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Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 7/92, Urteil v. 31.03.1992, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 1 StR 7/92 - Urteil vom 31. März 1992 (LG Augsburg)

BGHSt 38, 260; vorübergehende Ausschließung des Angeklagten (Unterrichtungspflicht des Gerichts nach Wiederzulassung).

Art. 6 EMRK; § 247 Satz 4 StPO

Leitsätze

1. Ist der Angeklagte während einer Zeugenvernehmung aus dem Sitzungssaal entfernt worden, so muss er von dem in seiner Abwesenheit Ausgesagten unterrichtet werden, bevor in seiner Anwesenheit die Beweisaufnahme fortgesetzt wird. Das gilt auch, wenn die in seiner Abwesenheit durchgeführte Vernehmung nur unterbrochen war. (BGHSt)

2. Die Unterrichtung des Angeklagten nach § 247 S. 4 StPO ist vom Gesetz zwingend vorgeschrieben und unverzichtbar, der Vorsitzende hat auch keine Möglichkeit, ihren Zeitpunkt nach seinem Ermessen zu bestimmen. Die Revision ist deshalb bei dem vorliegenden Verstoß auch nicht von der Anrufung des Gerichts nach § 238 Abs. 2 StPO abhängig. (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

1. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 10. Juli 1991 werden verworfen.

Die Staatskasse trägt die Kosten dieser Rechtsmittel und die durch sie den Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen.

2. Der die Revision des Angeklagten H. als unzulässig verwerfende Beschluss des Landgerichts Augsburg vom 25. November 1991 wird aufgehoben.

Auf die Revision des Angeklagten H. wird das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 10. Juli 1991 in den Fällen 20 bis 22 und 24 der Urteilsgründe und im Ausspruch über die Gesamtstrafe mit den Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision des Angeklagten H., an eine allgemeine Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision des Angeklagten H. wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten H. wegen 21 verschiedener Straftaten unter Einbeziehung von Einzelstrafen aus einem früheren Urteil zur Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und drei Monaten, den Angeklagten S. wegen 10 Straftaten zur Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Vom Vorwurf der versuchten Anstiftung zum Mord wurden beide Angeklagte freigesprochen. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft sind auf diesen Freispruch sowie auf den Rechtsfolgenausspruch beim Angeklagten H. beschränkt. Die auf die Sachrüge gestützten Rechtsmittel sind offensichtlich unbegründet. Die Revision des Angeklagten H. hat mit einer Verfahrensrüge teilweise Erfolg. Die Sachrüge ist nicht begründet.

I.

Die Revisionen der Staatsanwaltschaft

1. Soweit sich die Revisionen gegen den Freispruch wenden, richten sich die Angriffe ausschließlich gegen die Beweiswürdigung. Diese ist jedoch Sache des Tatrichters, dessen Aufgabe es ist, sich eine Überzeugung von der Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu verschaffen. Kann er vorhandene Zweifel nicht überwinden, muß er freisprechen. Das Revisionsgericht kann diese Entscheidung nur auf Rechtsfehler überprüfen. Ein solcher Rechtsfehler liegt vor, wenn die Beweiswürdigung in sich widersprüchlich, lückenhaft oder unklar ist, gegen die Denkgesetze oder gesichertes Erfahrungswissen verstößt oder an die zur Verurteilung erforderliche Gewißheit übertriebene Anforderungen stellt (st. Rspr., vgl. BGH NStZ 1984, 180).

Der Senat sieht in Übereinstimmung mit dem Generalbundesanwalt keinen Rechtsfehler. Maßgebend war die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Belastungszeugen G.. Das Landgericht konnte sich von der Richtigkeit seiner Aussage nicht überzeugen und hat zur Überprüfung die dafür und dagegen sprechenden Umstände detailliert dargelegt und diese anschließend in ihrer Gesamtheit nochmals gegeneinander abgewogen. Die Würdigung der vorhandenen Beweise hält sich im Rahmen tatrichterlichen Ermessens. Soweit die Beschwerdeführerin neue Überlegungen ins Spiel bringt, hat sie nicht darzulegen vermocht, daß wesentliche Gesichtspunkte außer Betracht geblieben seien.

2. Die Strafzumessung weist keinen Rechtsfehler zu Gunsten oder zu Lasten des Angeklagten H. auf.

a) Daß das Landgericht die an mehreren Stellen hervorgehobene "Anführereigenschaft" dieses Angeklagten bei der Strafzumessung übersehen haben könnte, hält der Senat für ausgeschlossen. Sowohl die Einzelstrafen als auch die Gesamtstrafe liegen erheblich höher als bei den Mittätern.

b) Der Senat teilt nicht die Auffassung der Revision, die verhängte Gesamtfreiheitsstrafe habe sich zu Gunsten des Angeklagten H. von ihrer Bestimmung gelöst, gerechter Schuldausgleich zu sein (zu Rechtsfehlern bei der Strafzumessung vgl. BGHSt 34, 345, 349). Da die Strafzumessung Aufgabe des Tatrichters ist, kann das Revisionsgericht aus dem genannten Gesichtspunkt heraus allenfalls bei extremen Fällen eingreifen. Ein solcher Fall liegt bei einer Einsatzstrafe von einem Jahr und sechs Monaten, weiteren Einzelstrafen von zusammen nahezu 12 1/2 Jahren sowie einer daraus gebildeten Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und drei Monaten ersichtlich nicht vor.

II.

Revision des Angeklagten H.

1. Das Urteil des Landgerichts war den beiden Verteidigern des Angeklagten am 30. September und am 9. Oktober 1991 zugestellt worden. Die Frist zur Begründung der Revision begann erst mit der zweiten Zustellung (§ 37 Abs. 2 StPO). Entgegen der Auffassung des Landgerichts hat der Angeklagte deshalb mit der am Montag, den 11. November 1991 eingegangenen Schrift die Revision rechtzeitig begründet. Der Beschluß des Landgerichts vom 25. November 1991, mit dem die Revision wegen verspäteter Revisionsbegründung als unzulässig verworfen wurde, war daher aufzuheben.

2. Zu einem Teilerfolg der Revision führt die auf eine Verletzung des § 247 Satz 4 StPO gestützte Verfahrensrüge, während die Überprüfung des Urteils auf die allgemein erhobene Sachrüge keinen Rechtsfehler aufdeckt.

a) Am 7. Verhandlungstag wurde der Angeklagte für die Dauer der Vernehmung des Zeugen W. aus dem Sitzungssaal entfernt. Die Vernehmung des nur eingeschränkt vernehmungsfähigen Zeugen mußte unterbrochen werden und wurde erst 10 Wochen später am 19. Verhandlungstag in Anwesenheit des Angeklagten fortgesetzt und nach kurzer Zeit beendet. Vor Beginn dieses Vernehmungsteiles wurde der Angeklagte vom Inhalt des in seiner Abwesenheit erfolgten Teiles der Zeugenaussage unterrichtet. In der Zwischenzeit (8. bis 18. Verhandlungstag) waren Zeugen vernommen und andere Beweiserhebungen durchgeführt worden.

b) Dieses Verfahren verstößt gegen § 247 Satz 4 StPO: Der Vorsitzende hat den Angeklagten, sobald dieser wieder anwesend ist, vom wesentlichen Inhalt dessen zu unterrichten, was während seiner Abwesenheit ausgesagt oder sonst verhandelt worden ist. Die durch § 247 StPO ermöglichte Verhandlung ohne den Angeklagten und seine dadurch behinderte Verteidigung sind, soweit unvermeidbar, hinzunehmen in Verbindung mit seiner Unterrichtung über das in seiner Abwesenheit Geschehene bevor weitere Verfahrenshandlungen erfolgen. Damit soll er weitgehend so gestellt werden, wie er ohne Zwangsentfernung gestanden hätte (vgl. BGHSt 3, 384, 385; BGHR StPO § 247 Satz 4 Unterrichtung 2).

Der Pflicht nach § 247 Satz 4 StPO war der Vorsitzende hier nicht deshalb enthoben, weil die Vernehmung des Zeugen nur unterbrochen war. Maßgebend für die Unterrichtung ist nicht der Abschluß der Zeugenvernehmung, sondern die Wiederzulassung des Angeklagten. Es muß sichergestellt sein, daß der Angeklagte vor weiterer Beweiserhebung in seiner Anwesenheit durch Unterrichtung so gestellt wird, daß sein Informationsstand im wesentlichen dem der anderen Prozeßbeteiligten entspricht. Denn ohne Kenntnis der bereits teilweise in die Hauptverhandlung eingeführten Aussage kann er sein Fragerecht gegenüber weiteren Zeugen oder seine Verteidigung zu sonstigen Verhandlungsgegenständen grundsätzlich nicht sachgerecht ausüben (vgl. BGHR aaO Unterrichtung 3).

Dementsprechend hätte am 8. Verhandlungstag erst weiterverhandelt werden dürfen, nachdem der jetzt wieder zugelassene Angeklagte vom wesentlichen Inhalt der (bisherigen) Zeugenaussage W. unterrichtet worden war. Eines Antrages des Angeklagten bedurfte es insoweit nicht. Die Unterrichtung ist vom Gesetz zwingend vorgeschrieben und unverzichtbar, der Vorsitzende hatte auch keine Möglichkeit, ihren Zeitpunkt nach seinem Ermessen zu bestimmen. Die Revision ist deshalb bei dem vorliegenden Verstoß auch nicht von der Anrufung des Gerichts nach § 238 Abs. 2 StPO abhängig (vgl. BGH NStZ 1981, 71; Treier in KK 2. Aufl. § 238 Rdn. 18; Kleinknecht/Meyer, StPO 40. Aufl. § 238 Rdn. 22).

c) Auf dem Rechtsfehler kann das Urteil aber nur zum Teil beruhen.

aa) Solche Taten des Angeklagten, die zu der Aussage des Zeugen W. keinen Bezug haben, weil er weder Opfer noch Zeuge war, und die deshalb mit ihm nicht in Verbindung stehen, können von dem Rechtsfehler nicht beeinflußt sein. Eine rechtzeitige Unterrichtung über die Aussage hätte eine bessere Verteidigung in diesen Fällen nicht ermöglichen können.

bb) Zutreffend weist die Revision aber darauf hin, daß das für die bedeutsamen Teile des Anklagevorwurfes Nr. 24 (auf dem die Verurteilung in den Fällen 20 bis 22 und 24 der Urteilsgründe basiert) nicht gelten kann. Hier war W. teils Opfer teils Zeuge und (allein) auf diese Fälle bezog sich seine Aussage.

Das Landgericht begründet hier die Verurteilung mit Teilgeständnissen, mit der Beweiserhebung über Verletzungen des Zeugen W. und den Aussagen mehreren Zeugen. Das Gericht weist allerdings ausdrücklich darauf hin, daß auf die wirre, widersprüchliche und teilweise reiner Phantasie entspringende Aussage W.'s eine Verurteilung nicht gestützt werden konnte. Dies war bereits bei Ablehnung eines Beweisantrages auf Erholung eines Sachverständigengutachtens zur Glaubwürdigkeit des Zeugen am 26. Verhandlungstag mitgeteilt worden. Im Zusammenhang mit der Verletzung des § 247 Satz 4 StPO ist aber nicht allein die Einschätzung dieser Aussage durch die Prozeßbeteiligten von Bedeutung. Die rechtzeitige Kenntnis des ersten Aussageteils hätte dem Angeklagten möglicherweise eine wirksamere Verteidigung eröffnet - z.B. durch Vorhalte aus der Aussage W. an fünf zu diesem Tatkomplex zwischen dem 8. und 18. Verhandlungstag vernommene Zeugen.

Das Beruhen des Urteils auf dem Rechtsfehler in den genannten Fällen ist nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Angeklagte seine Rechte an weiteren 14 Verhandlungstagen nach seiner Unterrichtung hätte wahrnehmen können. Durch alsbaldige Unterrichtung nach seinem Wiedereintritt soll er in die Lage versetzt werden, den weiteren Gang der Verhandlung sofort zu beeinflussen und Stellung zu nehmen noch im Zusammenhang mit der von den anderen Prozeßbeteiligten gehörten Zeugenaussage (vgl. RG JW 1931, 2034; Gollwitzer in LR 24. Aufl. § 247 Rdn. 49 m.w.Nachw.). Ein Beruhen des Urteils auf dem Rechtsverstoß ließe sich hier nur ausschließen durch Wiederholung der Verhandlungsteile, welche die mit der Aussage W. zusammenhängenden Tatvorwürfe betrafen.

Der Senat schließt aus, daß die aufgehobenen Fälle die Zumessung der übrigen Einzelstrafen beeinflußt haben. Die Zuständigkeit einer Schwurgerichtskammer nach § 74 GVG ist durch den rechtskräftigen Freispruch entfallen.

Externe Fundstellen: BGHSt 38, 260; NJW 1992, 2241; NStZ 1992, 501; StV 1992, 454

Bearbeiter: Rocco Beck