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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 608

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 585/18, Beschluss v. 22.01.2019, HRRS 2019 Nr. 608


BGH 1 StR 585/18 - Beschluss vom 22. Januar 2019 (LG Regensburg)

Minderschwerer Fall des Totschlags (Reizung zur Tat ohne eigene Schuld: Herausforderung des Opfers des Täters zu vorangegangen Tun, Verhältnismäßigkeit).

§ 213 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Nicht „ohne eigene Schuld“ im Sinne des § 213 StGB handelt der Täter, der das Opfer zu seinem Verhalten herausfordert. Das ist nicht schon bei jeder Handlung des Täters der Fall, die ursächlich für die ihm zugefügte Misshandlung gewesen ist. Vielmehr muss er dem Opfer genügende Veranlassung gegeben haben; dessen Verhalten muss eine verständliche Reaktion auf vorangegangenes Tun des Täters gewesen sein. Dabei ist die Verständlichkeit auch unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit zu prüfen (vgl. BGH StV 1986, 200).

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Regensburg vom 13. Juli 2018 im Strafausspruch und im Ausspruch über die Dauer des Vorwegvollzugs der Freiheitsstrafe vor der Maßregel aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt unter Bestimmung eines Vorwegvollzugs eines Teils der Freiheitsstrafe vor der Maßregel angeordnet. Die hiergegen gerichtete, auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

I.

1. Nach den Urteilsfeststellungen begab sich der Angeklagte am 31. Dezember 2017 gegen 19.00 Uhr zu einer Silvesterfeier in den Keller einer Pension in W. /I. Dort benahm er sich, unter Alkoholeinfluss stehend, verbal und durch Gesten sexuell ausfällig. So sagte er manchen Frauen, er wolle mit ihnen „ins Bett gehen“, und machte dies durch entsprechende Körperbewegungen deutlich. Gegenüber der Zeugin S. äußerte der Angeklagte, sie habe einen blöden Freund, den er am liebsten umbringen wolle, und er würde es ihr dann „ordentlich besorgen“. Ein anderes Paar belästigte er mit den Worten, wenn nicht der Mann der Frau in den „Mund ficken“ wolle, würde er das tun. Die Aufforderung durch den Zeugen A. U., sich zu beruhigen, ignorierte er. Als der Angeklagte tanzte, packte der Zeuge I. U. ihn von hinten am Hals. A. U. versetzte dem Angeklagten einen Faustschlag auf das linke Auge. Nunmehr schlugen und traten die beiden Brüder U. sowie das spätere Tatopfer A. auf den zu Boden gegangenen Angeklagten ein. Dadurch erlitt der Angeklagte mehrere Einblutungen am Kopf und Oberkörper.

Nachdem die drei Angreifer vom Angeklagten abgelassen hatten, begab dieser sich in sein Zimmer im zweiten Obergeschoss, holte von dort ein Küchenmesser und kam wenige Minuten später gegen 22.00 Uhr in den Flur vor dem Partyraum zurück. Er war wütend, fühlte sich verraten und wegen des „Rauswurfs“ gedemütigt; für die Tritte und Schläge wollte er sich rächen. Auf halber Höhe der Kellertreppe stieß er auf I. U., der ihn aufforderte, das Messer wegzulegen. Als A. zusammen mit seiner schwangeren Lebenspartnerin L. hinzukam, sagte der Angeklagte, er werde der Zeugin nicht wehtun, er habe ein Problem mit den beiden Brüdern und mit ihrem Mann. A. trat in Richtung der rechten Hand des Angeklagten, in der dieser das Messer hielt, traf sie jedoch nicht. Unvermittelt trat der Angeklagte auf A. zu und stach diesem sechsmal u.a. in die linke Achselhöhle, in den Oberbauch und in die rechte Brustkorbseite, wobei er den Herzbeutel traf und die Aorta durchtrennte. Dadurch verstarb A. .

2. In der Strafzumessung hat das Landgericht einen minder schweren Fall des Totschlags nach § 213 Alternative 1 StGB mit der Begründung abgelehnt, der Angeklagte habe durch seine „Ausfälligkeiten“ die Misshandlungen herausgefordert; auch wenn die Schläge und Tritte nicht erforderlich gewesen seien, um das Fehlverhalten des Angeklagten zu unterbinden, seien diese Körperverletzungen in der Gesamtschau mit den „nicht besonders schwerwiegenden“ Verletzungsfolgen „nicht als derart außerhalb jedes vernünftigen Verhältnisses“ zur Provokation durch den Angeklagten zu werten, dass sie „als nicht mehr verständliche Reaktionen anzusehen wären“. Wegen mehrerer allgemeiner Strafmilderungsgründe wie insbesondere des Geständnisses, der alkoholbedingten Enthemmung und der vorangegangenen Körperverletzung hat das Landgericht dem Angeklagten eine Strafrahmenverschiebung nach einem sonstigen minder schweren Fall (§ 213 Alternative 2 StGB) gewährt.

II.

Diese Strafzumessungserwägungen halten der Nachprüfung nicht stand.

1. Die Annahme, der Angeklagte habe sich nicht „ohne eigene Schuld“ zum Zorn reizen und hierdurch zum Totschlag hinreißen lassen, sodass § 213 Alternative 1 StGB nicht anwendbar sei, begegnet durchgreifenden Bedenken.

a) Nicht „ohne eigene Schuld“ handelt der Täter, der das Opfer zu seinem Verhalten herausfordert. Das ist nicht schon bei jeder Handlung des Täters der Fall, die ursächlich für die ihm zugefügte Misshandlung gewesen ist. Vielmehr muss er dem Opfer genügende Veranlassung gegeben haben; dessen Verhalten muss eine verständliche Reaktion auf vorangegangenes Tun des Täters gewesen sein. Dabei ist die Verständlichkeit auch unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit zu prüfen (BGH, Beschlüsse vom 19. Dezember 2018 - 3 StR 391/18, juris Rn. 7; vom 9. August 1988 - 4 StR 221/88, BGHR StGB § 213 Alternative 1 Verschulden 1; vom 2. Oktober 1985 - 3 StR 376/85, StV 1986, 200; vom 26. April 1985 - 2 StR 181/85, StV 1985, 367 und vom 22. Juli 1981 - 3 StR 254/81, juris Rn. 4).

b) Die Schläge und Tritte waren nicht verhältnismäßig. Denn sie waren, wie das Landgericht nicht verkannt hat, nicht erforderlich, um den Angeklagten von weiteren Belästigungen abzuhalten. Ein milderer Eingriff wäre es gewesen, wenn die Brüder U. und A. den Angeklagten - gegebenenfalls unter Zerren und Schieben - aus dem Keller gedrängt hätten. Das Einschlagen und Treten auf den am Boden liegenden Angeklagten hatte nichts mehr mit Unterbinden weiterer Ausfälligkeiten zu tun, sondern stellt sich selbst als Rache für die vorangegangene „sexuelle Anmache“ dar. Diese nicht mehr verständlichen Misshandlungen sind gar als gefährliche Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB) zu werten. Die drei Angreifer waren nicht aus Nothilfe nach § 32 StGB gerechtfertigt; denn der Angeklagte beleidigte zum Zeitpunkt des Zupackens von hinten nicht mehr.

2. Der zeitliche Abstand von wenigen Minuten unterbricht, wie auch das Landgericht zutreffend angenommen hat, den motivationspsychologischen Zusammenhang zwischen der Provokation durch die Tritte und Schläge auf der einen und den Messerstichen auf der anderen Seite nicht (vgl. BGH, Beschluss vom 19. September 2017 - 1 StR 436/17, NStZ-RR 2018, 20, 21 mwN). Neben dem Beweggrund der Rache hatte nach den Urteilsfeststellungen der fortwirkende Zorn in der Form von Wut und Kränkung bestimmenden Einfluss auf die Tatbegehung (vgl. BGH, Beschluss vom 22. April 2004 - 4 StR 48/04, NStZ 2004, 500 f.).

3. Die Tritte und Schläge sind von ausreichendem Gewicht, um sie als ausreichend schwere Tatprovokation zu werten. Sie griffen nicht nur unerheblich in die körperliche Unversehrtheit des Angeklagten ein (§ 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB; BGH, Urteil vom 26. Februar 2015 - 1 StR 574/14, NStZ 2015, 582 f. mwN).

4. Der Senat kann nicht ausschließen, dass der Strafausspruch auf dem Rechtsfehler beruht. Denn hätte das Landgericht einen minder schweren Fall nach § 213 Alternative 1 StGB zugrunde gelegt, hätte es die allgemeinen Strafmilderungsgründe nicht zur Annahme des unbenannten vertypten Milderungsgrundes nach § 213 Alternative 2 StGB heranziehen müssen; sie hätten bei der Strafzumessung im engeren Sinne zugunsten des Angeklagten erstmals und damit mit größerem Gewicht berücksichtigt werden können. Der Strafausspruch unterliegt deshalb der Aufhebung. Die Feststellungen können bei diesem Subsumtionsfehler aufrechterhalten bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Neue Feststellungen sind möglich, sofern sie den bisherigen nicht widersprechen.

5. Die Aufhebung des Strafausspruchs zieht die Aufhebung der Bestimmung der Dauer des Vorwegvollzugs nach sich (§ 67 Abs. 2 Satz 2, 3 StGB).

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 608

Externe Fundstellen: NStZ 2019, 471; StV 2020, 120

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede