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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 886

Bearbeiter: Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 438/21, Beschluss v. 13.07.2022, HRRS 2022 Nr. 886


BGH 1 StR 438/21 - Beschluss vom 13. Juli 2022 (LG Bochum)

Betrug (Betrug zu Lasten der SOKA Gerüstbau: erforderliche Feststellungen zur Tarifbindung, Rückwirkungsverbot hinsichtlich nachträglicher Anordnung der Beitragspflicht).

Art. 103 Abs. 2 GG; § 263 Abs. 1 StGB; § 15 Abs. 1 SokaSiG2

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bochum vom 14. Juni 2021 aufgehoben

a) im Fall 21 der Urteilsgründe mit den Feststellungen betreffend die Sozialkasse des Gerüstbaugewerbes; die übrigen Feststellungen haben Bestand,

b) im Gesamtstrafenausspruch.

2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird als unbegründet verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Urkundenfälschung in 19 Fällen, davon in fünf Fällen in Tateinheit mit mittelbarer Falschbeurkundung, wegen Steuerhinterziehung in zwölf Fällen und wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung und zum Vorenthalten von Arbeitsentgelt in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Beihilfe zum Betrug, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Der Angeklagte beanstandet seine Verurteilung mit einer auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Das Landgericht hat - soweit für die Revision von Relevanz - im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

a) Der ehemalige Mitangeklagte H., der Halbbruder des Angeklagten, gründete und kaufte ab dem Jahr 2010 diverse Gesellschaften, die er als sogenannte Servicefirmen betrieb. Deren Zweck bestand insbesondere darin, Arbeitgebern in lohnintensiven Branchen mittels nicht leistungshinterlegter Scheinrechnungen die Bezahlung von Schwarzarbeit zu ermöglichen. Um die Gesellschaftsstrukturen zu verschleiern, setzte er Strohleute als Geschäftsführer der Servicefirmen ein. Darunter war auch der Angeklagte, der u.a. als formeller Geschäftsführer der E. GmbH und der A. GmbH auftrat.

Der größte Scheinrechnungsempfänger der beiden Servicefirmen war die SI. GmbH (im Folgenden: S. GmbH), die in dem Zeitraum, in dem der Angeklagte formeller Geschäftsführer der Firmen war, zwischen Mai 2014 bis September 2015 gegen „Provisionszahlungen“ Scheinrechnungen mit einer Bruttorechnungssumme von insgesamt rund 6,8 Millionen Euro erhielt, von der sie 70 % für Schwarzlohnzahlungen verwendete. Die Geschäftsführer der S. GmbH meldeten die für die Bezahlung der tatsächlich durchgeführten Gerüstbauarbeiten anfallenden Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung nicht vollständig bei den Einzugsstellen an. Dasselbe gilt für die Beiträge an die Berufsgenossenschaft sowie die als gezahlt angegebenen Entgelte im Rahmen der Lohnsteueranmeldungen. Zudem machten sie in den Umsatzsteuerjahreserklärungen für 2014 und 2015 unrichtige Angaben zu den getätigten Umsätzen und erklärten auch gegenüber der Sozialkasse des Gerüstbaugewerbes (im Folgenden: SOKA Gerüstbau) geringere als die tatsächlich gezahlten Lohnsummen.

Insoweit hob der Angeklagte, der von all dem Kenntnis hatte, nach Weisung des H. von den Geschäftskonten der Servicefirmen Bargeld ab, sobald die S. GmbH den Scheinrechnungsbetrag überwiesen hatte, übergab dieses dem H. und war auch am Austausch von Bargeld und Unterlagen mit den Geschäftsführern der S. GmbH beteiligt (Fall 21 der Urteilsgründe).

b) Das Landgericht hat den Angeklagten insoweit wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung, zum Vorenthalten von Arbeitsentgelt und zum Betrug zu Lasten der SOKA Gerüstbau verurteilt.

2. Die Revision hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg.

Der Schuldspruch im Fall 21 der Urteilsgründe wegen Beihilfe zum Betrug zum Nachteil der SOKA Gerüstbau kann keinen Bestand haben, weil die vom Landgericht getroffenen Feststellungen zur Beitragspflicht der S. GmbH lückenhaft sind. Dies entzieht der Verurteilung des Angeklagten in diesem Fall insgesamt die Grundlage.

Die Beitragspflicht der S. GmbH zur SOKA Gerüstbau für die Jahre 2014 und 2015 konnte sich grundsätzlich zwar aus dem Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Gerüstbauerhandwerk vom 20. Januar 1994 in der Fassung vom 11. Juni 2002 (VTV-Gerüstbau) ergeben. Die Urteilsgründe enthalten jedoch keine Feststellungen dazu, woraus eine Tarifbindung der S. GmbH habe folgen können, insbesondere nicht dazu, ob es sich bei der S. GmbH im Tatzeitraum um einen tarifgebundenen Arbeitgeber handelte. Schon aus diesem Grund konnte der Senat zugleich nicht darüber befinden, ob die Allgemeinverbindlichkeitserklärung des VTV-Gerüstbau durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit vom 29. Oktober 2002 zum 1. Juni 2002 eine Tarifbindung der S. GmbH begründen konnte. Angesichts des im Strafrecht geltenden Rückwirkungsverbotes konnte sich eine Beitragspflicht auch nicht aus § 15 Abs. 1 des Zweiten Sozialkassenverfahrensicherungsgesetzes (SokaSiG2) vom 1. September 2017 (BGBl. I 2017, 3356) ergeben (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Dezember 2021 - 1 StR 342/21 Rn. 12 ff.). Der Senat hebt die Feststellungen betreffend die SOKA Gerüstbau insgesamt auf; die übrigen Feststellungen haben Bestand.

Die Aufhebung der Einzelstrafe im Fall 21 der Urteilsgründe, die gleichzeitig die Einsatzstrafe bildet, entzieht auch dem Ausspruch über die Gesamtstrafe die Grundlage.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 886

Bearbeiter: Christoph Henckel