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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 975

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 221/21, Beschluss v. 29.07.2021, HRRS 2021 Nr. 975


BGH 1 StR 221/21 - Beschluss vom 29. Juli 2021 (LG Stuttgart)

Strafzumessung (erforderliche Aufklärung des Werdegangs und der Lebensverhältnisse des Angeklagten auch bei Schweigen des Angeklagten).

§ 46 Abs. 1 StGB; § 261 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Für die Strafzumessung und deren rechtliche Überprüfung ist grundsätzlich die Kenntnis vom Werdegang und den Lebensverhältnissen des Angeklagten wesentlich. Nur so kann das Revisionsgericht überprüfen, ob die Strafzumessung auf der gebotenen wertenden Gesamtschau des Tatgeschehens sowie des Täters und der für seine Persönlichkeit, sein Vorleben und sein Nachtatverhalten aussagekräftigen Umstände beruht).

2. Macht der Angeklagte von seinem Schweigerecht Gebrauch, ist das Tatgericht gehalten, auf andere Weise Näheres über die Person des Angeklagten in Erfahrung zu bringen. Hierzu kommt etwa eine Vernehmung von Angehörigen, Verwandten oder Bekannten oder auch eine Anfrage bei den Sozialbehörden in Betracht.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 3. März 2021 im Strafausspruch aufgehoben.

2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird als unbegründet verworfen (§ 349 Abs. 2 StPO).

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt.

Die mit einer nicht ausgeführten Verfahrensrüge und der Rüge einer Verletzung materiellen Rechts geführte Revision des Angeklagten erzielt mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO). Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

Der Schuldspruch ist frei von Rechtsfehlern. Der Strafausspruch hat keinen Bestand, weil das Landgericht keine hinreichenden Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten, insbesondere zu seinem Werdegang und seinen Lebensverhältnissen, getroffen hat.

1. Für die Strafzumessung und deren rechtliche Überprüfung ist grundsätzlich die Kenntnis vom Werdegang und den Lebensverhältnissen des Angeklagten wesentlich. Nur so kann das Revisionsgericht überprüfen, ob die Zumessung der hier verhängten Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten auf der gebotenen wertenden Gesamtschau des Tatgeschehens sowie des Täters und der für seine Persönlichkeit, sein Vorleben und sein Nachtatverhalten aussagekräftigen Umstände beruht (vgl. dazu Beschlüsse vom 15. Oktober 2020 - 1 StR 331/20 Rn. 6; vom 9. April 2013 - 4 StR 102/13 Rn. 4 und vom 12. Juni 1997 - 4 StR 237/97 Rn. 4 jeweils mwN).

2. Das Landgericht teilt im angefochtenen Urteil lediglich die bereits im Rubrum aufgeführten Personalien mit und verweist nur darauf, dass der Angeklagte nicht vorbestraft ist und keine Erkenntnisse zu seiner Person und zu seinem Werdegang gewonnen werden konnten, da dieser von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht hat. Damit durfte sich die Strafkammer hier jedoch nicht begnügen. Sie war vielmehr gehalten, auf andere Weise Näheres über die Person des Angeklagten in Erfahrung zu bringen. Dazu ergaben sich hier verschiedene Ansatzpunkte für eine weitere Aufklärung: So ist der Angeklagte, auch wenn er türkischer Staatsangehöriger ist, in Deutschland geboren, verheiratet und hier wohnhaft, so dass z.B. eine Vernehmung von Angehörigen, Verwandten oder Bekannten erfolgen kann. Durch den Hinweis auf die Arbeitslosigkeit des Angeklagten kommt auch eine Anfrage bei den Sozialbehörden in Betracht, um aussagekräftige Umstände zur Person und den Lebensverhältnissen des Angeklagten zu gewinnen.

3. Die Sache bedarf daher zum Strafausspruch neuer Verhandlung und Entscheidung, da der Senat nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausschließen kann, dass eine nähere Feststellung der persönlichen Verhältnisse des Angeklagten zur Festsetzung einer für ihn günstigeren Freiheitsstrafe geführt hätte.

Einer Aufhebung der Feststellungen bedarf es nicht (§ 353 Abs. 2 StPO). Das neue Tatgericht kann aber ergänzende Feststellungen zu seinem Verhältnis zum Mitangeklagten A. im Zusammenhang mit Planung und Durchführung der Tat und zur beabsichtigten Beuteverteilung treffen.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 975

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede