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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 967

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 157/21, Beschluss v. 15.07.2021, HRRS 2021 Nr. 967


BGH 1 StR 157/21 - Beschluss vom 15. Juli 2021 (LG München I)

Zuständigkeitsänderung nach Aussetzung der Hauptverhandlung (Übernahmebeschluss, konkludente Übernahmeentscheidung bei Anordnung einer einstweiligen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhauses durch das Landgericht); Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (erforderliche Feststellungen zur Schuldunfähigkeit aufgrund eines psychischen Defekts).

§ 225a Abs. 1 StPO; § 74 Abs. 1 Satz 2 GVG; § 126a Abs. 1 StPO; § 63 StGB; § 20 StGB; § 267 Abs. 6 Satz 1 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Für eine wirksame Verfahrensübernahme durch das Landgericht nach Aussetzung der Hauptverhandlung bedarf es grundsätzlich eines Übernahmebeschlusses gemäß § 225a Abs. 1 Satz 2 StPO. Der Senat neigt jedoch dazu, in Fällen, in denen das Landgericht nach Abgabe eines Verfahrens durch das Amtsgericht einen einstweiligen Unterbringungsbeschluss erlässt, eine konkludente Übernahmeentscheidung zu bejahen. In einem solchen Fall, in dem dem empfangenden Gericht die exklusive Zuständigkeit für das Verfahren gesetzlich zugewiesen ist, liegt in einer allein in der konkreten Verfahrensart vorgesehenen Entscheidung gleichzeitig eine Manifestation der sachlichen Zuständigkeit.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München I vom 18. Januar 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten freigesprochen und dessen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).

1. Unter Zugrundelegung der bisherigen Rechtsprechung dürfte das Landgericht zwar als sachlich unzuständiges Gericht entschieden haben, da der Vorsitzende der Strafkammer lediglich in einem Vermerk die Übernahme des Verfahrens niedergelegt hat, nachdem der Strafrichter das Verfahren außerhalb der Hauptverhandlung zuständigkeitshalber an das Landgericht abgegeben hatte.

Dementsprechend hat auch der Generalbundesanwalt die Aufhebung des landgerichtlichen Urteils nach § 349 Abs. 4 StPO wegen eines von Amts wegen zu berücksichtigenden Verfahrenshindernisses beantragt. Der Senat bezweifelt jedoch angesichts des vom Landgericht erlassenen Unterbringungsbeschlusses nach § 126a StPO das Vorliegen eines Verfahrenshindernisses.

a) Die Ãœbernahme des Verfahrens nach Aussetzung der Hauptverhandlung richtet sich nach § 225a StPO. Eine bindende Verweisung des Verfahrens an das Landgericht gemäß § 270 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 StPO, wie es vorliegend das Amtsgericht mit Beschluss vom 25. Mai 2020 entschieden hatte, ist in dieser Verfahrenssituation somit nicht möglich (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. Februar 2021 - 4 StR 360/20 Rn. 12; vom 28. Juni 2011 - 3 StR 164/11 Rn. 2 und vom 14. Juli 1998 - 4 StR 273/98 Rn. 3). Für eine wirksame Verfahrensübernahme durch das Landgericht bedarf es daher eines Ãœbernahmebeschlusses gemäß § 225a Abs. 1 Satz 2 StPO.

b) Die Verfügung des Vorsitzenden vom 10. Juni 2020, in der er die Ãœbernahme des Verfahrens durch die Strafkammer festgehalten hat, genügt hierfür nicht (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Juli 2016 - 2 StR 514/15 Rn. 6). Der Senat neigt jedoch dazu, in Fällen, in denen - wie hier - das Landgericht nach Abgabe eines Verfahrens durch das Amtsgericht einen Unterbringungsbeschluss erlässt, eine konkludente Ãœbernahmeentscheidung zu bejahen (anders noch BGH, Beschluss vom 14. Juli 1998 - 4 StR 273/98 Rn. 4). Das Argument, das Landgericht habe nicht in dem Bewusstsein gehandelt, über die Ãœbernahme entscheiden zu können (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. Februar 2021 - 4 StR 360/20 Rn. 14; vom 21. Oktober 2020 - 4 StR 290/20 Rn. 7 und vom 28. Juni 2011 - 3 StR 164/11 Rn. 2), trägt in diesem Fall nicht. Denn mit der Entscheidung über die vorläufige Unterbringung des Angeklagten nach § 126a StPO nimmt das Landgericht gleichzeitig die Voraussetzungen für seine sachliche Zuständigkeit an (§ 74 Abs. 1 Satz 2 GVG). In einem solchen Fall, in dem dem empfangenden Gericht die exklusive Zuständigkeit für das Verfahren gesetzlich zugewiesen ist, liegt in einer allein in der konkreten Verfahrensart vorgesehenen Entscheidung gleichzeitig eine Manifestation der sachlichen Zuständigkeit.

2. Letztlich bedarf dies hier jedoch keiner abschließenden Entscheidung, denn unabhängig vom Vorliegen eines Verfahrenshindernisses wäre das Urteil ohnehin auf die Sachrüge des Angeklagten mit den Feststellungen aufzuheben gewesen.

a) Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die einen besonders gravierenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen darstellt. Sie setzt zunächst voraus, dass zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der Anlasstaten aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig (§ 20 StGB) oder vermindert schuldfähig (§ 21 StGB) war und die Tatbegehung hierauf beruht. Hierfür muss vom Tatrichter im Einzelnen dargelegt werden, wie sich die festgestellte, einem Merkmal von §§ 20, 21 StGB unterfallende Erkrankung in der jeweiligen Tatsituation auf die Einsichts- oder die Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat und warum die Anlasstaten auf den entsprechenden psychischen Zustand zurückzuführen sind (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 10. November 2015 - 1 StR 265/15 Rn. 5 mwN). Diese Darlegungsanforderungen hat der Tatrichter auch dann zu beachten, wenn der Angeklagte - wie im vorliegenden Fall - eine Exploration abgelehnt hat (BGH, Beschluss vom 17. Juni 2014 - 4 StR 171/14 Rn. 7).

b) Dem werden die Ausführungen des Landgerichts nicht gerecht.

aa) Das Landgericht war gehalten, zur Begründung der Unterbringung in einer für den Senat nachvollziehbaren Weise zu erörtern, dass und weshalb zwischen dem Zustand des Angeklagten und den abgeurteilten Taten ein symptomatischer Zusammenhang besteht. Hierauf konnte auch nicht ausnahmsweise verzichtet werden. Anhand des Tatbilds ist nicht ohne weiteres erkennbar, dass den Handlungen eine paranoid-halluzinatorische Schizophrenie zugrunde lag. Denn der Angeklagte, der nach den Zeugenaussagen zum Tatzeitpunkt alkoholisiert war, wurde erst körperlich übergriffig, nachdem die Geschädigte S. angekündigt hatte, die Polizei zu rufen, und ihn aufgefordert hatte, die Anwohnerin - die er nach den Feststellungen mit dem nicht näher feststellbaren Inhalt einer Dose bewarf - in Ruhe zu lassen. Auch der Umstand, dass er gezielt auf die heruntergefallene Brille der Geschädigten trat und sie dabei anlächelte, ließe sich ebenso mit einer normalpsychologischen Reaktion eines Alkoholisierten vereinbaren. Dass der Angeklagte auf die herbeigerufenen Polizeibeamten aggressiv und unruhig wirkte, weil er auf und ab ging und unverständlich vor sich hin redete, begründet den Symptomcharakter der Tat nicht hinreichend. Dies gilt insbesondere auch, weil der Angeklagte anschließend mit Schmerzen im Knöchel in ein Krankenhaus verbracht wurde, ohne dass die behandelnden Ärzte dort offenbar einen Anlass für eine psychiatrische Untersuchung des Angeklagten sahen.

bb) In den Urteilsgründen des Landgerichts bleibt zudem unklar, weshalb die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei der Begehung der Taten jedenfalls erheblich vermindert, nicht ausschließbar sogar aufgehoben gewesen sein soll. Das Landgericht hat bereits versäumt, das Vorliegen der Einsichtsfähigkeit des Angeklagten im Tatzeitpunkt zu prüfen. Eine Aussage über die Steuerungsfähigkeit kann jedoch nur bei rechtsfehlerfrei festgestellter Einsichtsfähigkeit getroffen werden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. September 2020 - 1 StR 324/20 Rn. 8 und vom 11. Juli 2017 - 3 StR 90/17 Rn. 12). Eine Prüfung der Einsichtsfähigkeit war insbesondere vor dem Hintergrund angezeigt, dass das Landgericht mehrfach auf die nicht näher beschriebene Realitätsverkennung (UA S. 28, 31) des Angeklagten abgestellt hat.

3. Auch der Freispruch unterliegt der Aufhebung.

Wird die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB auf eine Revision des Angeklagten hin aufgehoben, hindert das Schlechterstellungsverbot den neuen Tatrichter nicht daran, an Stelle einer Unterbringung nunmehr eine Strafe zu verhängen, § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO (vgl. BGH, Beschluss vom 20. November 2012 - 1 StR 504/12 Rn. 20).

4. Der Senat verweist die Sache an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurück, das nunmehr eine Entscheidung über die Übernahme des Verfahrens gemäß § 225a StPO zu treffen und in der Sache neu zu entscheiden hat.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 967

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2021, 318; StV 2022, 276

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede