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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 1177

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 206/19, Beschluss v. 07.10.2019, HRRS 2019 Nr. 1177


BGH 1 StR 206/19 - Beschluss vom 7. Oktober 2019 (LG Nürnberg-Fürth)

Verhängung von Jugendstrafe (Strafzumessungserwägungen: Rechtfertigung einer länger als fünf Jahre andauernden Jugendstrafe nicht allein mit erzieherischen Gründen); Strafzumessung (Berücksichtigung des Einwirkens einer polizeilichen Vertrauensperson; Tatprovokation).

§ 18 Abs. 2 JGG; § 46 StGB; Art. 6 EMRK

Leitsätze des Bearbeiters

1. Bei einer - unter anderem - wegen der Schwere der Schuld verhängten Jugendstrafe ist gemäß § 18 Abs. 2 JGG die Höhe der Strafe so zu bemessen, dass die erforderliche erzieherische Einwirkung möglich ist (st. Rspr). Die in den gesetzlichen Regelungen des allgemeinen Strafrechts zum Ausdruck gelangende Bewertung des Ausmaßes des in einer Straftat hervorgetretenen Unrechts ist zwar auch bei der Bestimmung der Höhe der Jugendstrafe zu berücksichtigen; keinesfalls darf aber die Begründung wesentlich oder gar ausschließlich nach solchen Zumessungserwägungen vorgenommen werden, die auch bei Erwachsenen in Betracht kommen. Die Bemessung der Jugendstrafe erfordert vielmehr von der Jugendkammer, das Gewicht des Tatunrechts gegen die Folgen der Strafe für die weitere Entwicklung des Heranwachsenden abzuwägen.

2. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs lässt sich eine länger als fünf Jahre andauernde Jugendstrafe allein erzieherisch in der Regel nicht begründen, weil eine Anstaltserziehung nur für eine Dauer von bis zu fünf Jahren Erfolg verspricht. Die Verhängung einer darüberhinausgehenden Jugendstrafe kann nur unter zusätzlicher Berücksichtigung anderer Strafzwecke - insbesondere des Schuldausgleichs - angezeigt sein.

3. Die Einwirkung einer polizeilichen Vertrauensperson auf den Täter, die diesen in erhöhte Tatschuld verstrickt, ist bei der Strafzumessung in der Regel zu würdigen - gleichgültig, ob sie sich in rechtsstaatlichem Rahmen gehalten oder ihn überschritten hat.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 28. November 2018, soweit es ihn betrifft, im Ausspruch über die Höhe der Einheitsjugendstrafe aufgehoben.

2. Von der Einziehung des Wertes von Taterträgen wird abgesehen.

3. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.

4. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Anstiftung zur Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen sowie wegen Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Einheitsjugendstrafe von acht Jahren verurteilt. Zudem hat es gegen ihn die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 18.000 € angeordnet.

Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit einer Verfahrensbeanstandung und mit der ausgeführten Sachrüge. Das Rechtsmittel erzielt den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Im Oktober 2017 verbrachte der Angeklagte drei Kilogramm Marihuana (Wirkstoffgehalt mindestens 5 % THC) aus den Niederlanden nach I. und veräußerte dieses dort zum Preis von 6.000 bis 6.500 € pro Kilogramm (Tat 1).

Wenig später beauftragte er den anderweitig Verfolgten V. mit der Einfuhr von fünf Kilogramm Marihuana von D. (Niederlande) nach Deutschland, um dieses wiederum gewinnbringend zu veräußern (Tat 2). Der Kurier wurde jedoch kurz nach Grenzübertritt festgenommen; das Marihuana (Wirkstoffgehalt mindestens 15,2 % THC; Wirkstoffmenge 681 Gramm THC) wurde sichergestellt.

Schließlich erklärte sich der Angeklagte, der zuvor lediglich mit Marihuana und Ecstasy gehandelt hatte, im Februar 2018 auf entsprechende Anfrage einer polizeilichen Vertrauensperson bereit, fünf Kilogramm Heroin minderer Qualität zum gewinnbringenden Weiterverkauf aus den Niederlanden nach F. zu liefern. Mit der Verbringung beauftragte er gegen einen entsprechenden Kurierlohn den nicht revidierenden Mitangeklagten P. Das Heroin (Wirkstoffgehalte 4,31 bis 5,55 % HHCI; Gesamtwirkstoffmenge 241,1 Gramm HHCI) wurde nach Übergabe an einen nicht offen ermittelnden Polizeibeamten, der dieses vorgeblich zum Preis von 34.000 € erwerben wollte, sichergestellt (Tat 3).

Der nicht vorbestrafte Angeklagte war bei den Taten 20 Jahre und drei bzw. sieben Monate alt. Er lebte im Haushalt seiner Mutter, besuchte eine Fachoberschule und ging jugendtypischen Freizeitaktivitäten nach.

2. Die Jugendkammer hat unter Hinweis auf den Stand der Persönlichkeitsentwicklung des Angeklagten Jugendstrafrecht zur Anwendung gebracht (§ 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG) und die Verhängung einer Jugendstrafe mit dem Vorliegen schädlicher Neigungen sowie der Schwere der Schuld begründet.

Zur Bemessung der Jugendstrafe hat das Landgericht ausgeführt, es habe vorrangig erzieherische Gesichtspunkte berücksichtigt und die Wirkung der verhängten Jugendstrafe gegen die weitere Entwicklung des Angeklagten abgewogen. Dem äußeren Unrechtsgehalt der Taten komme insofern Bedeutung zu, als aus ihm Schlüsse auf die Persönlichkeit und die Höhe der Schuld möglich seien. Im Folgenden hat es auf die gesetzliche Strafandrohung des Erwachsenenstrafrechts abgestellt und ist dabei jeweils vom Regelstrafrahmen ausgegangen. Im Rahmen der Prüfung eines minder schweren Falles hat es im Hinblick auf Tat 3 unter anderem berücksichtigt, dass es sich bei diesem Tatgeschehen um ein überwachtes Betäubungsmittelgeschäft handelte, das „unter Beteiligung … einer polizeilichen Vertrauensperson“ stattfand.

Aus dem Unrechtsgehalt der Taten und der Persönlichkeit des Angeklagten hat die Jugendkammer auf ein erhebliches Erziehungsdefizit beim Angeklagten geschlossen, aus dem - ebenso wie aus der bereits verfestigten, in Entwicklung und Reife schon stark einem Erwachsenen angenäherten Persönlichkeit des Angeklagten - ein hohes Erziehungsbedürfnis folge. Trotz diverser zu seinen Gunsten zu berücksichtigender Aspekte sei daher eine lange Jugendstrafe erzieherisch notwendig. Unter vorrangiger Berücksichtigung des Erziehungsgedankens als beherrschendem Strafzweck des Jugendstrafrechts sei mit Blick auf das Erfordernis eines gerechten Schuldausgleichs auch in Anbetracht der Folgen einer langjährigen Jugendstrafe für die weitere Entwicklung des Angeklagten - insoweit sei auch zu berücksichtigen, dass der Angeklagte die Haftzeit nutzen könne, um eine berufliche Qualifikation zu erwerben und eine eigenständige, von der Familie gelöstere Lebensplanung in Angriff zu nehmen - die Verhängung einer achtjährigen Jugendstrafe zur erzieherischen Einwirkung „unbedingt erforderlich“.

II.

1. Die Verfahrensrüge hat aus den vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift näher dargelegten Gründen keinen Erfolg.

2. Die Sachrüge führt dagegen in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang zur Aufhebung des angegriffenen Urteils. Sie deckt zwar zum Schuldspruch und hinsichtlich der Verhängung einer Jugendstrafe keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf; die Erwägungen des Landgerichts zur Höhe der verhängten Jugendstrafe halten jedoch revisionsrechtlicher Prüfung nicht stand.

Die Strafzumessung ist allerdings grundsätzlich Sache des Tatgerichts. Es ist seine Aufgabe, die wesentlichen zumessungsrelevanten Umstände auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den es in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnen hat, festzustellen, sie zu bewerten und gegeneinander abzuwägen. Auch bei der Verhängung von Jugendstrafe ist eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle ausgeschlossen (vgl. BGH, Urteil vom 29. August 2018 - 5 StR 214/18 Rn. 7).

Die Strafzumessungserwägungen der Jugendkammer entsprechen aber vorliegend nicht den Anforderungen des § 18 Abs. 2 JGG. Auch bei einer - unter anderem - wegen der Schwere der Schuld verhängten Jugendstrafe ist gemäß § 18 Abs. 2 JGG die Höhe der Strafe so zu bemessen, dass die erforderliche erzieherische Einwirkung möglich ist (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 19. April 2016 - 1 StR 95/16 Rn. 5 mwN). Die in den gesetzlichen Regelungen des allgemeinen Strafrechts zum Ausdruck gelangende Bewertung des Ausmaßes des in einer Straftat hervorgetretenen Unrechts ist zwar auch bei der Bestimmung der Höhe der Jugendstrafe zu berücksichtigen; keinesfalls darf aber die Begründung wesentlich oder gar ausschließlich nach solchen Zumessungserwägungen vorgenommen werden, die auch bei Erwachsenen in Betracht kommen. Die Bemessung der Jugendstrafe erfordert vielmehr von der Jugendkammer, das Gewicht des Tatunrechts gegen die Folgen der Strafe für die weitere Entwicklung des Heranwachsenden abzuwägen (BGH aaO mwN).

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH, Urteil vom 24. April 2019 - 2 StR 377/18 Rn. 20; Beschlüsse vom 16. April 2007 - 5 StR 335/06 Rn. 16; vom 20. März 1996 - 3 StR 10/96 Rn. 3 und vom 27. November 1995 - 1 StR 634/95 Rn. 3; in diese Richtung zudem BGH, Urteil vom 25. März 2014 - 1 StR 630/13 Rn. 31 und Beschluss vom 6. Mai 2013 - 1 StR 178/13 Rn. 9) und allgemeiner Meinung in der Literatur (Eisenberg, JGG, 20. Aufl., § 18 Rn. 9; BeckOK/Brögeler, JGG, 14. Ed., § 18 Rn. 5; Brunner/Dölling, JGG, 13. Aufl., § 18 Rn. 3; jeweils mwN) lässt sich eine länger als fünf Jahre andauernde Jugendstrafe allein erzieherisch in der Regel nicht begründen, weil eine Anstaltserziehung nur für eine Dauer von bis zu fünf Jahren Erfolg verspricht. Die Verhängung einer darüberhinausgehenden Jugendstrafe kann nur unter zusätzlicher Berücksichtigung anderer Strafzwecke - insbesondere des Schuldausgleichs - angezeigt sein.

Mit diesem Umstand hätte sich das Landgericht im Rahmen der Strafzumessung erkennbar auseinandersetzen müssen, was jedoch nicht geschehen ist. Stattdessen insinuiert die Jugendkammer, dass die von ihr angeführten Ziele - Erwerb einer Berufsqualifikation, Entwicklung einer eigenständigen Lebensplanung, moralische Fortentwicklung der Persönlichkeit - nur im Rahmen einer achtjährigen Jugendstrafe erreicht werden könnten, und gewichtet diese positiven Erwartungen erkennbar stärker als die entsozialisierenden Wirkungen eines langjährigen Freiheitsentzuges. Dies steht nicht in Einklang mit der oben genannten Rechtsprechung und lässt zudem jegliche Begründung vermissen, warum die aufgeführten positiven Effekte einer Jugendstrafe vorliegend nur oder erfolgversprechender durch eine Jugendstrafe von mehr als fünf Jahren erzielbar sein sollten.

3. Der Senat hebt das Urteil daher im Ausspruch über die Höhe der Einheitsjugendstrafe auf.

Die zugrundeliegenden Feststellungen sind von dem Rechtsfehler nicht betroffen und können daher bestehen bleiben. Das neue Tatgericht kann ergänzende Feststellungen zu den erzieherischen Aspekten treffen, soweit sie zu den bisherigen nicht in Widerspruch stehen.

4. Entsprechend dem Antrag des Generalbundesanwalts hat der Senat im Hinblick auf das Anfrageverfahren zu § 8 Abs. 3 JGG vom 11. Juli 2019 (1 StR 467/18) von der Einziehung des Wertes von Taterträgen abgesehen (§ 421 Abs. 1 Nr. 3 StPO), um weitere Verzögerungen zu vermeiden.

5. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

Zu Gunsten des Angeklagten ist bei der Strafzumessung auch der Umstand zu berücksichtigen, dass dieser im Rahmen der Tat 3 durch die polizeiliche Vertrauensperson dazu veranlasst wurde, „härtere“ Betäubungsmittel einzuführen und damit Handel zu treiben, als dies bislang der Fall war; die Einwirkung einer polizeilichen Vertrauensperson auf den Täter, die diesen in erhöhte Tatschuld verstrickt, ist bei der Strafzumessung in der Regel zu würdigen - gleichgültig, ob sie sich in rechtsstaatlichem Rahmen gehalten oder ihn überschritten hat (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Januar 1993 - 4 StR 607/92 Rn. 7; vgl. zudem BGH, Urteile vom 4. Juni 1992 - 4 StR 99/92 Rn. 13 und vom 6. März 1992 - 2 StR 559/91 Rn. 13). Die vom Landgericht insofern verwendete Formulierung, dass eine Vertrauensperson an der Tat beteiligt war, lässt besorgen, dass es diesen Umstand nur unzureichend beachtet hat.

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 1177

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2020, 30; StV 2020, 681

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede