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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 1182

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 222/19, Beschluss v. 09.07.2019, HRRS 2019 Nr. 1182


BGH 1 StR 222/19 - Beschluss vom 9. Juli 2019 (LG Stuttgart)

Totschlag (Tötungsvorsatz: erforderliche Gesamtbetrachtung).

§ 212 Abs. 1 StGB; § 15 StGB

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 13. Februar 2019 aufgehoben,

a) soweit der Angeklagte im Fall Nr. 1 der Urteilsgründe (Brandlegung im Erdgeschoss) verurteilt worden ist, mit den zugehörigen Feststellungen zum Tötungs- und Körperverletzungsvorsatz;

b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe mit den zugehörigen Feststellungen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in zwei tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit schwerer Brandstiftung in Tateinheit mit versuchter Brandstiftung „mit zweifacher Todesfolge“ und in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie wegen versuchter schwerer Brandstiftung in Tateinheit mit Sachbeschädigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Die Revision, mit der der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt, erzielt den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

I.

Das Landgericht hat zu Fall Nr. 1 der Urteilsgründe (Brandlegung im Erdgeschoss) folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

Am 3. August 2018, nach 14.15 Uhr legte der Angeklagte in seinem Zimmer im Erdgeschoss in einer Asylbewerberunterkunft einen Brand. Die Flüchtlingsunterkunft befand sich in einem ehemaligen Gasthof älterer Bauweise, bestehend aus einem Keller, Erdgeschoss und erstem Obergeschoss sowie einem im Spitzdach befindlichen Dachgeschoss. Die Unterkunft war insgesamt mit 19 Personen belegt, die in Zimmern im Erdgeschoss und ersten Obergeschoss untergebracht waren. Zum Zeitpunkt der Brandlegung befand sich ein Mitbewohner, der Zeuge K., in seinem Zimmer im Erdgeschoss, ein weiterer Mitbewohner, der Zeuge P., hielt sich - wie der Angeklagte wusste - in der Gemeinschaftsküche ebenfalls im Erdgeschoss auf. Weitere Bewohner waren zum Tatzeitpunkt nicht in der Unterkunft anwesend.

Nachdem beide Zeugen auf den Brand im Zimmer des Angeklagten, aus dem sichtbar Rauch austrat, aufmerksam wurden, rief der Zeuge P. die Feuerwehr. Der Zeuge K. begab sich in das Obergeschoss, um eventuell anwesende Personen zu warnen, und sodann wieder in das Erdgeschoss. Beim Verlassen des Gebäudes atmete er erheblich Rauch ein; er musste infolgedessen mehrere Minuten stark husten und litt den gesamten Tag unter Atembeschwerden.

Bei Eintreffen der Feuerwehr um 14.42 Uhr hatten im Zimmer des Angeklagten die hölzernen Fensterrahmen und die aus Holzlatten bestehende Deckenvertäfelung bereits selbständig zu brennen begonnen. Durch die Brandlegung wurde die Unterkunft erheblich beschädigt. Das Erdgeschoss war nicht mehr bewohnbar, es entstand ein Sachschaden in Höhe von 35.000 €.

Der Angeklagte wollte durch den Brand erreichen, dass sein Zimmer unbewohnbar und er in eine andere Unterkunft verlegt wird. Er rechnete damit, dass - neben dem Zeugen P. - auch andere Personen anwesend waren. Dass im Gebäude befindliche Personen entweder in den Flammen, durch entstehende Rauchgase oder durch riskante Rettungsversuche umkommen oder verletzt werden könnten, war dem Angeklagten, um sein Ziel zu erreichen, gleichgültig; er nahm das Versterben oder die Verletzung von in der Unterkunft befindlichen Personen billigend in Kauf.

Der Angeklagte hat sich in der Hauptverhandlung dahingehend eingelassen, er sei davon ausgegangen, dass der Brand bemerkt werde und alle Leute das Haus verlassen könnten; er habe niemanden verletzen oder töten wollen. Das Landgericht hat zur Begründung des bedingten Tötungsvorsatzes maßgeblich auf die objektiv äußerst gefährliche Handlung, die Erfahrungen des Angeklagten aus einem Brand in seiner früheren Unterkunft im Mai 2018 und sein Ziel, eine Verlegung herbeizuführen, abgestellt. Es hat zudem berücksichtigt, dass dem Angeklagten als Bewohner der Unterkunft bewusst gewesen sei, dass eine aus seinem Zimmer in den Aufenthaltsraum austretende Verrauchung - bis auf die Fenster - sämtliche Fluchtwege aus den Zimmern im Erdgeschoss und sehr zeitnah auch aus dem Obergeschoss über das Treppenhaus unmöglich machen würde.

II.

1. Der Schuldspruch wegen versuchten Totschlags hat keinen Bestand. Das Landgericht hat einen Tötungsvorsatz des Angeklagten nicht ausreichend belegt.

a) Bedingter Tötungsvorsatz ist gegeben, wenn der Täter den Tod als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen zumindest mit dem Eintritt des Todes abfindet, mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein (Willenselement). Beide Elemente des bedingten Vorsatzes müssen in jedem Einzelfall umfassend geprüft und gegebenenfalls durch tatsächliche Feststellungen belegt werden (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 1. März 2018 - 4 StR 399/17 Rn. 18 und vom 16. September 2015 - 2 StR 483/14 Rn. 14). Ihre Bejahung oder Verneinung kann nur auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände des Einzelfalls erfolgen (vgl. BGH, Urteile vom 1. März 2018 - 4 StR 399/17 Rn. 19 und vom 22. März 2012 - 4 StR 558/11, BGHSt 57, 183 Rn. 26), in welche insbesondere die objektive Gefährlichkeit der Tathandlung, die konkrete Angriffsweise des Täters, seine psychische Verfassung bei der Tatbegehung und seine Motivationslage einzubeziehen sind (vgl. BGH, Urteil vom 16. Mai 2013 - 3 StR 45/13 Rn. 7).

b) Diesen Anforderungen genügen die Ausführungen des Landgerichts zum bedingten Tötungsvorsatz nicht. Das Schwurgericht hat das voluntative Vorsatzelement nicht tragfähig begründet. Im Rahmen der erforderlichen Gesamtbetrachtung hat es den Umstand nicht in den Blick genommen, dass der Angeklagte wusste, dass sich der Zeuge P. im Zeitpunkt der Brandlegung in der Unterkunft aufhält und andere Bewohner durch diesen - ebenso wie durch die vorhandenen Rauchmelder - auf den Brand hätten aufmerksam gemacht werden können. Dieser Umstand kann ebenso wie die Tatzeit maßgeblich gegen ein billigendes Inkaufnehmen des Eintritts des Todes (oder auch einer Körperverletzung) von im Wohnheim aufhältigen Personen durch den Angeklagten sprechen. Das Landgericht hätte zudem weitergehend erörtern müssen, ob der Angeklagte gegebenenfalls lediglich eine Gefährdung der in der Unterkunft befindlichen Personen in Kauf genommen haben könnte, mithin lediglich Gefährdungsvorsatz und kein Schädigungsvorsatz gegeben sein könnte (vgl. zu diesen unterschiedlichen Bezugspunkten des Vorsatzes BGH, Urteile vom 12. Juni 2008 - 4 StR 78/08 Rn. 17, 19 und vom 15. Dezember 1967 - 4 StR 441/67, BGHSt 22, 67, 73 f.; MüKo-StGB/Radtke, 3. Aufl., § 306b Rn. 30; LK-StGB/Wolff, 12. Aufl., § 306b Rn. 17).

2. Aus denselben Gründen begegnet der Schuldspruch wegen versuchter Brandstiftung mit (zweifacher) Todesfolge durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Auch die Annahme eines bedingten Körperverletzungsvorsatzes, zu dem das Landgericht keine näheren Ausführungen gemacht hat, hält dementsprechend rechtlicher Prüfung nicht stand.

III.

Die Sache bedarf daher insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung. Die Aufhebung erfasst auch die - an sich rechtsfehlerfreie - tateinheitliche Verurteilung wegen schwerer Brandstiftung gemäß § 306a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 StGB im Fall Nr. 1 der Urteilsgründe (Brandlegung im Erdgeschoss).

Gemäß § 353 Abs. 2 StPO sind zudem die Feststellungen zum Tötungs- und Körperverletzungsvorsatz im Fall Nr. 1 der Urteilsgründe (Brandlegung im Erdgeschoss) aufzuheben. Die Aufhebung der Verurteilung im Fall Nr. 1 der Urteilsgründe (Brandlegung im Erdgeschoss) entzieht der Gesamtstrafe die Grundlage.

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 1182

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede