ 358 Abs. 2 Satz 1 StPO). Unter diesen Umständen hat der Senat aus Gründen der Prozeßwirtschaftlichkeit (vgl. BGHSt 32, 84, 87) die Strafverfolgung gemäß § 154a Abs. 2 StPO auf die verbleibenden Delikte beschränkt.

4. In dem danach verbleibenden Umfang enthält das Urteil keine Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten.

a) Die Feststellungen sind, auch unter Berücksichtigung des Revisionsvorbringens des Angeklagten H., ohne die Angeklagten benachteiligende Rechtsfehler getroffen.

b) Sie tragen den Schuldspruch. Hinsichtlich des Schuldspruchs gemäß § 124 StGB bedarf dies keiner weiteren Ausführungen.

c) Auch der Schuldspruch gemäß § 223a StGB ist rechtsfehlerfrei.

Der Angeklagte S. hat den Tatbestand schon deshalb erfüllt, weil er an den Tätlichkeiten selbst unmittelbar beteiligt war.

Hinsichtlich des Angeklagten H. konnte nicht festgestellt werden, daß er selbst tätlich geworden war. Dies gefährdet den Bestand des Schuldspruchs jedoch nicht. Für die Verwirklichung des Tatbestands der gefährlichen Körperverletzung in der Form der gemeinschaftlichen Tatbegehung ist nicht erforderlich, daß sich von mehreren am Tatort anwesenden Mittätern jeder auch eigenhändig an den körperlichen Verletzungen der Opfer beteiligt. Die in § 223 a StGB vorausgesetzte Gemeinschaftlichkeit der Tatbegehung begründet auch ein vom anwesenden Mittäter erbrachter Tatbeitrag, der nur darin besteht, daß der die Körperverletzung unmittelbar ausführende Täter in seinem Willen hierzu bestärkt wird (BGH GA 1986, 229, 230 m.w.Nachw.). Daß der Angeklagte die unmittelbar Tatbeteiligten in diesem Sinne bestärkt hat, hat die Jugendkammer rechtsfehlerfrei festgestellt. Daß die Jugendkammer im Ergebnis auch die zur Abgrenzung zwischen Täterschaft und Beihilfe gebotene Gesamtabwägung aller festgestellten Umstände vorgenommen hat, ergibt sich daraus, daß sie - wenn auch nicht im Rahmen der von ihr vorgenommenen rechtlichen Würdigung - sowohl darauf abhebt, daß es sich bei der Tat um eine "gemeinsame, von allgemeinem Ausländerhaß getragene Vergeltungsaktion" handelte, als auch darauf, daß die Anwesenheit des Angeklagten als einem "Ideologen der Skinheads" "ein ganz gewichtiges Element für die kämpfenden Mitglieder der Skinheads war".

Die Ablehnung von Nothilfe (§ 32 Abs. 2 StGB) zu Gunsten von M. ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Als der Angeklagte S. in das Lokal kam, war für ihn erkennbar, daß "kein Angriff auf M. im Gang und auch nicht zu erwarten war".

Hinsichtlich des Angeklagten H., der ganz kurze Zeit (rund eine Minute) später das Lokal betrat, ist die gleiche Feststellung getroffen. Jedoch heißt es an anderer Stelle im Urteil, daß er bei seinem Eintreffen in das Lokal "M. ... mit einem der türkischen Gäste kämpfen" sah.

Dieser Widerspruch gefährdet den Bestand des Urteils aber deshalb nicht, da die Feststellungen jedenfalls ergeben, daß es den Angeklagten um eine "Vergeltungsaktion" ging. Damit fehlt es an dem zur Anwendung von § 32 StGB erforderlichen Verteidigungswillen (vgl. Tröndle aaO § 32 Rdn. 14 m.w.Nachw.).

5. Auch die Strafaussprüche können Bestand haben. Der Wegfall des Schuldspruchs wegen Landfriedensbruchs ändert daran nichts.

Abgesehen davon, daß die Urteilsgründe nicht verdeutlichen, daß dies überhaupt geschehen wäre, hätten die besonderen Tatumstände, die für sich genommen die Anwendung des § 125 StGB gerechtfertigt hätten, bei der Strafzumessung berücksichtigt werden dürfen (BGHSt 8, 191, 193). Eine Fallgestaltung, bei der die Merkmale des verdrängten Gesetzes kein selbständiges Unrecht enthalten (vgl. BGHSt 19, 188, 189 m.w.Nachw.), liegt ersichtlich nicht vor.

Im übrigen enthält die Strafzumessung, auch unter Berücksichtigung des Revisionsvorbringens des Angeklagten H., keine Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten.

Bei der Bemessung der Einheitsjugendstrafe gegen den Angeklagten S. hat die Jugendkammer zutreffend auch die Taten gewürdigt, die dem Urteil des Jugendschöffengerichts Heidelberg zugrundelagen, das bereits in das von der Jugendkammer einbezogene Urteil des Amtsgerichts Freudenstadt einbezogen war. Die Jugendkammer hat jedoch übersehen, daß nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bei der Einbeziehung eines früheren Urteils auch ein bereits in jenes Urteil einbezogenes Urteil im Tenor des neuen Urteils aufzuführen ist (BGH StV 1989, 308). Entsprechend hat der Senat den Urteilstenor ergänzt.

Externe Fundstellen: BGHSt 43, 237; NJW 1998, 465; StV 1998, 129

Bearbeiter: Rocco Beck