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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 293

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 376/20, Urteil v. 26.01.2021, HRRS 2021 Nr. 293


BGH 1 StR 376/20 - Urteil vom 26. Januar 2021 (LG Kempten)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (revisionsrechtliche Überprüfbarkeit eines Freispruchs).

§ 261 StPO; § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO

Entscheidungstenor

1. Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Kempten (Allgäu) vom 27. Mai 2020 wird verworfen.

2. Die Kosten der Revision der Staatsanwaltschaft und die notwendigen Auslagen des Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des Totschlags an seiner Ehefrau aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Die hiergegen gerichtete, auf die Rüge einer Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision der Staatsanwaltschaft hat keinen Erfolg.

I.

1. Die Staatsanwaltschaft legt dem Angeklagten zur Last, er habe seine Ehefrau, S., am Vormittag des 24. Oktober 2019 mit einem Küchenmesser durch einen Stich in den Brustbereich vorsätzlich getötet. Am Tattag sei es zu einer verbalen Auseinandersetzung zwischen den in zerrütteter Ehe lebenden Eheleuten im Erdgeschoss ihres Wohnhauses gekommen, die in Tätlichkeiten gemündet sei. Im Rahmen der in ihrem Hergang nicht mehr im Detail aufklärbaren Auseinandersetzung habe S. zunächst eine bis zur Bandscheibe reichende Stichverletzung im rechten Bauchbereich und weitere kleinere Verletzungen an den Armen und Händen erlitten, wobei nicht auszuschließen sei, dass diese Verletzungen durch ein Unfallgeschehen oder durch Notwehr gerechtfertigte Handlungen des Angeklagten verursacht worden seien. Nachdem sich die Auseinandersetzung von der Küche in den angrenzenden Flurbereich verlagert habe, sei S. - durch den zuvor erlittenen Stich in den Bauch schwer verwundet - in einer Nische des Flures zu Boden gegangen. Der Angeklagte habe spätestens zu diesem Zeitpunkt den Entschluss gefasst, seine Ehefrau zu töten. Er habe ein Küchenmesser mit einer einseitig geschliffenen Klinge ergriffen und dieses mit seiner rechten Hand von oben nach unten oberhalb der linken Brust ca. fünf Zentimeter unterhalb des linken Schlüsselbeins in den Brustkorb von S. gestochen, wobei die Messerklinge rund 16,5 cm in deren Oberkörper eingedrungen sei und hierbei den Lungenoberlappen durchstochen, die große Lungenvene fast vollständig durchtrennt sowie die Körperschlagader über eine Länge von knapp zwei Zentimetern eröffnet habe. S. sei in der Folge, wie vom Angeklagten beabsichtigt, an Verbluten gestorben. Anschließend habe sich der Angeklagte eine Verletzung im Bereich des Abdomens zugefügt und sich in Suizidabsicht die Pulsadern aufgeschnitten.

2. Das Landgericht hat sich eine Überzeugung von dem Tatvorwurf aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme nicht zu bilden vermocht und hat den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen.

a) Es hat festgestellt, dass sich die eheliche Beziehung des Angeklagten und seiner Ehefrau seit 2016 erheblich verschlechtert habe und es immer wieder - auch am Abend des 23. Oktober 2019 und am Morgen des 24. Oktober 2019 - zu heftigen verbalen, aber auch körperlichen Angriffen der S. gegen den Angeklagten sowie zu Suiziddrohungen der S. gekommen sei. Im Rahmen der am Morgen des 24. Oktober 2019 eskalierenden Auseinandersetzung habe S. in der Küche ein Küchenmesser ergriffen, dieses gegen den eigenen Bauch gehalten und gedroht, sich umzubringen. Bei dem Versuch des Angeklagten, seiner Ehefrau das Messer abzunehmen, habe sich ein in seinen Details nicht mehr aufklärbarer Kampf zwischen den Eheleuten entwickelt, bei dem es zu der Stichverletzung am rechten Bauch der S. sowie weiteren Verletzungen an deren Armen und Händen sowie einer Verletzung des Angeklagten im Bereich des Abdomens gekommen sei. Diese Verletzungen seien vom Angeklagten nicht beabsichtigt und für ihn wegen der Suiziddrohung der S. auch nicht vermeidbar gewesen.

Nachdem es dem Angeklagten gelungen sei, seiner Ehefrau das Messer zu entwinden, habe diese sogleich ein anderes Küchenmesser mit einer Klingenlänge von 16,5 cm und einer Klingenbreite von 3,4 cm ergriffen, zum Angeklagten gesagt „das nimmst Du mir jetzt nicht mehr weg“, und die Küche in Richtung Flur verlassen. Der Angeklagte sei seiner Ehefrau nachgeeilt, um dieser zu ihrem Schutz auch dieses Messer wegzunehmen. Es sei wiederum zu einem in seinen Einzelheiten nicht mehr aufklärbaren Kampf um das Messer gekommen, in dessen Zuge das Messer - entweder durch einen Anprall der beiden Kämpfenden an der Wand oder durch ein kurzes ruckartiges Ziehen der S. am Messer ohne Gegendruck des Angeklagten, jedenfalls aber ohne dessen Verschulden - zu der tödlichen Verletzung der S. im Brustbereich gekommen sei. Als der Angeklagte den Tod seiner Ehefrau erkannt habe, habe er sich in Suizidabsicht die Pulsadern aufgeschnitten.

b) Das Landgericht hat die Einlassung des Angeklagten, wonach er versucht habe, seiner Ehefrau die jeweils gegen sich selbst gerichteten Messer abzunehmen, und es im Rahmen des sich dabei entwickelnden „Gerangels“ irgendwie zu den tödlichen Verletzungen seiner Ehefrau gekommen sei, als nicht durch die Beweisaufnahme widerlegt angesehen. Insbesondere sei die Schilderung des Geschehensablaufs durch den Angeklagten nicht durch das eingeholte rechtsmedizinische Sachverständigengutachten widerlegt, weil die tödliche Stichverletzung der S. im Brustbereich hiernach nicht nur mit einer Tötungshandlung des Angeklagten, sondern auch mit einem „Gerangel“ der Eheleute um das Messer, etwa einem seitlichen Anprall der Kämpfenden gegen die Wand oder einem ruckartigen Ziehen am Messer bei plötzlich nachlassendem Gegendruck, erklärbar, letztlich aber auch eine Selbstverletzung der S. nicht auszuschließen sei. Das ruhige und defensive Wesen des Angeklagten einerseits und das in letzter Zeit aufbrausende und aggressive Wesen der S., die von den Eheleuten in vergangenen Streitigkeiten gezeigten Verhaltensmuster und die Vorgeschichte der tödlich verlaufenen Auseinandersetzung sprächen gegen eine Begehung der angeklagten Tat durch den Angeklagten und einen „durchbrechenden Gewaltakt“ (UA S. 26). Indizien, die Schlüsse auf ein Geschehen im Sinne des Anklagevorwurfs nahelegten, lägen nicht vor. Auch sei es erklärlich, dass der Angeklagte keine genauen Angaben zum konkreten Hergang der tätlichen Auseinandersetzung habe machen können, weil es sich um ein kurzes, dynamisches Geschehen gehandelt habe. Schließlich sei vor dem Hintergrund der Persönlichkeit des Angeklagten und der Vorgeschichte der Eheleute ein Motiv des Angeklagten, das die Tat erklärlich machen könne, nicht erkennbar.

Andere theoretisch denkbare Geschehensabläufe wie etwa ein Mitnahmesuizid oder ein anderes geplantes Tötungsgeschehen seien aufgrund der Persönlichkeit des Angeklagten und des Vorgeschehens der Auseinandersetzung auszuschließen. Das in der Anklageschrift zugrunde gelegte Tatgeschehen sei schon nicht plausibel, weil nicht erklärlich sei, warum der Angeklagte bei vorhandenem Tötungsvorsatz nicht das zuerst von S. zur Hand genommene und von ihr entwundene Messer zur Tötung eingesetzt, sondern ein anderes Messer hierfür ergriffen haben sollte. Ein fahrlässiges Tötungsgeschehen falle dem Angeklagten ebenfalls nicht zur Last, weil das Bemühen um die Verhinderung eines Suizids kein vorwerfbares Verhalten darstelle.

II.

Die auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft hat keinen Erfolg.

Die Beweiswürdigung, aufgrund deren sich das Landgericht eine Überzeugung von einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Tötungshandlung des Angeklagten nicht zu bilden vermocht und auf die es folglich den Freispruch des Angeklagten gestützt hat, weist keine durchgreifenden Rechtsfehler auf. Ebenso wenig hat das Landgericht die Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung überspannt.

1. Das Revisionsgericht hat es regelmäßig hinzunehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag (st. Rspr.; BGH, Urteile vom 31. Oktober 2019 - 1 StR 219/17 Rn. 49; vom 29. April 2015 - 5 StR 79/15 Rn. 8 mwN; vom 12. Februar 2015 - 4 StR 420/14 Rn. 9 und vom 11. August 2011 - 4 StR 191/11 Rn. 7 mwN). Denn die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters (§ 261 StPO). Ihm allein obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein; es genügt, dass sie möglich sind. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlichrechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder sie gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 13. Oktober 2020 - 1 StR 299/20 Rn. 7; vom 29. April 2015 - 5 StR 79/15 Rn. 8 mwN und vom 11. August 2011 - 4 StR 191/11 Rn. 7 mwN).

2. Derartige Fehler in der Beweiswürdigung liegen nicht vor.

a) Das Landgericht hat nach Darstellung des von ihm für erwiesen erachteten Sachverhalts zunächst die Einlassung des Angeklagten geschlossen und nachvollziehbar wiedergegeben. Auch das für die Beurteilung der Konstanz der Angaben erforderliche Einlassungsverhalten des Angeklagten im Laufe des Verfahrens lässt sich dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe noch ausreichend entnehmen.

b) Die getroffenen Feststellungen zum Tatgeschehen sind von der landgerichtlichen Beweiswürdigung getragen; diese weist keine durchgreifenden Rechtsfehler auf. Die Überzeugungsbildung des Landgerichts hinsichtlich des festgestellten Geschehensablaufs lässt sich dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe entnehmen. Das Landgericht hat aus der Gesamtschau der Einlassung des Angeklagten, den Feststellungen zur Tatörtlichkeit und den zum Einsatz gekommenen Messern, den Ausführungen der Sachverständigen - vornehmlich denjenigen der rechtsmedizinischen Sachverständigen - und den übrigen durch die Beweisaufnahme gewonnenen Erkenntnissen mögliche Schlüsse gezogen und sich auf dieser Grundlage keine Überzeugung von dem Tatvorwurf zu bilden vermocht. Dies begegnet keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

Insbesondere hat das Landgericht nachvollziehbar ausgeführt, dass sich die Darstellung des Angeklagten zum Ablauf der tätlichen Auseinandersetzung - namentlich das Gerangel um die beiden Messer - nach den Darlegungen der rechtsmedizinischen Sachverständigen mit den eingetretenen Verletzungsfolgen in Einklang bringen lässt. Auch die Feststellungen zum Wesen und den bisherigen Verhaltensmustern der beiden Eheleute sowie zum Vor- und Nachgeschehen hat das Landgericht auf eine tragfähige Beweiswürdigung gestützt. Hieraus und aus den gewonnenen Erkenntnissen aus der Auswertung der Mobiltelefone sowie den weiteren Feststellungen zur Tatörtlichkeit und zur Auffindesituation hat das Landgericht den möglichen Schluss gezogen, dass der Angeklagte seine Ehefrau nicht vorsätzlich oder fahrlässig getötet hat, sondern der Tod von S. entweder auf eine Selbstverletzung oder ein - nicht vom Angeklagten zu verantwortendes - Unfallgeschehen zurückzuführen ist.

Auch mit Aspekten, die für den Tatvorwurf sprechen könnten, hat sich die Strafkammer hinreichend auseinandergesetzt; warum sie hieraus keine Schlüsse auf die Täterschaft des Angeklagten ziehen will, hat sie tragfähig begründet. Dass der Angeklagte keine genaueren Angaben zum konkreten Ablauf der tätlichen Auseinandersetzung hat machen können, hat das Landgericht hierbei nachvollziehbar damit begründet, dass es sich um ein kurzes, dynamisches Geschehen gehandelt habe und für die Herbeiführung der Verletzungen nach Auskunft der Sachverständigen keine besondere Krafteinwirkung erforderlich gewesen sei, diese also nicht zwingend vom Angeklagten habe wahrgenommen werden müssen.

Sonstige den Bestand des Urteils gefährdende Lücken weist die Beweiswürdigung ebenfalls nicht auf.

3. Dass sich die Strafkammer auf der Grundlage der erhobenen und rechtsfehlerfrei gewürdigten Beweise aufgrund der insoweit vorgenommenen Gesamtwürdigung (UA S. 24 ff.) schlussendlich keine Überzeugung von einer seitens des Angeklagten vorsätzlich oder fahrlässig verursachten Tötung der S. hat bilden können, begegnet nach alledem auch mit Blick auf die Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung (vgl. BGH, Urteile vom 2. Mai 2012 - 2 StR 395/11 Rn. 18 mwN und vom 11. August 2011 - 4 StR 191/11 Rn. 7 mwN) keinen durchgreifenden Bedenken. Die Staatsanwaltschaft setzt demgegenüber mit ihrer Revisionsbegründung der richterlichen Beweiswürdigung lediglich eine eigene, hiervon abweichende Würdigung entgegen.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 293

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede