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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 146

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 249/21, Urteil v. 01.12.2021, HRRS 2022 Nr. 146


BGH 1 StR 249/21 - Urteil vom 1. Dezember 2021 (LG Tübingen)

Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen.

§ 174 Abs. 1 StGB

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Tübingen vom 4. März 2021 wird verworfen.

Der Angeklagte trägt die Kosten seines Rechtsmittels und die hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen der Nebenklägerin.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in 36 Fällen, hiervon in 20 Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Jugendlichen sowie in 16 Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern, wegen drei Fällen des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern in jeweils zwei tateinheitlichen Fällen sowie wegen Besitz von kinderpornographischen Schriften in Tateinheit mit Besitz von jugendpornographischen Schriften zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Im Übrigen hat es ihn freigesprochen und von der verhängten Strafe sechs Monate für vollstreckt erklärt. Außerdem hat es eine Einziehungsentscheidung getroffen.

Der Angeklagte hat seine Revision mit der Sachrüge und mit Verfahrensrügen begründet. Seine Revision hat keinen Erfolg.

I.

Nach den Feststellungen des Landgerichts nahmen der Angeklagte und seine Ehefrau im Jahr 2006 die am 24. Januar 1999 geborene A., die am 5. Mai 2001 geborene V. und deren jüngeren Halbbruder M. als Pflegekinder auf. Die Ehefrau des Angeklagten pflegte einen die Pflegetöchter körperlich und emotional misshandelnden Erziehungsstil; der Angeklagte missbrauchte seine Pflegetöchter spätestens ab dem Jahr 2009 sexuell, indem er ausnutzte, dass die Pflegetöchter durch die Erziehung ihrer Pflegemutter verängstigt und eingeschüchtert waren und die Pflegemutter meist am Samstag ab etwa 8.00 Uhr, manchmal auch am Mittwoch, zum Einkaufen außer Haus war und die weiteren Hausbewohner noch schliefen.

In der Anfangszeit setzte sich der Angeklagte die Pflegetöchter auf den Schoß und streichelte sie oberhalb der Kleidung an Brust und Scheide. Später berührte und streichelte er sie dort auch unter der Kleidung. Zudem mussten sie an seinem Penis manipulieren.

Gegenstand des Urteils sind hinsichtlich der Geschädigten A. sieben Fälle ab dem Jahr 2009 bis zu der stationären Aufnahme der spätestens ab Sommer 2012 an Anorexie erkrankten A. in der Kinder- und Jugendpsychiatrie am 31. Januar 2013. Danach kehrte A. nicht in die Pflegefamilie zurück. Soweit das Urteil die Geschädigte V. betrifft, hat es zwölf Fälle ab Anfang 2011 bis zu ihrem 14. Geburtstag am 5. Mai 2015 und weitere 19 Fälle bis zu ihrer Flucht aus der Pflegefamilie am 31. Januar 2017 zum Gegenstand.

Ab Anfang 2009 bis Ende Januar 2017 lud der Angeklagte mit seinem PC-Tower Olidata, seinem Notebook Acer, seinem PC-Tower Acer Aspire M3201 und seinem Tablett Acer Iconia aus dem Internet kinderund jugendpornographische Bilder und Videos herunter. Darüber hinaus fotografierte er seine Pflegetöchter bei sexuellen Handlungen und in sexuell aufreizenden Posen mit seinem Mobiltelefon. Dann übertrug er die Bilddateien auf seine elektronischen Geräte und löschte die Dateien auf dem Mobiltelefon.

II.

Die Verfahrensrügen sind nicht zulässig erhoben. Die umfassende Überprüfung des Urteils auf die Sachrüge hat keinen den Angeklagten belastenden Rechtsfehler aufgedeckt.

1. Soweit die Revision mit der Verfahrensrüge beanstandet, dass das Landgericht von der Vernehmung des Sohnes des Angeklagten abgesehen und dadurch seine Aufklärungspflicht verletzt habe, ist diese Rüge nicht zulässig erhoben; denn in der Revisionsbegründung wird auf ein der eidesstattlichen Versicherung des Sohnes beigefügtes Schreiben Bezug genommen, in welchem dieser auf verschiedene SMS verweist, ohne dass die Revision deren Inhalt mitteilt. Auch die schriftliche Auskunft und Stellungnahme der Staatsanwaltschaft vom 16. Februar 2021 zu den von der Verteidigung behaupteten angeblichen Diebstahlstraftaten von V. ist nicht mitgeteilt, obwohl die Strafkammer in ihrem den entsprechenden Antrag der Verteidigung ablehnenden Beschluss hierauf Bezug nimmt. Im Übrigen wäre die Rüge auch unbegründet.

2. Auch die verfahrensrechtliche Beanstandung, das Landgericht sei der Anregung der Verteidigung, M. als Zeugen zu vernehmen, nicht nachgekommen und habe dadurch seine Aufklärungspflicht verletzt, bleibt ohne Erfolg. Die Revision hat eine schriftliche Erklärung von M. vorgelegt, in der dieser bekundet, er habe nie mitbekommen, dass V. und A. geschlagen worden seien. Diese pauschale schriftliche Auskunft, die sowohl eine Eigenwahrnehmung körperlicher Züchtigungen als auch eine Kenntnis hiervon durch Erzählungen der Pflegetöchter ausschließt, war nicht geeignet, das Beweisergebnis der Strafkammer infrage zu stellen. Die Pflegemutter und die leibliche Tochter des Angeklagten wurden von der Strafkammer als Zeugen vernommen. Die Einvernahme des am 30. November 2005 geborenen Zeugen, der nach den Feststellungen des Landgerichts vier Jahre alt war, als die abgeurteilten Taten zum Nachteil der Pflegetöchter begannen, drängte sich deshalb nicht auf.

3. Die materiellrechtliche Überprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler ergeben. Die Feststellungen beruhen auf einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung, die den Schuldspruch tragen. Die Strafzumessung ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

a) Soweit sich die Urteilsgründe nicht mit der Frage befasst haben, ob V. oder A. schon während ihrer gemeinsamen Zeit in der Pflegefamilie durch Erzählungen der jeweils anderen beeinflusst worden sind, war eine solche Erörterung mit Blick auf das Ergebnis der Beweisaufnahme nicht veranlasst. A. hat angegeben, nie mit V. über die Vorfälle gesprochen zu haben (UA S. 28). V. erklärte, dass sie von Übergriffen auf A. nichts wisse (UA S. 32) bzw. sich „an Übergriffe gemeinsam mit A. in einem Raum“ nicht erinnern könne (UA S. 42). Ihre gemeinsame Zeit in der Pflegefamilie endete bereits am 31. Januar 2013.

b) Nach den Feststellungen ist auszuschließen, dass es sich bei den Fällen I 7 und II 12 um dieselbe Tat gehandelt haben könnte; denn diese Fälle unterscheiden sich nach Tatzeit, Grund für die Abwesenheit der Ehefrau, Zahl der im Büro Anwesenden und der Bekleidung von V. In Fall I 7 kehrte die Ehefrau in dem Zeitraum ab 2009 bis zum Beginn des Klinikaufenthalts von A. am 31. Januar 2013 verfrüht vom Einkaufen zurück und traf V. bei dem Angeklagten in dessen Büro mit heruntergelassenem Rock an, während es A. gelungen war, Strumpfhose und Rock hochzuziehen und in die Küche zu eilen. Der Angeklagte wurde daraufhin von seiner Ehefrau vorübergehend des Hauses verwiesen (UA S. 11, 28, 52). In Fall II 12 kehrte die Ehefrau in der Faschingszeit, spätestens an Fasching 2015, früher als erwartet von einer Veranstaltung zurück und traf V., mit der sich der Angeklagte zuvor alleine in seinem Büro befunden hatte, noch mit heruntergezogener Strumpfhose im Büro an (vgl. UA S. 13, 36, 38, 54).

c) Die Strafkammer war auch nicht gehalten, die Aussagen von A. und V. im Sinne einer „Gesamtwürdigung“ miteinander abzugleichen. Ein solcher Abgleich war nicht veranlasst, da V. und A. von den jeweils an ihnen begangenen Missbrauchshandlungen berichteten, die über einen langen Zeitraum jede Woche, meist samstags, manchmal auch mittwochs, stattgefunden haben, wobei hiervon nur eine geringe Anzahl an Taten zur Aburteilung gekommen ist. Nach der Überzeugung der Strafkammer begannen die sexuellen Übergriffe des Angeklagten sowohl bei V. als auch A. bereits im Jahr 2009 und dauerten bei A. bis Anfang des Jahres 2013, bei V. bis Ende des Jahres 2016/Anfang 2017 an (UA S. 61). Zudem hielt sich V. ab 31. Januar 2013 bis zu ihrer Flucht aus der Pflegefamilie weitere fast vier Jahre alleine in der Pflegefamilie auf. An Übergriffe des Angeklagten, während sie sich mit diesem und A. gleichzeitig in einem Raum aufhielt, konnte sie sich nicht erinnern.

d) Aus den Aussagen der beiden Geschädigten ergaben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass durch das Anfertigen von Videos oder Fotos gleichzeitig beide Mädchen betroffen gewesen sein könnten. V. berichtete lediglich davon, dass der Angeklagte mit seinem Mobiltelefon Videos und Bilder bei manchen Übergriffen auf sie (UA S. 29, 32, 35) angefertigt hat; dasselbe gilt für A. .

e) Soweit der Generalbundesanwalt ausführt, die Fälle II 1 bis 10 und 28 bis 29 stützten sich auf Schilderungen von V., die sich hinsichtlich Art und Intensität der sexuellen Handlungen den Schilderungen von A. ähnelten, weshalb, gehe man von der Möglichkeit aus, dass beide Zeuginnen gleichzeitig den Taten des Angeklagten ausgesetzt gewesen wären, zu prüfen gewesen wäre, ob die abgeurteilten Fälle eine solche Konstellation betrafen, ist auch diese Erwägung spekulativ. Mit dieser Hypothese musste sich die Strafkammer nicht befassen, da bis auf die abgeurteilten Fälle, der Angeklagte jeweils nur gegenüber einer der Pflegetöchter übergriffig geworden ist.

f) In Fall III war auch keine Erörterung dahingehend veranlasst, inwieweit das dort festgestellte Verhalten des Angeklagten schon Gegenstand eines der anderen Fälle gewesen sein könnte, weil das Herstellen des Bildmaterials den anschließenden Besitz umfasse. Die Verurteilung wegen des Besitzes von kinder- und jugendpornographischen Schriften (UA S. 77) betrifft lediglich die nach Eingabe entsprechender Suchbegriffe aus dem Internet heruntergeladenen kinderund jugendpornographischen Bilder (UA S. 15 ff., 74 ff.), die der Angeklagte auf den Geräten gespeichert hatte, die Gegenstand der Einziehungsanordnung der Strafkammer sind. Deshalb war auch nicht zu erwägen, ob einzelne der abgeurteilten Übergriffe auf A. oder V. auch Gegenstand der Verurteilung nach § 184b Abs. 3 StGB i.d.F. vom 27. Januar 2015 bis zum 30. Juni 2017, § 184c Abs. 3 StGB i.d.F. vom 27. Januar 2015 bis 31. Dezember 2020 waren und insoweit zur Tateinheit verknüpft worden sein könnten. Soweit die Kriminaltechnik bei der Auswertung der Geräte ein Lichtbild von V. aus einer Videosequenz auf dem Tablet Acer wiederherstellen konnte, auf dem diese im Jahr 2010 oder Anfang 2011 auf der Toilette mit der Hand in ihrem nackten Intimbereich manipuliert (UA S. 16, 59 ff.), ist diese Tat nicht abgeurteilt worden. Da die Tat II 24 erst nach dem 14. Geburtstag von V., dem 6. Mai 2015, stattgefunden hat (UA S. 13 f.), ist auszuschließen, dass die abgeurteilte Tat mit der auf dem Lichtbild dokumentierten Tat identisch ist, weil V. zu diesem Zeitpunkt erst etwa zehn Jahre alt gewesen ist.

g) Die vom Generalbundesanwalt geäußerten Bedenken zu der Verurteilung im Fall II 11 teilt der Senat nicht. Dieser trägt vor, bei diesem Fall sei V. vom Angeklagten fotografiert bzw. gefilmt worden und zwar aufgrund des geschätzten Alters von V. zu einer Zeit, in welcher sich auch A. noch in der Pflegefamilie aufhielt. Diese habe aber ebenfalls berichtet, dass der Angeklagte sie bei Übergriffen fotografiert und gefilmt hätte (UA S. 27). Deshalb könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Aufnahme des Fotos in ein beide Zeuginnen betreffendes Tatgeschehen eingebettet gewesen sei. Jedenfalls fehle es an einer Erörterung dieser Möglichkeit. Diese Überlegung ist allerdings lediglich spekulativ. Sie würde sich im Übrigen auch nicht auf das Beweisergebnis auswirken.

h) Es ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das Landgericht bei den Fällen II 14 bis 23 aufgrund der Schilderung von V. davon ausgegangen ist, dass es zu mindestens zehn Übergriffen der genannten Art in dem Zeitraum vom 6. Mai 2015 bis zum 30. Januar 2017 kam. Zwar hat die Strafkammer nicht erläutert, auf welchem Weg sie zu dieser Zahl gekommen ist. Angesichts dessen, dass der Missbrauch nach den Angaben von V. lediglich am Anfang noch nicht jeden Samstag stattfand (UA S. 34) und sie die Zahl der Penetrationen mit dem Finger als „oft“ (UA S. 30), „mehrmals“ (UA S. 32) oder „häufig“ (UA S. 41) bezeichnete, ist eine solche Erläuterung in dem Zeitraum von eineinhalb Jahren mit mindestens 88 Samstagen nicht zwingend erörterungsbedürftig gewesen, da sich angesichts der Häufigkeit der Übergriffe eine Mindestzahl von zehn Fällen ohnehin aufdrängt. Dasselbe gilt für die Feststellung von mindestens drei gleichartigen Taten in den Fällen II 25 bis 27.

i) Der Schuldspruch ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Dies gilt auch, soweit der Angeklagte wegen sexuellem Missbrauch von Jugendlichen gemäß § 182 Abs. 1 Nr. 1 in der ab 27. Januar 2015 geltenden Fassung (Geschädigte V., Fälle II 13 bis 32) verurteilt worden ist. Anders als die Revision meint, ist auch die Zwangslage im Sinne dieser Vorschrift durch die ausführliche Schilderung der Bedrängnis beider Pflegetöchter infolge der Ausgestaltung ihrer Pflegekindverhältnisse einschließlich der körperlichen Misshandlungen durch den Angeklagten festgestellt (vgl. z.B. UA S. 7, 10, 22, 35, 42, 55 f., 67, 68). Auch die Strafzumessung weist keine Rechtsfehler auf.

4. Die Einziehungsentscheidung hält rechtlicher Nachprüfung ebenfalls stand.

Die Strafkammer hat die Einziehung des PC-Tower Acer Aspire M3201, des Tablet Acer Iconia A1-810, des Notebook Acer Aspire 7520 und des PC Olidata als Tatmittel angeordnet und auf § 74 StGB gestützt.

Die Einziehung der Festplatten (bzw. des Speichermediums) war nach § 184b Abs. 6 Satz 2 StGB i.d.F. bis zum 31. Januar 2020 (in der ab 1. Januar 2021 geltenden Fassung ohne inhaltliche Änderung, § 184b Abs. 7 StGB) und § 184c Abs. 6 StGB i.V.m. § 74 Abs. 2 StGB zwingend. Nur die Einziehung der Endgeräte stand nach § 74 Abs. 1 StGB im Ermessen des Tatgerichts (BGH, Beschlüsse vom 19. Mai 2020 - 6 StR 87/20 Rn. 8; vom 8. Oktober 2019 - 4 StR 247/19 Rn. 2 und vom 8. Februar 2012 - 4 StR 657/11 Rn. 6). Insoweit hat die Strafkammer das ihr zustehende Ermessen zwar nicht ausdrücklich ausgeübt und auch keine ausdrückliche Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgenommen. Ihre Erwägungen lassen jedoch die Ausübung des Ermessens und auch eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit erkennen, weil sie sich damit befasst hat, inwieweit der Angeklagte die Geräte erworben hatte und zum Aufsuchen und Speichern der Bilder nutzte bzw. die Geräte zur Nutzung an andere Familienmitglieder weitergegeben hat (UA S. 85); auch zum Wert der Geräte hat die Strafkammer ebenfalls Feststellungen getroffen (UA S. 76).

Eine weniger einschneidende Maßnahme in Form einer nochmaligen und endgültigen Löschung der Daten kam mit Blick auf den geringen Wert und das Alter der Geräte nicht in Betracht (vgl. auch BGH, Beschluss vom 8. Mai 2018 - 5 StR 65/18 Rn. 10).

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 146

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede