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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 495

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 360/22, Urteil v. 22.03.2023, HRRS 2023 Nr. 495


BGH 1 StR 360/22 - Urteil vom 22. März 2023 (LG Hechingen)

Nachträgliche Gesamtstrafenbildung (Zäsurwirkung).

§ 55 Abs. 1 StGB

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Hechingen vom 16. Mai 2022 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben

a) soweit der Angeklagte freigesprochen wurde sowie

b) - insoweit auch zu Gunsten des Angeklagten - im Ausspruch über die Gesamtstrafe.

2. Die weitergehende Revision der Staatsanwaltschaft wird verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

I.

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Diebstahls in zehn Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Im Übrigen hat es ihn freigesprochen. Die Revision der Staatsanwaltschaft, die den Freispruch und den gesamten Strafausspruch mit der Beanstandung formellen und materiellen Rechts angreift, erzielt den aus der Urteilsformel - hinsichtlich des Ausspruchs über die Gesamtstrafe auch zu Gunsten des Angeklagten (§ 301 StPO) - ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet.

1. Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der versuchten gefährlichen Körperverletzung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung und Sachbeschädigung aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Dem Angeklagten lag aufgrund der zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage zur Last, am 4. Januar 2021 kurz vor 22.30 Uhr mit einem entwendeten oder nachgemachten Schlüssel in die Wohnung des 84-jährigen, ihm freundschaftlich zugetanen vormaligen Unternehmers J. in H. gelangt zu sein und dort die Bettdecke des im Bett schlafenden Geschädigten angezündet, anschließend das Schlafzimmer verlassen und von außen die Tür abgeschlossen zu haben. Der Angeklagte sei hierbei davon ausgegangen, dass der Geschädigte rechtzeitig aufwachen und das Feuer löschen werde. Der Angeklagte habe zudem damit gerechnet, dass der Geschädigte, dessen Vertrauen er zuvor über Monate erschlichen und den er gegen 18.00 Uhr schlafend in seiner Wohnung bei schlechtem Gesundheitszustand zurückgelassen hatte, nach Löschen des Feuers ihn telefonisch zu Hilfe rufen werde, was tatsächlich auch geschehen sei.

Der Angeklagte habe mit seinem Vorgehen bezweckt, sich gegenüber dem Geschädigten als Retter in der Not zu gerieren.

2. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

a) Der Angeklagte und der Geschädigte unterhielten seit September 2020 ein freundschaftliches und teils intimes Verhältnis. Der Angeklagte unterstützte den in Streit mit seinen Verwandten lebenden Geschädigten bei alltäglichen Dingen und genoss kontinuierlich dessen Vertrauen. Am 4. Januar 2021 litt der Geschädigte unter Kreislaufbeschwerden, so dass der Angeklagte ihn zur Hausärztin begleitete, die jedoch für die Beschwerden keine Ursache feststellen konnte. Der Angeklagte brachte den Geschädigten zurück in seine Wohnung. Er sorgte sich jedoch im Laufe des Tages zunehmend um dessen Gesundheitszustand und begab sich schließlich mit seinem Lebensgefährten P. zum Geschädigten, den sie in seinem Wohnzimmersessel schlafend vorfanden. Sie ließen dem weiterhin schlafenden Geschädigten eine Nachricht zurück und verließen gegen 18.00 Uhr das Anwesen. Der Geschädigte begab sich gegen 21.00 Uhr ins Schlafzimmer und schlief dort ein. Gegen 22.30 Uhr brannte seine Bettdecke aufgrund einer mindestens acht Sekunden lang an den Stoff gehaltenen Flamme eines Zündmittels etwa 20 cm hoch. Der Geschädigte schlug die Flammen aus. Um 22.46 Uhr rief er den Angeklagten an und bat ihn um Hilfe, auch weil er das zugesperrte Schlafzimmer nicht verlassen könne. Der Angeklagte erschien am Anwesen des Geschädigten um 23.00 Uhr. Dieser erklärte ihm, wo er einen Schlüssel für die Haustür finden könne und wo sich der Ersatzschlüssel für die Schlafzimmertür befinde. Der Angeklagte konnte sich hierdurch Zugang zum Geschädigten verschaffen; er riet diesem, die Polizei zu rufen und zu melden, dass jemand versucht habe, ihn zu töten, was der Geschädigte um 23.19 Uhr auch tat.

b) Das Landgericht hat sich nicht davon zu überzeugen vermocht, dass der die Tatbegehung bestreitende Angeklagte die Bettdecke angezündet habe. Aufgrund der Funkzellenauswertung sei zwar festzustellen, dass sich der Angeklagte gegen 22.41 Uhr „unweit des Tatorts“ (UA S. 55) befunden habe. Daraus ergebe sich aber nicht, dass er sich zur vom Geschädigten beschriebenen Tatzeit um 22.30 Uhr am Tatort aufgehalten habe (UA S. 54 und 55). Nachdem andere Personen als Brandleger ausscheiden würden, kämen insoweit lediglich der Angeklagte aber auch der Geschädigte selbst als Verursacher in Betracht. Zwar könne die Motivation beim Angeklagten für die Brandlegung darin gesehen werden, dass er mit einem „inszenierten selbstlosen Rettungseinsatz“ (UA S. 57) noch weitergehend die Gunst des Geschädigten hätte erwerben wollen, um die Einsetzung seiner Person in dessen Testament zu erreichen. Jedoch sei nicht ausgeschlossen, dass der Geschädigte die Decke selbst entzündet und „den Brandanschlag gleichsam inszeniert“ habe, um den Angeklagten als Retter in der Not zu sich zu holen (UA S. 52), um seinerseits dessen Gunst für sich zu sichern (UA S. 57).

II.

1. Die insoweit vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft gegen den Teilfreispruch dringt mit einer Inbegriffsrüge (§ 261 StPO) durch. Das Landgericht hat die zwischen dem Angeklagten und seinem Lebensgefährten P. geführte WhatsApp-Kommunikation im Wege des Selbstleseverfahrens (§ 249 Abs. 2 StPO) in die Hauptverhandlung eingeführt. Aus dieser Kommunikation ergibt sich, dass der Angeklagte etwa fünf bis sechs Minuten vor dem vom Landgericht angenommenen Zeitpunkt der Brandlegung sich in unmittelbarer Nähe des Tatobjekts aufhielt. Danach konnte der Angeklagte ersehen, dass das Anwesen unbeleuchtet war; er äußerte dabei gegenüber P., ob er sich durch Klingeln Einlass verschaffen sollte.

2. Das Landgericht war im Rahmen der Beweiswürdigung deshalb gehalten, die Anwesenheit des Angeklagten am Anwesen des Geschädigten kurz vor der Brandentstehung in seine Erwägungen zur möglichen Täterschaft des Angeklagten einzubeziehen (§ 261 StPO). Durch die Nichterörterung dieses erheblichen Umstandes hat es die in die Hauptverhandlung eingeführte Kommunikationsnachrichten unzureichend ausgeschöpft, so dass die Beweiswürdigung eine durchgreifende Lücke aufweist, auf der das Urteil beruht.

III.

Der Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Teilfreispruchs mitsamt den zugehörigen Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO). Das neue Tatgericht wird im Rahmen der Beweiswürdigung - wie vom Generalbundesanwalt zu Recht moniert - die Aussage des Geschädigten im Einzelnen näher darzulegen und zu bewerten haben, um dem Revisionsgericht die Nachprüfung der Glaubwürdigkeitserwägungen zu ermöglichen; zudem wird der Widerspruch zu erörtern oder aufzulösen sein, wie der Angeklagte in die Wohnung des schlafenden Geschädigten am 4. Januar 2021 vor 18.00 Uhr gelangen konnte, er aber um 23.00 Uhr sich erst das Versteck für den Haustürschlüssel durch den Geschädigten erklären lassen musste.

IV.

1. Die Beanstandungen der Revision in Bezug auf die Strafzumessung hinsichtlich der Einzelstrafen für die zehn Diebstahlstaten bleiben aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts ohne Erfolg. Die vom Landgericht gebildete Gesamtstrafe aus den abgeurteilten zehn Diebstahlstaten hält jedoch rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die verhängte Gesamtfreiheitsstrafe ist daher mit den Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO) aufzuheben. Die Aufhebung der Gesamtstrafe wirkt sich wegen der Möglichkeit der Verhängung mehrerer Gesamtstrafen nicht ausschließbar auch zu Gunsten des Angeklagten aus (§ 301 StPO).

2. Das Landgericht hat sich durch den rechtskräftigen nachträglichen Gesamtstrafenbeschluss des Amtsgerichts Goslar vom 13. September 2021, in dem - nach Auflösung der jeweiligen Gesamtstrafen - aus einer Vielzahl von Einzelstrafen aus den Urteilen des Amtsgerichts Spaichingen vom 13. Februar 2017, des Amtsgerichts Goslar vom 19. März 2020 und des Amtsgerichts Rottweil vom 28. Juli 2020 zwei Gesamtfreiheitsstrafen von einem Jahr und sechs Monaten, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde, sowie - insoweit zur Bewährung ausgesetzt - von zwei Jahren gebildet wurden, wegen einer sich aus diesem „vorrangigen“ Beschluss (UA S. 47) ergebenden Zäsurwirkung gehindert gesehen, eine Gesamtstrafe mit den Einzelstrafen aus den Urteilen des Amtsgerichts Goslar vom 19. März 2020 und des Amtsgerichts Rottweil vom 28. Juli 2020 mangels Vorliegens einer Gesamtstrafenfähigkeit zu bilden. Nach den Feststellungen der Strafkammer ist hierbei aber nicht ersichtlich, inwieweit das Urteil des Amtsgerichts Spaichingen vom 13. Februar 2017 Zäsurwirkung gemäß § 55 Abs. 1 StGB mit Blick auf die Tatzeiten der verfahrensgegenständlichen Diebstahlstaten (13. März 2019, 7. Juni 2019, 1. Oktober bis 10. Oktober 2019, 7. Oktober 2019, 7. Oktober bis 8. November 2019, 20. Februar 2020, 29. Februar 2020 bis 1. März 2020, 25. April 2020, Juli 2020 und April 2021) entfaltet hat. Zwar teilt die Strafkammer fragmentarisch mit, dass das Landgericht Rottweil über die insoweit eingelegte Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Spaichingen vom 13. Februar 2017 entschieden hat und zwar rechtskräftig seit dem 21. Dezember 2018 (UA S. 45), so dass eine Zäsurwirkung hinsichtlich aller verfahrensgegenständlichen Diebstahlstaten vorliegt. Allerdings hat das Amtsgericht Goslar mit Urteil vom 19. März 2020 wegen zweier Taten vom 31. März 2018 und 2. April 2018 eine Gesamtfreiheitsstrafe verhängt, wobei das Landgericht Braunschweig auf die Berufungen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten am 26. August 2020 die Berufung des Angeklagten verworfen und auf die Berufung der Staatsanwaltschaft auf eine „Freiheitsstrafe“ von elf Monaten erkannt hat. Jedenfalls die bis zu diesem Zeitpunkt begangenen verfahrensgegenständlichen Diebstahlstaten sind damit grundsätzlich gesamtstrafenfähig mit der Strafe bzw. den Einzelstrafen aus dem Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 26. August 2020. Schließlich hat das Amtsgericht Rottweil mit Urteil vom 28. Juli 2020 (22 Taten im Zeitraum 13. August 2016 bis 17. November 2017) unter Einbeziehung einer Vielzahl von Einzelstrafen aus den Urteilen des Amtsgerichts Oberndorf vom 9. April 2015 (Tatzeiten von Juni 2012 bis 26. September 2013 mit Bildung einer Gesamtfreiheitsstrafe unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus der gebildeten Gesamtfreiheitsstrafe des Amtsgerichts Horb vom 5. Juli 2012 sowie - wegen der Zäsurwirkung der Verurteilung des Amtsgerichts Horb vom 5. Juli 2012 - zu einer weiteren Freiheitsstrafe unter Einbeziehung dieser Strafe in die erste Gesamtfreiheitsstrafe), des Amtsgerichts Stuttgart vom 20. Juli 2016 (sechs Taten: Tatzeiten vom 19. August 2014 bis 28. Januar 2015; auf die Berufungen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft hat das Landgericht Stuttgart, rechtskräftig seit 25. Februar 2017 (UA S. 45), eine zur Bewährung ausgesetzte Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verhängt, wobei die Einzelstrafen aus der zweiten Freiheitsstrafe des Amtsgerichts Oberndorf vom 9. April 2015 einbezogen wurden) sowie des Amtsgerichts Spaichingen vom 13. Februar 2017 (s.o.; Tatzeiten am 30. September 2015 und am 23. Oktober 2015) zwei Gesamtfreiheitsstrafen von einem Jahr und von zwei Jahren, jeweils mit Strafaussetzung zur Bewährung, verhängt.

3. Die Feststellungen des Landgerichts zu einer möglichen Gesamtstrafenbildung sind unzureichend. Der nachträgliche Gesamtstrafenbeschluss des Amtsgerichts Goslar vom 13. September 2021 „sperrt“ jedenfalls eine neuerliche Gesamtstrafenprüfung und -bildung unter Auflösung bisheriger Gesamtstrafen nicht. Das neue Tatgericht wird zu prüfen haben, ob die jeweils verfahrensgegenständliche Tat bzw. Taten vor einer zäsurbildenden Entscheidung begangen ist bzw. sind (vgl. § 55 Abs. 1 Satz 2 StGB) und ob aufgrund einer anderweitigen früheren Entscheidung, deren Einzelstrafe(n) einbezogen wurde(n), seinerseits durch eine Zäsurwirkung dieser Entscheidung eine Gesamtstrafenbildung ausscheidet. Hierzu sind genauere Feststellungen zum Zeitpunkt des Urteilserlasses der eine Zäsur bildenden Entscheidung zu treffen; darüber hinaus ist angesichts der Verhängung mehrerer Gesamtfreiheitsstrafen in einer Entscheidung eine Zuordnung der einzelnen Taten mit Tatzeitpunkten zu den jeweilig verhängten Gesamtfreiheitsstrafen erforderlich.

4. Die danach zu bildenden Gesamtstrafen bedürfen daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 495

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede