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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1294

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 371/19, Urteil v. 01.09.2020, HRRS 2020 Nr. 1294


BGH 1 StR 371/19 - Urteil vom 1. September 2020 (LG München I)

Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Gefährlichkeitsprognose: Begriff der Straftat von erheblicher Bedeutung).

§ 63 Satz 1 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Eine Straftat von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 63 Satz 1 StGB liegt vor, wenn diese mindestens der mittleren Kriminalität zuzurechnen ist, den Rechtsfrieden empfindlich stört und geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen. Straftaten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe unter fünf Jahren bedroht sind, sind daher nicht ohne Weiteres dem Bereich der Straftaten von erheblicher Bedeutung zuzurechnen.

2. Zu erwartende Gewalt- und Aggressionsdelikte sind, soweit es sich nicht um bloße Bagatellen handelt, regelmäßig zu den erheblichen Taten zu rechnen. Auch gemeinhin als Taten aus dem Bereich der unteren Kriminalität einzustufende Delikte können durch ihr konkretes Gepräge in den Bereich der mittleren Kriminalität rücken. Generell ist daher auf die konkreten Umstände und Besonderheiten des Einzelfalls abzustellen, wobei neben der konkreten Art der drohenden Taten und dem Gewicht der jeweils bedrohten Rechtsgüter auch die zu erwartende Häufigkeit und Rückfallfrequenz von Bedeutung sein können.

Entscheidungstenor

1. Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 5. November 2018 wird verworfen.

2. Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Beschuldigten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) abgelehnt. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts stellte der ledige und kinderlose Beschuldigte, nachdem er als tschetschenischer Kämpfer am Bürgerkrieg mit Russland teilgenommen hatte, im Jahr 2003 in Deutschland einen Asylantrag. Spätestens seit dem Jahr 2009 leidet er an einer paranoiden Schizophrenie. In den darauffolgenden Jahren befand er sich bis 2016 mehrfach zu stationären psychiatrischen Behandlungen im Bezirkskrankenhaus L. Der Beschuldigte wurde jeweils dort eingewiesen, weil er sich verhaltensauffällig aggressiv gezeigt hatte, wobei er teilweise zuvor seine Medikation abgesetzt und auch von Vergiftungsängsten berichtet hatte.

2. Der Entscheidung des Landgerichts liegen folgende sechs Fälle zugrunde:

a) Am 4. Januar 2017 griff der Beschuldigte der Geschädigten K., die einen Wintermantel trug, an einer Bushaltestelle in sexueller Motivation oberhalb der Kleidung unvermittelt in Höhe der Brüste an den Oberkörper (Fall B.1. der Urteilsgründe).

b) Am 11. Januar 2017 beschimpfte der Beschuldigte in einem Linienbus die Fahrgäste und forderte sie auf, die als Fahrgast im Bus befindliche Geschädigte S. nicht anzuschauen. Dann fragte er die Geschädigte, ob diese „sein Ding“, gemeint war sein Geschlechtsteil, in den Mund nehmen möchte. Als der Beschuldigte dann in Richtung Hand der Geschädigten griff, ging diese zum Busfahrer und beschwerte sich über den Beschuldigten. Der Busfahrer ging dann im Bus nach hinten und „schimpfte mit dem Beschuldigten“, der herumschrie (Fall B.2. der Urteilsgründe).

c) Zu einem späteren Zeitpunkt am selben Tag setzte sich der Beschuldigte, nachdem er eine andere Frau belästigt hatte, neben die Geschädigte T. und äußerte ihr gegenüber, dass er „Sex machen“ möchte. Er sagte ihr, dass Frauen minderwertig und nur zum Sex da seien. Dann fragte er die Geschädigte, wo sie aussteigen wolle, und schrie laut, dass er Sex haben möchte und keine Frau habe (Fall B.3. der Urteilsgründe).

d) Zwei Tage später versuchte der Beschuldigte auf einem S-Bahnsteig zunächst, mit einer anderen Frau zu reden, was diese nicht wollte. Als die Geschädigte F. zu ihm sagte, er müsse akzeptieren, wenn die Frau sage, dass er sie in Ruhe lassen solle, erwiderte der Beschuldigte, dass er sie jetzt boxe und ihr seine Zigarette in ihrem Gesicht ausdrücke. Er stieß die Zigarette in Richtung ihres Gesichts, stoppte jedoch wieder und sagte zu ihr: „Ich box Sie, ich fick sie und bring Sie in mein Land!“ Dabei redete der Beschuldigte laut und in einem aggressiven Ton, worauf ein Mann und eine andere Frau der Geschädigten zu Hilfe kamen. Der Beschuldigte ließ daraufhin von ihr ab, schrie dann aber in der S-Bahn herum, dass er Frauen ficken wolle (Fall B.4. der Urteilsgründe).

e) Hierauf erteilten zwei Mitarbeiter des DB-Sicherheitsdienstes dem Beschuldigten ein schriftliches Hausverbot für den Hauptbahnhof. Es konnte nicht festgestellt werden, ob der Beschuldigte den Inhalt des Hausverbots tatsächlich verstanden hatte, weil ihm nach Verweigerung der Unterschrift keine Abschrift des Hausverbots ausgehändigt worden war. Am Folgetag hielt sich der Beschuldigte wieder im Hauptbahnhof auf (Fall B.5. der Urteilsgründe).

f) Nachdem der Beschuldigte im Anschluss daran zur Dienststelle der Bundespolizei verbracht worden war, übergab er einem Polizeibeamten ein schwarzes Smartphone mit der Bitte, dieses dem russischen Präsidenten Putin zu schenken. Auf Nachfrage gab der Beschuldigte an, dass er das Mobiltelefon gefunden habe (Fall B.6. der Urteilsgründe).

3. Das Landgericht hat das Handeln des Beschuldigten im Fall B.1. der Urteilsgründe als rechtswidrige Verwirklichung des Tatbestands der sexuellen Belästigung gemäß § 184i Abs. 1 StGB gewertet. Wegen des von der Geschädigten getragenen Wintermantels hat es insoweit keinen sexuellen Übergriff gemäß § 177 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3 StGB angenommen. Die Fälle B.2. bis B.4. der Urteilsgründe hat das Landgericht jeweils als Beleidigung gemäß § 185 StGB gewertet. In den Fällen B.5. und B.6. der Urteilsgründe hat es keine rechtswidrige Verwirklichung eines Straftatbestandes angenommen.

4. Gestützt auf die Ausführungen einer psychiatrischen Sachverständigen hat sich das Landgericht davon überzeugt, dass sich der Beschuldigte während der Tatgeschehen in einer akutpsychotischen Phase seiner exazerbierten paranoiden Schizophrenie befand. Die Sachverständige, der das Landgericht folgt, hat sich dabei u.a. auf die von dem Beschuldigten berichteten Wahnvorstellungen, Wahnwahrnehmungen, optischen Halluzinationen und Ich-Störungen sowie darauf gestützt, dass sich der Beschuldigte distanzlos, enthemmt, mit inadäquatem Interaktionsmuster und sprunghaftem formalen Denken zeigte, sowie, dass sein Persönlichkeitsgefüge, seine Kritikfähigkeit, seine Selbsteinschätzung, das verinnerlichte Wertgefüge und seine Impulskontrolle erheblich beeinträchtigt wirkten.

5. Das Landgericht ist davon überzeugt, dass bei dem Beschuldigten zu den Tatzeitpunkten zwar die Unrechtseinsicht vorhanden, seine Steuerungsfähigkeit aber jedenfalls erheblich vermindert (§ 21 StGB), möglicherweise sogar vollständig aufgehoben war (§ 20 StGB). Es hat dabei insbesondere darauf abgestellt, dass bei dem Beschuldigten im Rahmen der Negativsymptomatik seiner psychotischen Erkrankung die Affekt- und Impulskontrolle sowie seine Empathiefähigkeit mindestens erheblich beeinträchtigt gewesen seien. Dies zeige sich in dem bizarren und sozialinadäquaten Verhalten, in der psychosomatischen Erregung, in der Aggressivität und im lauten, erregten Schimpfen und Schreien des Beschuldigten im Zuge der Taten. Zudem habe der Beschuldigte die Geschädigten wiederholt intensiv bedrängt, obwohl diese damit erkennbar nicht einverstanden gewesen seien. Bei den Taten 3 und 4 der Urteilsgründe habe erst energisches Einschreiten Dritter den Beschuldigten dazu gebracht, von den Geschädigten abzulassen. Schließlich habe der Beschuldigte nach seiner eigenen Schilderung zur fraglichen Zeit Probleme mit heftigen sexuellen Zwangsgedanken in Bezug auf Frauen gehabt.

6. Die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus hat das Landgericht aus Rechtsgründen abgelehnt, weil die Voraussetzungen des § 63 StGB nicht gegeben seien.

II.

Die Ablehnung der Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB hält sachlichrechtlicher Nachprüfung stand.

1. Eine Unterbringung nach § 63 StGB kommt dann in Betracht, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades dafür besteht, dass der Täter infolge seines Zustands in Zukunft Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen wird, die eine schwere Störung des Rechtsfriedens zur Folge haben (Gefährlichkeitsprognose). Die Annahme einer gravierenden Störung des Rechtsfriedens setzt nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung voraus, dass die zu erwartenden Delikte wenigstens in den Bereich der mittleren Kriminalität hineinreichen, den Rechtsfrieden empfindlich stören und geeignet sind, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 24. Juli 2013 - 2 BvR 298/12; BGH, Beschlüsse vom 16. Juni 2014 - 4 StR 111/14; vom 19. August 2014 - 3 StR 243/14; vom 13. Oktober 2016 - 1 StR 445/16 Rn. 13; vom 23. Mai 2017 - 1 StR 164/17 Rn. 5; Urteile vom 28. Oktober 2015 - 1 StR 142/15 und vom 21. Februar 2017 - 1 StR 618/16 Rn. 9). Prognostisch muss eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades bestehen, der Täter werde in Folge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird (§ 63 Satz 1 StGB).

Die erforderliche Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln (BGH, Beschlüsse vom 16. Januar 2013 - 4 StR 520/12; vom 1. Oktober 2013 - 3 StR 311/13; vom 2. September 2015 - 2 StR 239/15; vom 15. März 2017 - 2 StR 557/16 Rn. 7; vom 3. Juni 2015 - 4 StR 167/15 und vom 13. Oktober 2016 - 1 StR 445/16 Rn. 15; Urteil vom 10. Januar 2019 - 1 StR 463/18 Rn. 15) und hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche Taten von dem Beschuldigten infolge seines Zustands drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt (BVerfG, Beschluss vom 24. Juli 2013 - 2 BvR 298/12; BGH, Beschlüsse vom 7. Juni 2016 - 4 StR 79/16 und vom 23. Mai 2017 - 1 StR 164/17 Rn. 6; Urteil vom 21. Februar 2017 - 1 StR 618/16 Rn. 10).

2. Diesen Maßstäben genügt die vom Landgericht vorgenommene Gefährlichkeitsprognose.

a) Die Wertung der Strafkammer, dass die rechtswidrigen Taten des Beschuldigten die von § 63 Satz 1 StGB geforderte Erheblichkeit nicht erreichten, wird von den Feststellungen getragen.

aa) Eine Straftat von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 63 Satz 1 StGB liegt vor, wenn diese mindestens der mittleren Kriminalität zuzurechnen ist, den Rechtsfrieden empfindlich stört und geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen. Straftaten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe unter fünf Jahren bedroht sind, sind daher nicht ohne Weiteres dem Bereich der Straftaten von erheblicher Bedeutung zuzurechnen.

Zu erwartende Gewalt- und Aggressionsdelikte sind, soweit es sich nicht um bloße Bagatellen handelt, regelmäßig zu den erheblichen Taten zu rechnen (BVerfG, Beschluss vom 22. August 2017 - 2 BvR 2039/16, Rn. 44 mwN; BGH, Beschlüsse vom 23. Mai 2018 - 2 StR 121/18 Rn. 13 und vom 22. Februar 2011 - 4 StR 635/10). Auch gemeinhin als Taten aus dem Bereich der unteren Kriminalität einzustufende Delikte können durch ihr konkretes Gepräge in den Bereich der mittleren Kriminalität rücken. Generell ist daher auf die konkreten Umstände und Besonderheiten des Einzelfalls abzustellen, wobei neben der konkreten Art der drohenden Taten und dem Gewicht der jeweils bedrohten Rechtsgüter auch die zu erwartende Häufigkeit und Rückfallfrequenz von Bedeutung sein können (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 22. August 2017 - 2 BvR 2039/16, aaO; vom 24. Juli 2013 - 2 BvR 298/12, Rn. 22; BT-Drucks. 18/7244 S. 18 f.).

bb) Die Wertung des Landgerichts, dass die rechtswidrigen Taten des Beschuldigten nicht im Sinne des § 63 StGB erheblich seien, weil es sich bei den vom Beschuldigten verwirklichten Tatbeständen lediglich um solche mit geringem Strafmaß handele und der Beschuldigte sich bei allen Taten noch so weit im Griff gehabt habe, dass er keine Gewalt angewendet habe, hält rechtlicher Nachprüfung stand. Das Landgericht hat sich dabei ausreichend mit den festgestellten Tatumständen auseinandergesetzt.

b) Die Prognose des Landgerichts, dass von dem Beschuldigten auch in Zukunft keine erheblichen rechtswidrigen Taten im Sinne des § 63 Satz 1 StGB zu erwarten sind (vgl. § 63 Satz 2 StGB), hält ebenfalls rechtlicher Nachprüfung stand.

Das Landgericht ist auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, dass beim Beschuldigten für den Fall eines Abbruchs der Medikation lediglich ähnliche Taten wie den in den Fällen B.1. bis B.4. der Urteilsgründe begangenen zu erwarten sind. Es durfte sich dabei auf die Ausführungen der psychiatrischen Sachverständigen stützen. Diese sind in den Urteilsgründen ausreichend dargelegt. Es ist nicht erforderlich, dass die Urteilsgründe die gutachterlichen Äußerungen der Sachverständigen umfassend und lückenlos wiedergeben.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1294

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2021, 10; StV 2021, 244

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede