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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 82

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 395/19, Beschluss v. 09.10.2019, HRRS 2020 Nr. 82


BGH 1 StR 395/19 - Beschluss vom 9. Oktober 2019 (LG Stuttgart)

Betrug (Vermögensschaden: Prinzip der Gesamtsaldierung, Berücksichtigung anderer Grundlagen für einen (teilweisen) Anspruch auf die erschlichene Leistung; Abrechnungsbetrug).

§ 263 Abs. 1 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Bereits auf Tatbestandsebene ist beim Betrug schadensmindernd zu berücksichtigen, ob der abzuurteilende Sachverhalt Elemente enthält, die nach Austausch der Rechtsgrundlage jedenfalls einen teilweisen Anspruch auf die Leistung ergeben. Diese Schadensbestimmung unter Durchführung einer fiktiven Berechnung ist keine eigentliche Kompensation, sondern lässt den Schaden von Anfang an niedriger entstehen.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Angeklagten M. wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 11. April 2019 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben,

a) betreffend die Angeklagte M.,

aa) im Ausspruch über die Einzelstrafen in den Fällen II.2.c. und II.4.b. der Urteilsgründe;

bb) im Gesamtstrafenausspruch;

b) betreffend den Mitangeklagten Mi. - unter Erstreckung auf diesen -,

aa) im Ausspruch über die Einzelstrafe im Fall II.4.b. der Urteilsgründe;

bb) im Gesamtstrafenausspruch;

cc) im Ausspruch über die Einziehung des Wertes von Taterträgen.

2. Die weitergehende Revision der Angeklagten wird als unbegründet verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte M. wegen Betruges in 22 Fällen und wegen versuchten Betruges zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten und den nicht revidierenden Mitangeklagten Mi. wegen Betruges in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten verurteilt. Die Vollstreckung der gegen den Mitangeklagten Mi. verhängten Gesamtfreiheitsstrafe hat es zur Bewährung ausgesetzt. Die Strafkammer hat zudem die Einziehung des Wertes von Taterträgen gegen die Angeklagte M. in Höhe von 16.678 Euro und gegen den Mitangeklagten Mi. in Höhe von 42.456,29 Euro angeordnet.

Hiergegen wendet sich die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision der Angeklagten M. Das Rechtsmittel hat - gemäß § 357 Satz 1 StPO auch zugunsten des Mitangeklagten Mi. - den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

I.

Das Landgericht hat - soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung - folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Die Angeklagte M., eine Pflegesachverständige, entschloss sich Mitte des Jahres 2013 in bewusstem und gewollten Zusammenwirken mit weiteren Personen - unter anderem dem Mitangeklagten Mi. -, durch bewusst wahrheitswidrige Angaben und die Vorlage gefälschter Atteste und Befundberichte, deren Pflegebedürftigkeit beziehungsweise Erwerbsunfähigkeit vorzutäuschen, um so Pflege- und Rentenzahlungen für die jeweils versicherte Person zu erhalten, auf die - was ihr und den Beteiligten bewusst war - kein Anspruch bestand, weil tatsächlich keine pflegerelevanten Erkrankungen oder Einschränkungen des Leistungsvermögens bestanden. Im Vertrauen auf die Richtigkeit der Angaben und vorgelegten Unterlagen erbrachten die geschädigten Krankenkassen, Rentenversicherungen sowie in einem Fall die C. AG (im Folgenden: C.) im Zeitraum zwischen 2013 und 2018 Pflege- und Rentenleistungen in Höhe von insgesamt 284.848,39 Euro. Darüber hinaus täuschte die Angeklagte M. in 13 Fällen vor, dass eine sog. Verhinderungspflege erfolgt sei, und erlangte so insgesamt 19.778 Euro von den geschädigten Krankenkassen.

2. Für den gesondert verurteilten V. stellte die Angeklagte am 14. April 2014 einen Antrag auf Rentenleistungen wegen Berufsunfähigkeit bei der C. und fügte diesem positive Pflegeleistungs- und Rentenbescheide bei, die sie und V. zuvor durch falsche Angaben erschlichen hatten (Ziff. II.2.c. der Urteilsgründe/Tat Nr. 5); tatsächlich litt dieser nicht unter relevanten Erkrankungen oder Leistungseinschränkungen. Im weiteren Fortgang übersandte die Angeklagte der C. zudem ein Formular, in dem sie wahrheitswidrig gesundheitliche Einschränkungen des Verurteilten V. behauptete, sowie diverse gefälschte Atteste und ein auf falschen Angaben beruhendes MDK-Gutachten, um dies zu belegen. Im Vertrauen auf die Richtigkeit der Angaben und die Echtheit der Unterlagen überwies die zuständige Mitarbeiterin der C. dem Verurteilten V. im Zeitraum von September 2013 bis November 2017 monatliche Rentenleistungen in Höhe von insgesamt 96.192,72 Euro, obwohl tatsächlich kein Anspruch auf eine Berufsunfähigkeitsrente bestand.

Das Landgericht hat weder Feststellungen zum Alter des Verurteilten V. noch zur genauen Ausgestaltung des Vertrages zwischen diesem und der C. getroffen.

3. Für den Mitangeklagten Mi. beantragte die Angeklagte M. am 13. Mai 2014 Rente wegen Erwerbsminderung bei der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg (im Folgenden: DRV BW; Ziff. II.4.b. der Urteilsgründe/Tat Nr. 9). Dem Antrag fügte sie ein gefälschtes Attest sowie ein auf falschen Angaben beruhendes MDK-Gutachten bei, um eine - tatsächlich nicht vorhandene - Einschränkung des Leistungsvermögens des Mitangeklagten Mi. zu belegen. Zu diesem Zweck spiegelten beide auch im Rahmen der Begutachtung gesundheitliche Einschränkungen des Mitangeklagten Mi., insbesondere eine senile Demenz vor. Der Gutachter vertraute auf die Richtigkeit dieser Angaben und ging infolgedessen von einem erheblich eingeschränkten Leistungsvermögen des Mitangeklagten Mi. aus. Auf Grundlage dieses Gutachtens bewilligten die zuständigen Mitarbeiter der DRV BW und später der DRV Schwaben ihm im Zeitraum März 2014 bis Mai 2018 Rentenzahlungen wegen Erwerbsminderung in Höhe von insgesamt 42.456,29 Euro netto, obwohl tatsächlich kein entsprechender Anspruch bestand.

Das Landgericht sieht den gesamten Betrag als Vermögensschaden an, obwohl der Mitangeklagte Mi. ab Dezember 2015 Anspruch auf Altersrente für langjährig Versicherte gehabt hätte. Da er einen entsprechenden Antrag nicht gestellt habe, handele es sich dabei um eine nicht zu berücksichtigende hypothetische Ersatzbedingung. Auch sei dem Mitangeklagten Mi. kein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch dadurch entstanden, dass die Rentenversicherung ihn nicht auf die Möglichkeit einer Antragstellung hingewiesen habe; eine entsprechende Hinweispflicht habe wegen seines pflichtwidrigen Vorverhaltens nicht bestanden.

II.

Die Revision der Angeklagten führt in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang zur Aufhebung des angegriffenen Urteils.

1. Die Strafaussprüche in den Fällen II.2.c. und II.4.b. der Urteilsgründe sind aufzuheben, da das Landgericht den Schuldumfang, mithin die Höhe des eingetretenen Vermögensschadens, jeweils nicht frei von Rechtsfehlern bestimmt hat.

a) Ein Vermögensschaden im Sinne des § 263 Abs. 1 StGB tritt ein, wenn die Vermögensverfügung des Getäuschten unmittelbar zu einer nicht durch Zuwachs ausgeglichenen Minderung des Gesamtwerts seines Vermögens führt (Prinzip der Gesamtsaldierung; st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 6. April 2018 - 1 StR 13/18 Rn. 8 mwN). Ein eventueller Minderwert ist nach wirtschaftlicher Betrachtungsweise zu beurteilen und der Vermögensschaden unter Berücksichtigung banküblicher Bewertungsansätze konkret festzustellen und zu beziffern (BVerfG, Beschlüsse vom 23. Juni 2010 - 2 BvR 2559/08 u.a., BVerfGE 126, 170, 229 zu § 266 StGB und vom 7. Dezember 2011 - 2 BvR 2500/09 u.a., BVerfGE 130, 1, 47 zu § 263 StGB).

Bereits auf Tatbestandsebene ist schadensmindernd zu berücksichtigen, ob der abzuurteilende Sachverhalt Elemente enthält, die nach Austausch der Rechtsgrundlage jedenfalls einen teilweisen Anspruch auf die Leistung ergeben. Diese Schadensbestimmung unter Durchführung einer fiktiven Berechnung ist keine eigentliche Kompensation, sondern lässt den Schaden von Anfang an niedriger entstehen (Tiedemann, JZ 2012, 525, 527; LK/Tiedemann, StGB, 12. Aufl., § 263 Rn. 188, 267; MK/Hefendehl, StGB, 3. Aufl., § 263 Rn. 865; jeweils mwN; vgl. zudem Kölbel in Achenbach/Ransiek/Rönnau, Wirtschaftsstrafrecht, 5. Aufl., Kapitel XIX. Rn. 292).

b) Diesen Maßgaben wird das landgerichtliche Urteil nicht gerecht.

aa) In Bezug auf den Fall II.2.c. der Urteilsgründe wird der von der Strafkammer angenommene Schuldumfang durch die Feststellungen des angefochtenen Urteils nicht belegt.

In den vorzunehmenden Vermögensvergleich wären bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise auch etwaige Ansprüche, welche der gesondert Verurteilte V. unabhängig von der erschlichenen Berufsunfähigkeitsrente gegen die C. gehabt hätte, einzubeziehen gewesen. Mangels entsprechender Feststellungen der Strafkammer zum Vertragsverhältnis zwischen dem gesondert verfolgten V. und der C. kann die Höhe des tatsächlich eingetretenen Vermögensschadens nicht beurteilt werden. Dies betrifft zum einen möglicherweise ab einem bestimmten Alter auch ohne das Vorliegen einer Berufsunfähigkeit vertraglich geschuldete Rentenzahlungen, wie diese im Rahmen sog. Berufsunfähigkeitszusatzversicherungen häufig vereinbart werden. Abhängig von deren Verhältnis zu der Berufsunfähigkeitsrente würde sich der Vermögensschaden um den entsprechenden Anspruch des Verurteilten V. reduzieren.

Zum anderen könnte im Rahmen der Gesamtsaldierung ein etwaiger, ohne weitere Voraussetzungen von dem gesondert Verurteilten V. zu realisierender Rückkaufswert der Versicherung im Tatzeitpunkt zu berücksichtigen sein. Auch dieser wäre in Abzug zu bringen.

bb) Im Hinblick auf den Fall II.4.b. der Urteilsgründe hat das Landgericht den eingetretenen Vermögensschaden rechtsfehlerhaft zu hoch angesetzt. Ausweislich der Urteilsfeststellungen hatte der Mitangeklagte Mi. 21 Monate nach Gewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente Anspruch auf Altersrente. Der entsprechende Anspruch ist bei dem anzustellenden Vermögensvergleich von den gewährten Rentenzahlungen wegen Erwerbsunfähigkeit in Abzug zu bringen. Dass der Mitangeklagte Mi. keinen Antrag auf Altersrente gestellt hat und ggf. auch keinen Anspruch auf einen Hinweis der Rentenversicherung auf diese Möglichkeit hatte, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Nach der vorzunehmenden wirtschaftlichen Betrachtungsweise ist allein das Bestehen eines Anspruchs maßgeblich; auf die Geltendmachung kommt es dagegen nicht an (vgl. BGH, Beschluss vom 2. Dezember 1982 - 1 StR 476/82 Rn. 29; zudem LK/Tiedemann, StGB, 12. Aufl., § 263 Rn. 267). Daher geht auch die Erwägung des Landgerichts fehl, bei der Antragstellung handele es sich um eine nicht zu berücksichtigende hypothetische Reserveursache. Zudem ist bei lebensnaher Betrachtung davon auszugehen, dass der Mitangeklagte Mi. - sofern ihm keine Erwerbsunfähigkeitsrente gewährt worden wäre - die ihm zustehende Altersrente auch in Anspruch genommen hätte (vgl. Dann, NJW 2012, 2001, 2003). Vor diesem Hintergrund kann es dahinstehen, ob nicht ohnehin in dem Antrag auf Erwerbsunfähigkeitsrente hilfsweise auch ein Antrag auf Gewährung von Altersrente zu sehen wäre.

2. Da aufgrund der getroffenen Feststellungen sicher davon auszugehen ist, dass jeweils ein tatbestandlicher Vermögensschaden entstanden ist, hat der Rechtsfehler keine Auswirkungen auf den Bestand der Schuldsprüche (vgl. BGH, Beschluss vom 15. März 2017 - 4 StR 472/16 Rn. 7 mwN). Das Landgericht ist jedoch - hinsichtlich Fall II.2.c. der Urteilsgründe zumindest möglicherweise - von einem zu großen Schuldumfang ausgegangen, so dass der Ausspruch über die Einzelstrafen aufzuheben war. Dies entzieht auch der Gesamtstrafe die Grundlage.

3. Die Einziehungsentscheidung kann dagegen bestehen bleiben, da sie sich im Hinblick auf die Angeklagte M. nicht auf die Fälle II.2.c. und II.4.b. der Urteilsgründe bezieht.

4. Die Entscheidung ist gemäß § 357 Satz 1 StPO auf den nicht revidierenden Mitangeklagten Mi. zu erstrecken, soweit dieser im Fall II.4.b. der Urteilsgründe wegen Betruges verurteilt worden ist. Dies bedingt die Aufhebung des ihn betreffenden Gesamtstrafenausspruchs sowie der Einziehungsentscheidung, die den genannten Fall betrifft.

5. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin: Im Hinblick auf die Angeklagte M. wird im Rahmen der Prüfung eines Härteausgleichs in Bezug auf die erledigten Strafen aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts Bad Hersfeld vom 21. Juni 2017 (Az.) sowie dem Urteil des Amtsgerichts Bad Hersfeld vom 24. Mai 2017 (Az.) zu berücksichtigen sein, dass anstelle der verhängten Geldstrafen - aus denen mit Beschluss des genannten Gerichts vom 4. September 2017 eine Gesamtgeldstrafe gebildet wurde - Ersatzfreiheitsstrafe vollstreckt worden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Februar 2015 - 4 StR 418/14 Rn. 5).

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 82

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2020, 109

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede