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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 944

Bearbeiter: Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 290/18, Beschluss v. 21.11.2018, HRRS 2019 Nr. 944


BGH 1 StR 290/18 - Beschluss vom 21. November 2018 (LG Bamberg)

Sexueller Übergriff (erforderliche erschöpfende Beweiswürdigung).

§ 177 Abs. 1 StGB; § 261 StPO; § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bamberg vom 7. Dezember 2017 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Übergriffs zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 120 Euro verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung von Verfahrensrecht beanstandet und die näher ausgeführte Sachrüge erhebt. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

Der Angeklagte war Chefarzt einer klinischen Palliativabteilung. Dort war auch die Nebenklägerin als medizinische Fachangestellte beschäftigt. Zwar war sie dem Pflegedienstleiter und nicht dem Angeklagten unterstellt, gleichwohl kam sie seinen Anweisungen nach; ihm war es möglich, über die Pflegedienstleitung Einfluss auf ihre Tätigkeit, aber auch etwaige arbeitsrechtliche Maßnahmen wie z.B. eine Versetzung, zu nehmen.

Von 2015 bis Mitte Juli 2016 kam es zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin zu einvernehmlichen sexuellen Kontakten. Diese fanden jeweils am Arbeitsplatz statt. Dabei übte die Nebenklägerin auf sein Verlangen bei dem Angeklagten den Oralverkehr aus. Er trug dafür Sorge, nicht von Dritten überrascht zu werden, etwa indem er sich während des Oralverkehrs mit dem Rücken gegen die Zimmertür lehnte, um das Eintreten anderer zu verhindern. Innerlich lehnte die Nebenklägerin die sexuellen Kontakte ab, gab dies aber dem Angeklagten gegenüber nicht zu erkennen.

Am 20. Dezember 2016 befand sich die Nebenklägerin allein in ihrem Büro in einer Außenstelle, als der Angeklagte hinzukam. Während sie telefonierte, streichelte er sie im Nackenbereich und griff ihr unter das Oberteil. Als eine Kollegin der Nebenklägerin eintraf und im Büro telefonierte, veranlasste der Angeklagte die Nebenklägerin unter dem Vorwand, er wolle mit ihr wegen einer Abrechnungsfrage unter vier Augen sprechen, mit in die Küche zu gehen. Die Nebenklägerin folgte ihm, ging dabei aber davon aus, dass er erneut Oralverkehr von ihr wünschen würde. Der Angeklagte war sich bewusst, dass die Nebenklägerin wegen des vorgebrachten dienstlichen Grundes seinem Verlangen, mit ihm zu kommen, „kaum“ widersprechen konnte.

In der Küche stellte sich der Angeklagte mit dem Rücken zur Tür, so dass die Nebenklägerin an ihm hätte vorbeigehen müssen, um die Küche verlassen zu können. Sie stand schräg vor ihm und hielt demonstrativ ihre beiden Hände hinter dem Rücken verschränkt. Die Aufforderung des Angeklagten, „ihm einen zu blasen“, lehnte die Nebenklägerin mit der Begründung ab, sie habe einen Freund. Gleichwohl nahm der Angeklagte mit seiner Hand einen ihrer hinter dem Rücken verschränkten Arme und versuchte ihn nach vorne in Richtung seines Gliedes zu führen. Da er dabei nur wenig Kraft aufwendete, gelang ihm dies nicht, so dass die Nebenklägerin weiterhin ihre Arme hinter ihrem Rücken verschränkt hielt.

Nachdem der Angeklagte sein nicht erigiertes Glied aus seiner Hose geholt hatte, „verlangte“ er von ihr mehrfach, sein Glied noch einmal zu küssen und in den Mund zu nehmen. Die Nebenklägerin erklärte, das nicht zu wollen, da sie einen Freund habe, was der Angeklagte zwar wahrnahm, aber auf sein Ansinnen dennoch „weiter verbal … drängte“. Er versicherte, dies sei das letzte Mal und danach werde er aufhören. Während dessen hielt er sein nicht erigiertes Glied in der Hand. Trotz ihres weiterhin entgegenstehenden Willens gab die Nebenklägerin seinem Glied einen Kuss und nahm es für ein bis zwei Sekunden in den Mund, wobei der Angeklagte „ihren entgegenstehenden Willen zumindest für möglich hielt und billigend in Kauf nahm“. Die Nebenklägerin beendete die von ihr ausgehende sexuelle Handlung und teilte dem Angeklagten mit, dass dies jetzt reiche. Er forderte von ihr ein Weitermachen, da er „jetzt aber müsse“, worauf die Nebenklägerin ihm entgegenhielt, dass er sich dann „einen runterholen“ müsse.

Schließlich zog sich der Angeklagte seine Hose wieder hoch, legte beide Hände auf die Schultern der Nebenklägerin und gab ihr zum Abschied einen Kuss auf den Mund, wobei er für kurze Zeit mit der Zunge in ihren Mund eindrang und „ihren entgegenstehenden Willen zumindest für möglich hielt und billigend in Kauf nahm“.

2. a) Die Strafkammer hat den Angeklagten danach für überführt angesehen, die Nebenklägerin gegen ihren erkennbaren Willen veranlasst zu haben, sein Glied in den Mund zu nehmen und dies als sexuellen Übergriff gemäß § 177 Abs. 1 StGB gewertet.

b) Die vorgelagerten Berührungen der Nebenklägerin während ihres Telefonats hat es als nicht strafbar angesehen. Es liege angesichts der fehlenden Konkretisierbarkeit der Berührungen schon keine sexualbezogene Handlung von einiger Erheblichkeit im Sinne des § 184h Nr. 1 StGB vor. Zudem könne der nach § 184i Abs. 1 StGB erforderliche Belästigungsvorsatz nicht festgestellt werden.

c) Der Kuss sei im Hinblick auf die nur kurze Dauer und geringe Intensität zwar ebenfalls nicht als sexualbezogene Handlung von einiger Erheblichkeit zu werten, stelle aber eine sexuelle Belästigung nach § 184i Abs. 1 StGB dar. Diese trete hinter dem sexuellen Übergriff, mit der sie eine „prozessuale Tat“ bilde, zurück.

II.

Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg, so dass es eines Eingehens auf die Verfahrensrügen nicht mehr bedarf.

1. Die Verurteilung wegen sexuellem Übergriff hat keinen Bestand.

Zwar hat die Strafkammer festgestellt, dass der Angeklagte bei dem kurzzeitigen Oralverkehr den entgegenstehenden Willen der Nebenklägerin zumindest für möglich hielt und billigend in Kauf nahm, sich aber zur Durchsetzung seiner Interessen darüber hinwegsetzte. Jedenfalls die dieser Feststellung zugrundeliegende Beweiswürdigung zur inneren Tatseite ist aber nicht in rechtlich tragfähiger Weise begründet.

a) Die zur richterlichen Überzeugung erforderliche persönliche Gewissheit des Richters setzt objektive Grundlagen voraus (vgl. BGH, Beschluss vom 8. November 1996 - 2 StR 534/96, BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 26). Die Beweiswürdigung muss deshalb auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsehbaren Tatsachengrundlage unter vollständiger Ausschöpfung des verfügbaren Beweismaterials beruhen. Dies ist in den Urteilsgründen in einer dem Erfordernis der rationalen Nachvollziehbarkeit der Beweiswürdigung entsprechenden Weise darzulegen (vgl. BGH, Urteile vom 10. Oktober 2013 - 4 StR 135/13, NStZ-RR 2014, 15 und vom 17. Juli 2007 - 5 StR 186/07, NStZ-RR 2008, 148, 149 f.). Aus den Urteilsgründen muss sich ergeben, dass alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, in die Beweiswürdigung einbezogen worden sind (vgl. BGH, Urteil vom 29. Juli 1998 - 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153, 159; Miebach in MüKo-StPO, § 261 Rn. 108 mwN) und gezogene Schlussfolgerungen nicht lediglich Vermutungen sind, für die es weder eine belastbare Tatsachengrundlage noch einen gesicherten Erfahrungssatz gibt (vgl. BGH, Beschluss vom 8. November 1996 - 2 StR 534/96, BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 26 und Urteil vom 27. April 2017 - 4 StR 434/16 Rn. 8).

b) Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht. Die mitgeteilte Beweiswürdigung ist nicht erschöpfend.

Das Landgericht hat angenommen, dass durch die ablehnende Stellungnahme der Nebenklägerin zu dem angesonnenen Oralverkehr ihr entgegenstehender Wille offenbar geworden sei. Diese „dezidiert und nachhaltig geäußerte ablehnende Haltung“ der Nebenklägerin sei dem Angeklagten nicht verborgen geblieben. Nach den Gesamtumständen des Geschehens, wozu auch gehöre, dass er sie zuvor im Büro berührt habe, ohne dass sie auf seine Berührungen eingegangen sei, und dass sie durch „Kraftanwendung“ den Versuch des Angeklagten, ihre Hand an sein Glied zu ziehen, abgewehrt habe, ergebe sich, dass es der Angeklagte während der Berührung seines Gliedes durch die Nebenklägerin für möglich gehalten habe, dass sie ihr „Nachgeben“ als einen „Ausweg aus der sie bedrückenden Lage zur Beendigung seines sexuellen Bedrängens“ empfunden habe. Dem stünden auch die früheren einvernehmlichen Oralverkehre und der Umstand, dass sie ihm freiwillig in die Küche gefolgt sei, nicht entgegen.

Diese Erwägungen genügen angesichts des ambivalenten Verhaltens der Nebenklägerin nicht. Denn zwar hat sie objektiv wahrnehmbar zunächst ihre Ablehnung zum vorgeschlagenen Oralverkehr zum Ausdruck gebracht, aber sodann ohne Einwirkung von Zwang mit der Ausübung desselben begonnen. Für einen objektiven Dritten stellt sich dieses Verhalten bei losgelöster Betrachtung im eigentlichen Tatzeitpunkt nicht als ein Handeln gegen ihren Willen dar. Voraussetzung für die Erfüllung des Tatbestandes ist aber, dass das Opfer den entgegenstehenden Willen zum Tatzeitpunkt entweder ausdrücklich erklärt oder konkludent, wie z.B. durch Weinen oder Abwehren der sexuellen Handlung, zum Ausdruck bringt (vgl. hierzu BT-Drucks. 18/9097 S. 23; Fischer, StGB, 66. Aufl., § 177 Rn. 12, 15). Dies ist auch deswegen erforderlich, da der Täter in Bezug auf den entgegenstehenden Willen mit zumindest bedingtem Vorsatz handeln muss. Deswegen bedarf es in den Fällen, in denen die Handlung von dem Opfer des sexuellen Übergriffs ausgeht, jedenfalls einer besonders eingehenden Würdigung von aussagekräftigen Umständen, aus denen der Täter darauf schließen kann, dass die Handlung gegen den Willen des Opfers erfolgt (kritisch Fischer aaO Rn. 15; Hoven/Weigend, JZ 2017, 182, 186).

Da die zuvor erklärte ausdrückliche Ablehnung durch die entgegenstehende Handlung der Nebenklägerin entkräftet worden ist, kommt es darauf an, ob sich der entgegenstehende Wille in konkludenter Weise hinreichend deutlich aus den Gesamtumständen ergab und dadurch vom Angeklagten erkannt werden konnte. Zwar hat das Landgericht im Ergebnis zutreffend diesen Maßstab zugrunde gelegt, die Gesamtumstände aber nicht erschöpfend erfasst, insbesondere mögliche entlastende Aspekte nicht in den Blick genommen. Zudem lassen die getroffenen Wertungen teilweise eine diese unterlegende Tatsachengrundlage vermissen.

Vor allem fehlt schon die Berücksichtigung des gewichtigen Umstands, dass die Nebenklägerin selbst die sexuelle Handlung ausführte, mithin nach außen erkennbar eine Abkehr von ihrer früheren Haltung vollzogen hat. Dies ist aber von besonderer Wichtigkeit für das Vorstellungsbild des Angeklagten, der angesichts dessen auch davon ausgegangen sein könnte, die Nebenklägerin letztlich doch für die Sache gewonnen zu haben. Eine solche Möglichkeit („Aufgabe des entgegenstehenden Willens“) verwirft das Landgericht ohne weitere auf das Vorstellungsbild des Angeklagten bezogene Begründung oder diesen Schluss tragende objektive Grundlagen.

Dass die Ablehnung der Nebenklägerin „nachhaltig“, also sich auf längere Zeit stark auswirkend (vgl. Duden) zum Ausdruck gebracht worden sei, wäre zwar grundsätzlich geeignet, indiziell auf die Beibehaltung ihres Willens zu schließen. Jedoch wird diese Nachhaltigkeit nicht mit Tatsachen fundiert und entsprechend auch nicht von den Feststellungen getragen. Dem Hinweis, wegen des Freundes keinen Oralverkehr zu wünschen, kann eine solche indizielle Aussagekraft für die fehlende Ansprechbarkeit auf Umstimmungsversuche nicht entnommen werden.

Die zeitlich vorgelagerte Berührung im Büro lässt ohne Weiteres keinen Schluss auf die Wahrnehmbarkeit des entgegenstehenden Willens zu. Hierbei bleibt schon unerörtert, dass das Landgericht selbst davon ausgeht, dem Angeklagten fehle für diese Handlung der Belästigungsvorsatz. Soweit das Landgericht daran anknüpft, dass die Nebenklägerin auf seine Berührungen nicht eingegangen sei, lässt dies unbeachtet, dass auch bei den früheren Sexualkontakten die Berührungen vom Angeklagten ausgingen, weitergehende Reaktionen ihrerseits nicht geschildert werden. Inwieweit der Angeklagte deswegen aus ihrem Verhalten dieses Mal - anders als bei den früheren einvernehmlichen Sexualkontakten - Hinweise für eine nachhaltige Ablehnung entnehmen können sollte, bleibt danach offen.

Soweit das Landgericht auf die Kraftentfaltung der Nebenklägerin zur Abwehr seines Versuchs, ihren Arm zu fassen, abstellt, kann dem schon deswegen kein aussagekräftiger indizieller Hinweis auf das Erkennen ihrer unumkehrbaren ablehnenden Haltung entnommen werden, da sich diese Kraftentfaltung nicht gewichten lässt. Mitgeteilt wird hierzu nur, dass sein Versuch, ihren Arm zu fassen, mit wenig Kraft verbunden war, weswegen sie durchgehend ihre Arme hinter dem Rücken verschränkt hielt. Welche Art von Kraft sie hierzu aufwenden musste, ob es sich etwa nur um eine Berührung handelte, kann dem nicht entnommen werden. Diese Haltung kann zwar eine aktuell ablehnende Haltung dokumentieren, ist aber angesichts des kurz darauf nach außen ersichtlichen Umschwungs nicht geeignet, auf eine überdauernde Ablehnung unter allen Umständen schließen zu lassen.

Inwieweit sich dem Angeklagten erschließen musste, dass die Situation für die Nebenklägerin ausweglos bedrückend erschienen war, ergibt sich nicht. So hätte sie an ihm vorbeigehen können, um aus dem Zimmer zu gelangen, zudem entsprach der Standort des Angeklagten dem Vorgehen bei früheren einvernehmlichen Sexualkontakten. Auch die Art und Weise der in der Tatsituation zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin geführten Konversation lässt nicht ohne Weiteres erkennen, dass sich die Nebenklägerin besonders eingeschüchtert fühlte.

2. Der Senat hebt die Feststellungen insgesamt auf, um dem neu zuständigen Tatgericht eine umfassende und in sich stimmige Neubewertung - auch zur Erkennbarkeit des entgegenstehenden Willens bei dem abschließenden Zungenkuss - zu ermöglichen.

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 944

Externe Fundstellen: NStZ 2019, 717

Bearbeiter: Christoph Henckel