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HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 1048

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 321/18, Beschluss v. 18.07.2018, HRRS 2018 Nr. 1048


BGH 1 StR 321/18 - Beschluss vom 18. Juli 2018 (LG Landshut)

Erheblich verminderte Schuldfähigkeit; Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsklinik (Darstellung im Urteil).

§ 21 StGB; § 64 StGB; § 267 Abs. 6 StPO

Entscheidungstenor

1. Dem Angeklagten wird auf seinen Antrag gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des Landgerichts Landshut vom 16. März 2018 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt. Die Kosten der Wiedereinsetzung trägt der Angeklagte.

Damit ist der Beschluss des Landgerichts Landshut vom 15. Mai 2018, mit dem die Revision des Angeklagten als unzulässig verworfen worden ist, gegenstandslos.

2. Auf die Revision des Angeklagten wird das vorbezeichnete Urteil im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.

4. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten erzielt mit der allgemeinen Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

1. Die Überprüfung des Urteils hat zum Schuldspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

2. Der Strafausspruch hält hingegen rechtlicher Nachprüfung nicht stand, weil die Schwurgerichtskammer eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten nicht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen hat.

a) Nach den Urteilsfeststellungen trank der Angeklagte in seiner Wohnung zusammen mit einer Bekannten, dem späteren Tatopfer, seit dem Vormittag des 23. Mai 2017 erhebliche Mengen Alkohol. Nachdem die Geschädigte den Angeklagten vor dessen Mitbewohner bloßgestellt hatte, indem sie ihn des Diebstahls einer geringen Menge Marihuanas bezichtigte und ihn veranlasste, dies einzuräumen, kam es zwischen 15.00 Uhr und 16.00 Uhr zwischen dem Angeklagten und der Geschädigten im Wohnzimmer zu einer kurzen verbalen Auseinandersetzung. Der Angeklagte saß anschließend mehrere Minuten ruhig auf der Couch. Als die Geschädigte ihn fragte, ob alles in Ordnung sei, bejahte er dies und stand auf. Er begab sich zur angrenzenden Küchenzeile, entnahm aus einer Schublade ein Fleischermesser mit 15 cm Klingenlänge und fügte seiner Bekannten unvermittelt eine fünf Zentimeter lange und eineinhalb Zentimeter tiefe Schnittverletzung an der rechten seitlichen Halspartie zu. Als die Geschädigte zu schreien begann, versuchte der Angeklagte diese mit einer Hand an ihren Haaren zu fixieren. Bevor er weitere Verletzungshandlungen vornehmen konnte, eilte sein Mitbewohner, der vor dem Streit in sein Zimmer gegangen war, hinzu und stieß den Angeklagten weg. Anschließend brachte der Mitbewohner sich und die Geschädigte in Sicherheit.

b) Das sachverständig beratene Landgericht hat die Blutalkoholkonzentration des Angeklagten zur Tatzeit aufgrund einer ihm um 19.40 Uhr entnommenen Blutprobe (1,31 Promille) zutreffend mit maximal 2,4 Promille berechnet und angenommen, dass er „durchaus erheblich alkoholisiert“ gewesen sei. Bei der Beurteilung der Frage, ob die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten erheblich eingeschränkt gewesen sei, hat es maßgeblich auf die konkrete Vorgehensweise des Angeklagten abgestellt und eine verminderte Schuldfähigkeit verneint. Hierbei hat die Strafkammer berücksichtigt, dass er die Geschädigte nicht im unmittelbaren Anschluss an seine durch sie erfolgte Bloßstellung angegriffen habe, sondern es zunächst nur zu einem verbalen Streit gekommen sei, ohne dass er Angriffshandlungen vorgenommen habe. Als er „mehrere Minuten ganz ruhig auf der Couch“ gesessen habe, sei er sodann aufgestanden, habe sich „zielgerichtet zu der Küchenzeile“ begeben und habe mit der Tatwaffe die Geschädigte angegriffen. Dieses Vorgehen stelle sich „als durchaus planvoll bzw. durchdacht dar“ und spreche dafür, dass die Hemmungsfähigkeit allenfalls leicht vermindert gewesen sei. Darüber hinaus habe keiner der Zeugen, insbesondere die den Angeklagten festnehmenden Polizeibeamten „auch nur die geringsten alkohol- und/oder drogenbedingten Ausfallerscheinungen“ geschildert. Solche ergäben sich auch nicht aufgrund des ärztlichen Untersuchungsberichts anlässlich der Blutentnahme.

c) Diese Begründung hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand. Das Landgericht konnte zu den Alkoholkonsumgewohnheiten des Angeklagten von diesem selbst keine „konkreten belastbaren Hinweise“ bekommen, da der Angeklagte sich teilweise mehrfach widersprochen hat (UA 34). Es hat daher zu Recht auf die errechnete maximale Blutalkoholkonzentration und auf eine Würdigung psychodiagnostischer Beweisanzeichen abgestellt (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Mai 2012 - 1 StR 59/12, BGHSt 57, 247, 252 Rn. 22 f. mwN), die grundsätzlich einen Rückschluss auf das Vorliegen einer alkoholbedingten Einschränkung der Steuerungsfähigkeit ermöglichen. Die vom Landgericht vorgenommene Wertung erweist sich aber als nicht tragfähig.

aa) Das vom Angeklagten vor und bei der Tatbegehung gezeigte Leistungsverhalten eröffnet angesichts des einfach gelagerten Geschehens kaum eine Beurteilungsmöglichkeit, dass ausreichend aussagekräftige psychodiagnostische Beweisanzeichen vorliegen, die für eine voll erhaltene Steuerungsfähigkeit sprechen. Allein aus dem Umstand, dass der Angeklagte nach dem verbalen Streit mit der Geschädigten mehrere Minuten auf der Couch saß, bevor er zur Küchenzeile ging, das Messer aus einer Schublade ergriff und die Geschädigte damit unvermittelt angriff und verletzte, lässt auf ein zielgerichtetes und planvoll durchdachtes Handeln, bei der sich die Alkoholisierung des Angeklagten nicht auf die Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat, keine Rückschlüsse zu. Hierbei hat das Landgericht zudem nicht erörtert, inwieweit die kurz zuvor erfolgte Interaktion zwischen ihm und der Geschädigten für das Handeln des Angeklagten von Bedeutung war.

bb) Soweit das Landgericht bei der Würdigung psychodiagnostischer Kriterien auf das Fehlen von Ausfallerscheinungen abstellt, hat es verkannt, dass dieser Umstand nicht unbedingt einer Verminderung der Steuerungsfähigkeit entgegensteht. Gerade bei alkoholgewöhnten Tätern - wofür beim Angeklagten angesichts seiner Vorstrafen vieles spricht - können äußeres Leistungsverhalten und innere Steuerungsfähigkeit weit auseinander fallen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Juni 2007 - 4 StR 187/07, NStZ 2007, 696 mwN). Zudem ist das von der Strafkammer bewertete Ergebnis des ärztlichen Untersuchungsberichts anlässlich der Blutentnahme vorliegend für die Beurteilung des Leistungsverhaltens des Angeklagten zur Tatzeit allenfalls von geringer Bedeutung, weil die Blutentnahme erst viereinhalb Stunden nach Tatbegehung erfolgte. Unklar ist auch, zu welchem Zeitpunkt die vom Krankenhaus verständigten Polizeibeamten den Angeklagten festgenommen haben, um beurteilen zu können, ob ihre Wahrnehmungen zu dessen Leistungsverhalten eine hinreichende Grundlage für die Schuldfähigkeitsprüfung bieten.

3. Die Nichtanordnung der Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) hat ebenfalls keinen Bestand.

a) Nach den Urteilsfeststellungen konsumierte der Angeklagte zur Tatzeit an zwei bis drei Tagen in der Woche vier bis fünf Bier „über den ganzen Tag verteilt“. Seinen eigenen Angaben zufolge bestanden bei ihm weder ein Alkohol- noch ein Drogenproblem. Das Bundeszentralregister weist seit 1986 drei Verkehrsstraftaten und eine Beziehungstat unter Alkoholeinfluss (1,70 bis 2,26 Promille) aus. Seit 2005 geht der Angeklagte bis auf einen kurzen Zeitraum im Jahr 2016 keiner Arbeit mehr nach.

b) Nach den Wertungen des Landgerichts, das den Ausführungen des Sachverständigen folgt, sei das Vorliegen eines Hangs bei dem Angeklagten nur „äußerst schwierig“ festzustellen. In der Untersuchungshaft seien keine körperlichen Probleme oder Entzugserscheinungen festgestellt worden. Einen Suchtdruck und einen Kontrollverlust bei dem Konsum alkoholischer Getränke habe der Angeklagte verneint. Laborbefunde wiesen aus, dass die Leberwerte des Angeklagten zwei Monate vor der Tat völlig unauffällig gewesen seien. Auch sonst würden sich keine Hinweise für einen chronifizierten und gesundheitsschädlichen Alkoholkonsum feststellen lassen. Im Ergebnis konsumiere der Angeklagte „zwar durchaus regelmäßig“ Alkohol - auch schon seit vielen Jahren - und sei somit alkoholgewöhnt. Dieser Umstand reiche jedoch nicht aus, um einen Hang im Sinne des § 64 StGB sicher festzustellen. Weder könne eine physische Abhängigkeit beim Angeklagten festgestellt werden, noch bestehe bei ihm eine psychische Abhängigkeit aufgrund derer der Angeklagte sozial gefährdet oder gefährlich erscheine. Des Weiteren gebe es keine Aussichten auf einen Erfolg einer etwaigen Therapie, weil beim Angeklagten keinerlei Krankheitsgefühl oder Krankheitseinsicht vorliege.

c) Die Erwägungen des Landgerichts, mit denen es das Vorliegen der Voraussetzungen eines Hangs verneint, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich nehmen, sind nicht hinreichend beweiswürdigend unterlegt bzw. ausreichend erörtert.

aa) Schon das festgestellte allgemeine Alkoholkonsumverhalten des Angeklagten ist nicht belegt. Nach den Ausführungen des Sachverständigen hat sich der Angeklagte hinsichtlich seines allgemeinen Konsums teilweise mehrfach widersprochen, so dass es insoweit „keine belastbaren Hinweise“ gibt. Es bleibt unklar, wie das Landgericht die Feststellungen zu den aktuellen Trinkgewohnheiten des Angeklagten getroffen hat. Die zum Tatzeitpunkt festgestellte maximale Blutalkoholkonzentration spricht eher für eine wesentlich höhere Alkoholaufnahme.

bb) Auch der Umstand, dass der Angeklagte seit 2005 - bis auf einen kurzen Zeitraum im Jahr 2016 - keiner Arbeit mehr nachgegangen ist und dies nach seinen Angaben und der Ansicht des Sachverständigen „keinesfalls auf seinen Alkoholkonsum zurückzuführen“ sei, wird von der Strafkammer mit Blick auf eine mögliche soziale Gefährdung des Angeklagten nicht hinterfragt und auch nicht näher erörtert.

cc) Ferner berücksichtigt das Landgericht die Aussage der Geschädigten, dass der Angeklagte teilweise aggressiv werden könne und zwar unabhängig davon, ob er zuvor Alkohol getrunken habe oder nicht (UA S. 13), nicht bei der Bewertung, ob der Angeklagte sozial gefährdet erscheint oder gefährlich ist.

dd) Soweit das Landgericht ergänzend darauf hinweist, dass beim Angeklagten keine Therapiebereitschaft bestehe und diese fehlende Motivation nicht korrigierbar sei, so führt dieser Umstand allein nicht dazu, dass eine hinreichend konkrete Aussicht im Sinne des § 64 Satz 2 StGB nicht besteht. Das Landgericht hat insoweit nicht geprüft und erörtert, ob gegebenenfalls eine Therapiebereitschaft für eine erfolgversprechende Behandlung geweckt werden könne (vgl. Fischer, StGB, 65. Aufl., § 64 Rn. 20).

4. Die aufgezeigten Rechtsfehler führen zur Aufhebung des Rechtsfolgenausspruchs mit den getroffenen Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO). Dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, hindert eine Unterbringungsanordnung nicht (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO). Er hat die Nichtanwendung des § 64 StGB durch das Tatgericht auch nicht vom Rechtsmittelangriff ausgenommen (vgl. BGH, Urteil vom 7. Oktober 1992 - 2 StR 374/92, BGHSt 38, 362 ff.).

HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 1048

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2018, 367; StV 2019, 244

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede