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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 527

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 52/21, Beschluss v. 23.03.2021, HRRS 2021 Nr. 527


BGH 1 StR 52/21 - Beschluss vom 23. März 2021 (LG Kempten)

Minderschwerer Fall des Totschlags; Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsklinik.

§ 212 StGB, § 213 StGB; § 64 StGB

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kempten (Allgäu) vom 10. November 2020 aufgehoben

a) im Strafausspruch und

b) im Ausspruch über die unterbliebene Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt mit den zugehörigen Feststellungen.

2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt; von einer Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt hat es abgesehen.

Die hiergegen gerichtete auf die Rüge einer Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten führt zur Aufhebung des Rechtsfolgenausspruchs und ist im Übrigen unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

I.

Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen führten der Angeklagte und seine Ehefrau, K., eine ambivalente, einerseits von Zuneigung und regelmäßigen sexuellen Kontakten, andererseits aber von heftigen verbalen und teilweise auch körperlichen Auseinandersetzungen geprägte Beziehung. Insbesondere die starke Eifersucht der inzwischen verstorbenen Ehefrau des Angeklagten war Anlass für diese Streitigkeiten und Grund für eine starke psychische Belastung sowie eine zunehmende Alkoholabhängigkeitserkrankung des Angeklagten, die öfters zu aggressivem Verhalten des Angeklagten und zu Tätlichkeiten (Ohrfeigen und Schubsen) bei den ehelichen Auseinandersetzungen führte. Im Rahmen einer stationären psychiatrischen Behandlung im Jahr 2019 wurden beim Angeklagten eine Anpassungsstörung mit depressiver Symptomatik (ICD-10 F 43.2), psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol nebst Abhängigkeitssyndrom (ICD-10 F 10.2) sowie durch Alkohol mit Entzugssyndrom (ICD-10 F 10.3) festgestellt. Trotz einer bei diesem stationären Aufenthalt absolvierten Entgiftung, einer anschließend von April bis Ende Juli 2019 durchgeführten stationären Entwöhnungsbehandlung und seiner durchgehend vorhandenen Therapiemotivation steigerte der Angeklagte nach seiner Entlassung nach nur kurzer Zeit der Abstinenz seinen Alkoholkonsum unter dem Druck der Streitigkeiten mit seiner Ehefrau und der hierdurch zunehmenden Frustration weiter. Im September 2019 trennten sich die Eheleute vorübergehend, wobei der Angeklagte - anders als seine verstorbene Ehefrau - den Kontakt mit den inzwischen wegen der Gefahr der Verwahrlosung aus der Familie genommenen und in einer Pflegefamilie untergebrachten gemeinsamen Kindern aufrechterhielt. Bis zuletzt hegte der Angeklagte die Hoffnung, dass die Familie wieder zusammenfinden würde; zu einer konsequenten Trennung der Eheleute kam es nicht. Zur Tatzeit wohnten der Angeklagte und seine Ehefrau in getrennten Zimmern eines Hotels in L., wobei der Angeklagte seine Ehefrau nicht nur finanziell unterstützte, sondern sie auch regelmäßig in seinem Zimmer schlafen ließ, um ihrer Eifersucht den Boden zu entziehen. Die von der massiven Eifersucht der Ehefrau des Angeklagten geprägten Auseinandersetzungen der Eheleute setzten sich weiterhin fort; die Ehefrau des Angeklagten spionierte diesem nach und ging auch Dritte eifersuchtsgetrieben an.

Am frühen Abend des 8. März 2020 besuchten der Angeklagte und seine Ehefrau gemeinsam ein Restaurant. Nach Rückkehr in das Hotelzimmer des Angeklagten legte sich der Angeklagte, der insgesamt mindestens fünf bis sechs Bier und zwei Schnäpse konsumiert hatte, auf eines der Betten und versuchte zu schlafen. Es entwickelte sich ein Streit, in dessen Rahmen K. dem Angeklagten hartnäckig vorwarf, fremdzugehen. Der Angeklagte, der seinen letzten Arbeitsplatz infolge einer Trunkenheitsfahrt verloren und erst kürzlich eine neue Arbeitsstelle angetreten hatte und dort am nächsten Morgen nicht alkoholbedingt auffallen wollte, bat seine Ehefrau im Rahmen des Streits mehrfach vergeblich, ihn in Ruhe zu lassen oder zu gehen. Nachdem K. trotz dieser wiederholten Bitten nicht von ihm abließ, entschloss sich der Angeklagte, um sich den Vorhaltungen und Anschuldigungen seiner Ehefrau zu entziehen, vor dem Gebäude eine Zigarette zu rauchen. Er stand zwischen 20.20 Uhr und 20.30 Uhr von seinem Bett auf, ging in Richtung der Zimmertür und zog sich etwas an, während seine Ehefrau ihm weiterhin vorwarf, er wolle sie loswerden. Beim Anziehen erblickte der Angeklagte auf einem Tisch ein Küchenmesser mit einer einseitig scharf geschliffenen Klinge (Klingenlänge ca. 20 cm und Klingenbreite 2,5 cm). Er fasste spontan den Entschluss, seine Ehefrau mit diesem Messer anzugreifen, um sie zum Schweigen zu bringen. Er ergriff das Messer mit seiner rechten Hand und ging schnell ca. zwei Meter auf seine Ehefrau zu. Als er unmittelbar vor ihr stand, stach er mit dem rechten Arm mit einem mit kurzer Amplitude gezielt geführten Stich wissentlich und willentlich in Richtung des Unterleibs seiner Ehefrau und fügte dieser einen ca. vier cm tiefen Stich in das Gewebe der Vorderinnenseite des rechten Oberschenkels nahe ihrer Leiste unmittelbar über dem Gefäßstrang zu, wodurch er ihre Arterie im rechten Oberschenkel durchtrennte und ihre Vene durchstach. Hierdurch kam es zu einem hohen Blutverlust bei K., infolge dessen sie zu Boden ging und das Bewusstsein verlor. Der Angeklagte verständigte sodann den Rettungsdienst, der indes das Leben von K. nicht mehr zu retten vermochte; sie verstarb, was der Angeklagte bei Setzen des Stichs als Möglichkeit erkannt und billigend in Kauf genommen hatte, um 22.05 Uhr im Krankenhaus.

Die Fähigkeit des Angeklagten, das Unrecht der Tat einzusehen, war trotz seiner Alkoholisierung (Blutalkoholkonzentration von 1,9 Promille um 22.24 Uhr) nicht beeinträchtigt; infolge einer akuten Belastungsreaktion war indes seine Fähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln, nicht ausschließbar im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert.

II.

Der Schuldspruch hat Bestand; insbesondere ist er von einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung getragen. Der Rechtsfolgenausspruch hält indes revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand.

1. Der Strafausspruch erweist sich als durchgreifend rechtsfehlerhaft und unterliegt daher der Aufhebung, weil das Landgericht das Vorliegen eines minder schweren Falles des Totschlags gemäß § 213 2. Alternative StGB allein aufgrund der allgemeinen Strafzumessungskriterien nicht tragfähig verneint hat.

a) Das Landgericht hat zutreffend erkannt, dass für die Frage, ob ein minder schwerer Fall nach § 213 2. Alternative StGB vorliegt, vorrangig geprüft werden muss, ob die Tat nach der vorzunehmenden Gesamtwürdigung bereits aufgrund der allgemeinen Milderungsgründe als minder schwerer Fall zu bewerten ist, und dass nur dann, wenn dies nicht der Fall ist, bei der gebotenen Gesamtbetrachtung ein etwa vorliegender vertypter Strafmilderungsgrund zusätzlich heranzuziehen ist (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 12. März 2019 - 2 StR 17/19 Rn. 3 und vom 9. Februar 2014 - 1 StR 629/14 Rn. 9, jeweils mwN). Es hat indes das Vorliegen eines minder schweren Falles nach § 213 2. Alternative StGB trotz zahlreicher gewichtiger zu Gunsten des nur unwesentlich vorbestraften Angeklagten in die Strafzumessung eingestellter Gesichtspunkte, wie insbesondere die wegen der massiven chronischen Eifersucht seiner Ehefrau sehr schwierige Lebenssituation des Angeklagten, seine hierdurch bedingte psychische Belastung, die spontane Tatbegehung aus einer aufgeheizten Situation heraus, das von glaubwürdiger Reue getragene Teilgeständnis des Angeklagten und seine Rettungsversuche, allein unter Hinweis darauf verneint, dass sich der Angeklagte „Ende des Jahres 2019/Anfang des Jahres 2020 bewusst wieder in eine Situation begab, in der er mit massiven psychischen Belastungen in Folge des Verhaltens seiner Ehefrau rechnen musste“ und er wusste, „dass seine Streitigkeiten mit K. bis hin zu körperlichen Auseinandersetzungen führen“ könnten (UA S. 24).

Die Berücksichtigung dieses - einzigen als straferschwerend gewerteten - Umstands begegnet schon deshalb durchgreifenden Bedenken, weil es dem Angeklagten nicht zum Vorwurf gemacht werden kann, dass er in der Hoffnung, seine Ehe und Familie retten zu können, die Annäherung zu seiner Ehefrau suchte und zuließ, obwohl er aufgrund der Persönlichkeit seiner Ehefrau und den hieraus resultierenden Problemen mit weiteren massiven psychischen Belastungen und sogar körperlichen Auseinandersetzungen rechnen musste. Dass der Angeklagte versuchen wollte, seine Ehe zu retten und mit seiner Ehefrau trotz ihrer ihn stark belastenden Eifersucht und der insgesamt schwierigen Lebenssituation einen gemeinsamen Weg zu finden, ist nicht nur menschlich nachvollziehbar, sondern auch achtenswert, jedenfalls aber kein dem Angeklagten vorwerfbarer Gesichtspunkt. Dem diesen Bemühungen geschuldeten Verhalten des Angeklagten - dem Zulassen von persönlichem Kontakt und insbesondere der Gewährung von Zutritt für seine Ehefrau zu seinem Zimmer nach einem gemeinsamen Restaurantbesuch - kommt eine schuldsteigernde und damit straferschwerende Wirkung nicht zu, zumal der Angeklagte während des Streites wiederholt versucht hatte, eine gewaltfreie Auflösung der Situation zu erreichen; als Argument, um die Einordnung der Tat als minder schwerer Fall zu versagen, ist dieses Verhalten des Angeklagten daher von vornherein ungeeignet. Mit der genannten Strafzumessungserwägung hat das Landgericht letztlich rechtsfehlerhaft das Fehlen eines weiteren Strafmilderungsgrundes - ein allgemeines Bemühen um die Vermeidung von Situationen, in denen die Gefahr einer Eskalation mit der Folge von Gewalthandlungen besteht - zum Nachteil des Angeklagten gewertet.

Indem das Landgericht das Vorliegen eines minder schweren Falles des Totschlags nach § 213 2. Alternative StGB aufgrund der allgemeinen Strafzumessungskriterien allein mit dem vorgenannten Argument verneint und infolge dessen angenommen hat, dass ein minder schwerer Fall nur unter zusätzlicher Heranziehung des vertypten Strafmilderungsgrundes des § 21 StGB vorliege, hat es sich rechtsfehlerhaft die Möglichkeit verstellt, den Strafrahmen ein weiteres Mal nach § 21, § 49 Abs. 1 StGB zu mildern (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 12. März 2019 - 2 StR 17/19 Rn. 3 und vom 11. Februar 2015 - 1 StR 629/14 Rn. 9, jeweils mwN).

b) Ungeachtet des daher schon nicht rechtsfehlerfrei gewählten Strafrahmens erschließt sich im Übrigen nicht, warum das Landgericht aufgrund des unter Heranziehung des vertypten Milderungsgrundes des § 21 StGB angewandten Strafrahmens des § 213 StGB von einem bis zu zehn Jahren trotz der zahlreichen gewichtigen zu Gunsten des Angeklagten in die Strafzumessung eingestellten Gesichtspunkte zu einer deutlich im oberen Bereich des Strafrahmens liegenden Freiheitsstrafe von acht Jahren gekommen ist. Straferschwerend wirkende Gesichtspunkte, die das konkret gewählte Strafmaß erklärbar machen könnten, hat das Landgericht - bis auf den bereits angesprochenen, gerade nicht berücksichtigungsfähigen Aspekt - nicht in die Strafzumessung eingestellt.

c) Da es sich bei dem zur Aufhebung führenden Rechtsfehler um einen reinen Wertungsfehler handelt, haben die dem Strafausspruch zugrunde liegenden Feststellungen Bestand (§ 353 Abs. 2 StPO).

2. Der Ausspruch über die Nichtanordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) hält ebenfalls der auf die Sachrüge gebotenen sachlichrechtlichen Überprüfung nicht stand.

Bereits die Ablehnung eines symptomatischen Zusammenhangs zwischen dem beim Angeklagten festgestellten Hang, alkoholische Getränke im Übermaß zu sich zu nehmen, und der Tat begegnet durchgreifenden Bedenken. Nach den Feststellungen des Landgerichts war die Alkoholerkrankung des Angeklagten mitursächlich für dessen Aggressivität und den gelegentlichen (geringfügigeren) Tätlichkeiten im Rahmen von eifersuchtsbedingten Konflikten zwischen den Eheleuten. Zudem wollte sich der Angeklagte dem aufdringlichen Verhalten seiner Ehefrau am Tatabend nach den getroffenen Feststellungen gerade deshalb entziehen, weil er besorgt war, dass er am folgenden Morgen bei der neuen Arbeitsstelle „alkoholbedingt auffallen“ könnte. Auch in Anbetracht des Umstands, dass es sich bei der Tat um eine Beziehungstat aus einer besonderen Konfliktlage heraus gehandelt hat, hätte es im Übrigen einer substantielleren Erörterung bedurft, warum die nicht unerhebliche Alkoholisierung des Angeklagten zur Tatzeit für die Tatbegehung nicht einmal mitursächlich gewesen ist.

Auch soweit das Landgericht eine hangbedingte Gefährlichkeit verneint hat, begegnet dies Bedenken. Zwar hat das Landgericht auch insoweit zutreffend darauf hingewiesen, dass die Tat aus einer speziellen Familien- und Personenkonstellation heraus begangen wurde; es hat sich indes nicht hinreichend damit auseinander gesetzt, dass in der Tat eine erhebliche Gewaltbereitschaft des Angeklagten zum Ausdruck gekommen ist, der Angeklagte auch in der Vergangenheit aufgrund seiner Alkoholerkrankung bei Streitigkeiten mit seiner Ehefrau - eher niederschwellig - gewalttätig geworden war und er zudem bereits wegen einer Trunkenheitsfahrt strafrechtlich vorgeahndet ist.

Die Feststellungen zum Vorliegen eines symptomatischen Zusammenhangs und einer hangbedingten Gefährlichkeit des Angeklagten sind von den zur Aufhebung führenden Rechtsfehlern betroffen und haben daher keinen Bestand (§ 353 Abs. 2 StPO). Das neue Tatgericht wird insoweit - naheliegenderweise unter Hinzuziehung eines weiteren Sachverständigen - neue Feststellungen zu treffen haben.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 527

Externe Fundstellen: NStZ 2022, 479; StV 2022, 311

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede