hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 88

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 441/19, Beschluss v. 24.10.2019, HRRS 2020 Nr. 88


BGH 1 StR 441/19 - Beschluss vom 24. Oktober 2019 (LG München II)

Versuchte unerlaubte Abgabe von Betäubungsmitteln an Minderjährige (kein unmittelbares Ansetzen bereits durch bloßes Feilbieten).

§ 29a Abs. 1 Nr. 1 BtMG; § 22 StGB; § 23 Abs. 1 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Das bloße Feilbieten von Betäubungsmitteln an Minderjährige stellt noch kein unmittelbares Ansetzen zur Abgabe von Betäubungsmitteln dar. Abgabe im Sinne von § 29a Abs. 1 Nr. 1 BtMG setzt eine Übertragung der eigenen tatsächlichen Verfügungsmacht an den Betäubungsmitteln auf einen Minderjährigen zu dessen freier Verfügung voraus. Das Tatbestandsmerkmal der Abgabe knüpft demnach - im Unterschied zum weiter gefassten Begriff des Handeltreibens - an die tatsächliche Verschaffung der Verfügungsmacht an.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München II vom 30. April 2019

a) im Schuldspruch dahin abgeändert, dass der Angeklagte anstelle der versuchten unerlaubten gewerbsmäßigen Abgabe von Betäubungsmitteln an Minderjährige in 25 Fällen des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln schuldig ist (Fälle B.I.3 der Urteilsgründe);

b) im gesamten Strafausspruch aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubter gewerbsmäßiger Abgabe von Betäubungsmitteln an Minderjährige in 18 Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln, versuchter unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln an Minderjährige in 25 Fällen und unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln an Minderjährige in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Ferner hat es 180 Euro als Wert von Taterträgen sowie ein Mobiltelefon eingezogen. Die hiergegen mit der allgemeinen Sachrüge geführte Revision des Angeklagten erzielt den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist sein Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

I.

1. Nach den Urteilsfeststellungen leidet der unbestrafte, zur Tatzeit 30-jährige Angeklagte an einer paranoiden Schizophrenie oder an einer schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen. Eine erhebliche Verminderung seiner Steuerungsfähigkeit im Sinne von § 21 StGB war bei Begehung der Taten nicht ausschließbar.

2. Der Angeklagte betrieb in den Sommermonaten des Jahres 2018 in G. einen schwunghaften Handel mit Marihuana. Im Bereich des über die L. führenden T. verkaufte er das Rauschgift insbesondere an Jugendliche, um sich eine Einnahmequelle von gewisser Dauer und einigem Umfang zu verschaffen. Im Einzelnen:

a) An nicht näher bestimmbaren Tagen in den vier Monaten vor seiner Festnahme am 2. Oktober 2018 verkaufte der Angeklagte an den 15-jährigen Zeugen S. in mindestens zehn Fällen zumindest eine Konsumeinheit Marihuana gewinnbringend für zehn Euro (Fälle B.I.1 der Urteilsgründe).

b) Während der Sommerferien im Zeitraum 30. Juli bis 10. September 2018 verkaufte der Angeklagte mindestens zweimal an den 13-jährigen Zeugen W. jeweils mindestens eine Konsumeinheit Marihuana gewinnbringend für zehn Euro (Fälle B.I.2 der Urteilsgründe).

c) Im gleichen Zeitraum bot der Angeklagte, manchmal sogar mehrmals am gleichen Tag, dem 14-jährigen Zeugen F. in mindestens 25 Fällen ernsthaft und verbindlich an, mindestens eine Konsumeinheit Marihuana für zehn Euro zu kaufen. Der Zeuge lehnte einen Ankauf stets nachdrücklich ab (Fälle B.I.3 der Urteilsgründe).

d) An nicht näher bestimmbaren Tagen in den drei Monaten vor seiner Festnahme verkaufte der Angeklagte in mindestens fünf Fällen jeweils mindestens eine Konsumeinheit Marihuana an den 15-jährigen Zeugen Gr. gewinnbringend für zehn Euro (Fälle B.I.4a der Urteilsgründe), in zwei weiteren Fällen übergab er dem Zeugen die gleiche Menge Marihuana ohne eine Gegenleistung zu verlangen (Fälle B.I.4b der Urteilsgründe).

e) Am 2. Oktober 2018 verkaufte der Angeklagte dem 16-jährigen Zeugen So. eine Plombe mit 0,5 Gramm Marihuana mit einem Wirkstoffgehalt von 8,1 % Tetrahydrocannabinol für zehn Euro. Bei seiner nachfolgenden Festnahme hatte der Angeklagte noch weitere 16 Plomben Marihuana bei sich, die er gewinnbringend zu verkaufen beabsichtigte (Fall B.I.5 der Urteilsgründe).

3. Das Landgericht vermochte hinsichtlich des Rauschgifts keine konkreten Erwerbsvorgänge des Angeklagten festzustellen. Soweit er das Marihuana an die Zeugen verkauft oder kostenlos überlassen hat, ist es daher von tatmehrheitlich begangenen Taten ausgegangen. Gleiches gilt für die dem Zeugen F. in 25 Fällen vergeblich angebotenen Betäubungsmittel.

In den Fällen B.I.1, 2 und 4a der Urteilsgründe hat die Strafkammer den Angeklagten wegen gewerbsmäßiger Abgabe von Betäubungsmitteln an Minderjährige in 17 Fällen (§ 29a Abs. 1 Nr. 1, § 30 Abs. 1 Nr. 2 BtMG), im Fall B.I.5 der Urteilsgründe zudem in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (§ 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG) verurteilt. In den Fällen B.I.4b der Urteilsgründe hat sie den Angeklagten der unerlaubten Abgabe von Betäubungsmitteln an Minderjährige in zwei Fällen (§ 29a Abs. 1 Nr. 1 BtMG), in den Fällen B.I.3 der Urteilsgründe der versuchten gewerbsmäßigen Abgabe von Betäubungsmitteln an Minderjährige in 25 Fällen (§ 29a Abs. 1 Nr. 1, § 30 Abs. 1 Nr. 2 BtMG, § 22 StGB) schuldig gesprochen.

II.

1. Der Schuldspruch in den Fällen B.I.1, 2, 4a, 4b und 5 weist keinen Rechtsfehler auf. Die Verurteilung wegen versuchter unerlaubter gewerbsmäßiger Abgabe von Betäubungsmitteln an Minderjährige in 25 Fällen (§ 29a Abs. 1 Nr. 1, § 30 Abs. 1 Nr. 2 BtMG) in den Fällen B.I.3 der Urteilsgründe hält hingegen sachlichrechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Gemäß § 22 StGB setzt der Versuch objektiv voraus, dass der Täter nach Maßgabe seines Tatplans unmittelbar zur Tat ansetzt (vgl. Fischer, StGB, 66. Aufl., § 22 Rn. 9). Nach den Urteilsfeststellungen hat der Angeklagte in diesen Fällen dem 14-jährigen Zeugen jeweils aufgrund eines gesonderten Tatentschlusses ernstlich und verbindlich in Gewinnerzielungsabsicht mindestens eine Konsumeinheit Marihuana zu einem Kaufpreis von zehn Euro angeboten. Der Zeuge lehnte jedoch den Ankauf des Rauschgifts jeweils nachdrücklich ab. Damit hat der Angeklagte noch nicht unmittelbar zur Abgabe des Betäubungsmittels angesetzt. Abgabe im Sinne von § 29a Abs. 1 Nr. 1, § 30 Abs. 1 Nr. 2 BtMG setzt eine Übertragung der eigenen tatsächlichen Verfügungsmacht an den Betäubungsmitteln auf einen Minderjährigen zu dessen freier Verfügung voraus (BGH, Beschluss vom 5. Februar 2013 - 1 StR 693/13 Rn. 3 mwN). Das Tatbestandsmerkmal der Abgabe knüpft demnach - im Unterschied zum weiter gefassten Begriff des Handeltreibens im Sinne von § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG - an die tatsächliche Verschaffung der Verfügungsmacht an. Daher stellt das bloße Feilbieten von Betäubungsmitteln an Minderjährige noch kein unmittelbares Ansetzen zur gewerbsmäßigen Abgabe von Betäubungsmitteln dar.

b) Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen tragen jedoch jeweils eine Verurteilung wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (§ 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG). Das Feilbieten von Betäubungsmitteln stellt bereits einen Teilakt des (vollendeten) Handeltreibens dar. Jedoch ist entgegen den Ausführungen des Landgerichts nicht von Tatmehrheit auszugehen. Vorliegend stellt das stets gleichbleibende Angebot des Angeklagten gegenüber dem Zeugen F., ihm eine Konsumeinheit Marihuana für zehn Euro verkaufen zu wollen, eine einheitliche Tat im Sinne einer Bewertungseinheit dar. Das Feilbieten erfolgte manchmal mehrmals zu unterschiedlichen Zeitpunkten an einem Tag an derselben Örtlichkeit, ohne dass ein Verkauf des Marihuanas an den Zeugen stattfand. Das Verkaufsangebot bezog sich daher jeweils gleichlautend auf eine Konsumeinheit des Rauschgifts als solches, ohne dass eine Konkretisierung erfolgt war. Die Identität der angesprochenen Person, des jeweils angebotenen Betäubungsmittels sowie des gesamten situativen Zusammenhangs verbinden hier die einzelnen (jeweils erfolglosen) Angebote zu einer Bewertungseinheit.

c) Der Senat ändert daher den Schuldspruch im Fall B.I.3 in unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (§ 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG) ab. § 265 StPO steht dem nicht entgegen, da sich der Angeklagte nicht wirksamer als geschehen hätte verteidigen können. Die Schuldspruchänderung zieht die Aufhebung der in den Fällen B.I.3 der Urteilsgründe verhängten Einzelstrafen und auch der Gesamtstrafe nach sich.

2. Der Strafausspruch begegnet in den übrigen Fällen (B.I.1, 2, 4a, 4b und 5 der Urteilsgründe) rechtlichen Bedenken, weil das Landgericht das Vorliegen minder schwerer Fälle nach § 30 Abs. 2 BtMG bzw. § 29a Abs. 2 BtMG mit rechtlich nicht tragfähiger Begründung abgelehnt hat. Es hat nach Abwägung der allgemeinen Strafzumessungserwägungen - auch unter Einbeziehung des vertypten Milderungsgrundes des § 21 StGB - jeweils einen minder schweren Fall abgelehnt und dabei „auch berücksichtigt, dass der Gesetzgeber gemäß § 29a Abs. 1 Nr. 1 BtMG auch die unerlaubte Überlassung von Betäubungsmitteln zum unmittelbaren Gebrauch mit dem nämlichen Strafrahmen unter Strafe stellt, so dass die Abgabe nur von wenigen Konsumeinheiten erkennbar dem strafwürdigen Leitbild des Gesetzgebers entspricht“ (UA S. 23).

a) Diese zur Strafrahmenbestimmung herangezogene Erwägung ist rechtlich nicht haltbar. Die Strafkammer verkennt, dass der Gesetzgeber für die begangenen Taten neben den Regelstrafrahmen der §§ 29a Abs. 1, 30 Abs. 1 BtMG mit einer Mindeststrafandrohung von einem bzw. zwei Jahren Freiheitsstrafe auch minder schwere Fälle in §§ 29a Abs. 2, 30 Abs. 2 BtMG mit einer Mindeststrafandrohung von jeweils drei Monaten Freiheitsstrafe vorsieht. Dem Leitbild des Gesetzgebers entspricht es daher gerade, auch den gemilderten Strafrahmen in den Blick zu nehmen, wobei die Menge des abgegebenen Betäubungsmittels einen gewichtigen Strafzumessungsumstand darstellt. Nach der Begründung des Landgerichts würde diesem Umstand jedoch bereits bei Abgabe von nur wenigen Konsumeinheiten an Minderjährige keine Bedeutung mehr dafür zukommen, ob ein minder schwerer Fall vorliegt oder nicht. Dies trifft aber nicht zu. Es hätte deshalb einer eingehenden Begründung bedurft, warum im vorliegenden Fall in Anbetracht der geringen Menge des abgegebenen Rauschgifts und dessen am unteren Ende liegender Gefährlichkeit ein minder schwerer Fall bei dem bislang unbestraften Angeklagten schon ohne Berücksichtigung des § 21 StGB verneint wird.

b) Der Rechtsfehler führt zur Aufhebung der übrigen Einzelstrafen; die Feststellungen bleiben jedoch bestehen, weil sie von dem Rechtsfehler nicht betroffen sind. Weitere Feststellungen können getroffen werden, sofern sie den bisherigen nicht widersprechen.

3. Die Einziehungsentscheidung und die Entscheidung über die Nichtanordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt weisen keinen Rechtsfehler auf. Der neue Tatrichter wird bei der Festsetzung der Gesamtstrafe auch die Gesamtmenge der vom Angeklagten in Verkehr gebrachten Betäubungsmittel und die weitere Handelsmenge in den Blick zu nehmen haben.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 88

Externe Fundstellen: NJW 2020, 1236; NStZ 2020, 226; StV 2020, 388

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede